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Der Heroin-Highway Zentralasiens

Die ausbleibende Zusammenarbeit zwischen den USA und Russland in Zentralasien spornt den Drogenhandel an: Die Gegend ist eine Grauzone mit schwachen Grenzkontrollen und korrupten Regierungen.

2011 wurden vier kirgisische Sicherheitsbeauftragte verhaftet und wegen Heroinbesitzes verurteilt. Laut einem interministeriellen Bericht wurde bei den vier Beamten mehr Heroins beschlagnahmt als im gesamten Jahr in ganz Kirgisistan. Den Verdacht, dass die kirgisische Polizei und die Regierung in den Drogenhandel verwickelt seien, hatte man schon länger. Mit einem solchen Ausmaß hatte allerdings niemand gerechnet.

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Dadurch, dass das Land zwischen Afghanistan und Russland mitten auf einer der wichtigsten Handelswege für Heroin liegt, wurde Kirgisistan rasch zu einer Art Mikrokosmos, in dem sich die Auswirkungen des globalen Heroinhandels abzeichnen. Diese Lage ist umso besorgniserregender, als dass 2014 der Abzug der Nato-Truppen aus Afghanistan ansteht.

Gemäß dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) ist Russland der größte Binnenmarkt für afghanisches Heroin. Das UNODC schätzt, dass in Russland etwa 1,7 Millionen Menschen Opiate konsumieren. Aufgrund des wachsenden Marktes haben sich die Drogenhandelswege angepasst und verdichtet, um die Nachfrage zu befriedigen. Mittlerweile werden etwa 25 Prozent des afghanischen Opiums und Heroins durch Zentralasien nach Russland transportiert. Angesichts der Tatsache, dass 90 Prozent des globalen Angebots in Afghanistan produziert werden, ist das eine ziemlich große Menge Drogen.

Weil Opium und Heroin aus Afghanistan durch das benachbarte Tadschikistan gen Norden transportiert werden, laufen die Lieferungen oft in Osch zusammen—der zweitgrößten Stadt Kirgisistans und regionalen Hauptstadt des Südens. Hier wird die Ware umgepackt und weiter nach Russland geschickt. Tadschikistan ist der größte Exportpartner Afghanistans in Zentralasien. Daraus ergeben sich viele Möglichkeiten, Drogen über die Grenze zu schmuggeln.

Die Grenze zwischen Kirgisistan und Kasachstan

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Eine der beliebtesten Methoden ist es, Lieferungen in Obst-, Gemüse- oder Zementtransportern zu verstecken. Diese Waren helfen dabei, die Wachhunde an der Grenze über den Opiumgeruch hinwegzutäuschen.

Wer sich eine etwas ausgeklügeltere Schmuggelweise leisten kann, besticht die Grenzbeamten, damit sie die Waren durchlassen. In einigen Fällen nehmen die Beamten den Schmuggel auch selbst in die Hand.

Alle, die nicht genügend Geld haben, um die nötigen Stellen an den Grenzkontrollen zu schmieren, müssen kreativer sein. Eine beliebte Strategie ist es, mit behelfsmäßigen Schlauchbooten den Pjandsch nach Tadschikistan zu überqueren. Diese Boote werden meist aus allen möglichen Materialien hergestellt, die gerade zur Hand sind: aus leeren Gaskanistern, Baumstämmen sowie alten Klamotten und Seilen, mit denen das Ganze zusammengeschnürt wird.

Der Heroinhandel wurde durch Krieg und politische Ereignisse angetrieben. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 war Moskau von der Bildfläche verschwunden. Die fortan unabhängigen Länder Zentralasiens hatten neue Grenzen und waren schlecht bewacht—Opium war billig und die Leute waren arm. Die perfekten Voraussetzungen für eine Expansion des Drogenhandels.

Kirgisistans Übergang zur Unabhängigkeit verlief nicht reibungslos. Vor dem Hintergrund der grassierenden Armut und der Korruption gewann das organisierte Verbrechen eine sichere Stellung im Land.

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Eine namhafte Figur war der Gangsterboss Aziz Batukaev. Der Tschetschene galt in den frühen 1990er-Jahren als Nummer 1 des Heroinhandels. Nachdem er jahrelang ungestraft blieb, wurde er 2006 verhaftet und wegen organisierter Kriminalität sowie den hoch gehandelten Morden an einem Parlamentsabgeordneten und dem Beamten eines Staatsgefängnisse zu 16 Jahren Haft verurteilt.

Berichten zufolge verließ Batukaev das Gefängnis jedoch schon im April 2013. Er soll zu einem Charterflugzeug begleitet worden sein, das ihn nach Tschetschenien flog, wo er heute lebt.

In Kirgisistan sind die Grenzen zwischen der Legalität und der Illegalität oftmals fließend. Gleiches gilt für die Einordnung der Akteure. 2005 fand in Kirgisistan die Tulpenrevolution statt, ein relativ friedlicher Machtwechsel, an dessen Ende ein neuer Präsident stand. Doch mit dem neuen Mann am Ruder wurden viele politische und kriminelle Bindungen ungewiss. So heißt es in einem UNODC-Bericht von 2012:

„Nach der Tulpenrevolution, die in den Jahren 2005 bis 2009 stattfand, wurde in Kirgisistan eine Reihe von kriminellen Oberhäuptern ermordet. Diese Gewalt, die normalerweise eher mit lateinamerikanischen Drogenmärkten in Verbindung gebracht wird, war kein klassischer Grabenkampf zwischen rivalisierenden Gangs. Es schien sich eher um eine Machtergreifung zu handeln, die auf hoher politischer Ebene eingefädelt wurde und in deren Folge kriminelle Netzwerke nach und nach von hochrangigen Beamten kontrolliert wurden.“

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Während der Revolution von 2010 verschaffen sich kirgisische Demonstranten Zugang zum Gelände des Kapitolgebäudes. (Foto via)

Im April 2010 folgte eine weitere Revolution. Im Sommer 2010 weiteten sich ethnische Auseinandersetzungen zwischen kirgisischen und usbekischen Gemeinden in Osch, der zweitgrößten Stadt des Landes, zu einer größeren humanitären Krise aus. Das Endergebnis war eine geschwächte Regierung. Das organisierten Verbrechens wuchs hingegen weiter an.

Heute wird nur noch mittels Gerüchten und Klatsch auf die wichtigsten kirgisischen Kriminellen verwiesen. Einige verdächtigen verschiedene Parlamentarier und Sicherheitsbeauftragte, Andere klagen vertrautere Gesichter an—insbesondere dem angeblich größten Narkobaron Kamchybek Kolbayev.

Kolbayev wird verdächtigt, im Januar 2012 Proteste in kirgisischen Gefängnissen aus dem Ausland gesteuert zu haben, woraufhin sich Tausende Gefangene den Mund zugenäht haben, um für bessere Lebensbedingungen zu demonstrieren. Das US-Finanzministerium sanktionierte Kolbayev für seine Verbindungen zu einem multinationalen Netzwerk des Drogenhandels und des organisierten Verbrechens, das als „Brothers’ Circle“ bekannt wurde. Im Moment sitzt Kolbayev hinter Gittern, doch man vermutet, dass er noch immer Macht in der Außenwelt ausübt.

„Wer als Durchgangsland anfängt, wird sich im Laufe der Zeit zum Nutzermarkt entwickeln“, sagt Dr. Alexander Zelichenko, Direktor des Zentralasiatischen Zentrums für Drogenpolitik. Als pensionierter Polizeioberst, der 38 Jahre lang sowohl im Dienste der Sowjetunion als auch Kirgisistans stand, befand sich Dr. Zelichenko immer an vorderster Stelle der Drogenpolitik. Er arbeitete für die UN, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie nun für seinen eigenen Thinktank in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek.

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„Ich weiß noch, dass wir in den 1990ern ein sehr interessantes Phänomen beobachtet haben: Kriminelle Banden haben umsonst Opium und Heroin verteilt“, sagt er. „Dadurch konnten sie ihren Markt vergrößern.“

Seitdem stieg die Zahl der Drogenkonsumenten beträchtlich an. Den offiziellen Angaben der kirgisischen Regierung zufolge beläuft sich die Anzahl der intravenösen Konsumenten auf ungefähr 10.000. Weil es jedoch an verlässlichen Daten mangelt, bleibt die genau Zahl unbekannt. (In einem UNODC-Bericht wurde die Zahl auf 26.000 Personen geschätzt. Die Studie ist jedoch von 2006 und wurde nicht mehr aktualisiert.)

Dr. Zelichenko zufolge ist die Zahl in Wirklichkeit viel höher: „Meiner Meinung nach ist sie mindestens zehnmal so hoch—das heißt, es gibt mehr als 100.000 Konsumenten“, sagt er. Für ein Land, das nur 5,5 Millionen Einwohner hat, ist diese Zahl noch größer, als sie bereits klingt.

Der weiterhin steigende Anteil der Drogenkonsumenten stellt ein wesentliches demographisches Problem für Kirgisistan dar, insbesondere vor dem Hintergrund der HIV-Infektionen. 72,3 Prozent derjenigen, die 2008 gegen HIV behandelt wurden, hatten sich Drogen gespritzt. Um diesen Anteil in einen Zusammenhang zu setzen: In den USA liegt die HIV-Rate der intravenösen Drogenkonsumenten bei 9 Prozent, in Großbritannien bei nur 2,3 Prozent.

Bis man sich in Kirgisistan auf Strategien zur Eindämmung der Gefahr verständigte, verging einige Zeit. 1997 wurde schließlich ein Pilotprojekt gestartet und 2000 folgte ein vollständiges Programm, das auch Spritzentausch umfasste. Kurz darauf wurden Methadon-Behandlungen legalisiert, seit 2008 sind sie auch in Gefängnissen verfügbar. Trotz dieser Fortschritte können nicht alle Betroffenen erreicht werden. Die Rate der HIV-Infektionen steigt weiter an.

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„Es ist ein erschreckend, darüber nachzudenken, was passiert wäre, wenn diese Maßnahmen nicht getroffen worden wären“, sagt Dr. Zelichenko, der die Schwierigkeiten dieses Weges bestätigt.

Während einer Razzia entdeckt ein afghanischer Polizist ein Opiumversteck in der Helmand-Provinz. (Foto via)

Angesichts des Abzugs der Nato-Truppen aus Afghanistan im kommenden Jahr können sich die Dealer in der Region bereits auf ein weiteres Wachstum des Drogenmarktes freuen. In einer E-Mail, die kürzlich von Wikileaks veröffentlicht wurde, erklärt ein Analyst des privaten Informationsunternehmen Stratfor: „Meine derzeitige Hauptsorge ist nicht, dass der Fundamentalismus aus Afghanistan überschwappen könnte. Sie betrifft nach wie vor die Drogenhandelswege.“

Doch jeder echte Kampf gegen den Drogenhandel bedarf internationaler Finanzierungs-und Ausbildungshilfen. Momentan sind in Kirgisistan Antidrogenprogramme der UNO, der OSZE, der EU, der USA sowie Russlands in Gange. Aufgrund des fehlenden Vertrauens und der mangelhaften Koordination unter den Geldgebern haben viele der Programme jedoch nur begrenzte Auswirkungen.

„Russland war zu sehr damit beschäftigt, die Amerikaner loszuwerden, anstatt zu versuchen, mit ihnen zu kooperieren“, sagt Dr. Anar Valiyev, ein unabhängiger Analyst aus Baku, in Bezug auf die Sicherheitslage in Afghanistan und Zentralasien.

Die ausbleibende Zusammenarbeit zwischen den USA und Russland in Zentralasien und Afghanistan ist in der Tat ein Symptom eines größeren politischen Niederschlags zwischen Präsident Obama und Präsident Putin. Während es den beiden Ländern nicht gelang, einen Konsens herzustellen, konnte der Drogenhandel weiter wachsen. Nach wie vor ist er ein wichtiger Teil des wirtschaftlichen Alltags vieler Einheimischer.

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„Alles hängt von Afghanistan ab“, ist Dr. Valiyevs Kommentar zu den komplexen Dynamiken, die in der Region ablaufen.

Dass der Drogenhandel solch eine große Bedrohung darstellt, liegt zum Teil daran, dass es unmöglich ist, das Drogenproblem vom Problem des Terrorismus abzukoppeln. Der Drogenhandel stellt die verlässlichste Einkommensquelle der Taliban und anderer Extremistengruppen der Region dar. Auch wenn es vielen Dealern nur um den Gewinn geht: Die Versorgungskette beginnt in Afghanistan und endet in den Taschen der radikalen Islamisten. Viele Regierungen blicken der Zukunft deshalb mit Sorge entgegen.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 22 Jahren wurde die alte Silk Road Zentralasiens wiederbelebt und zu einem Heroin-Highway des 21. Jahrhunderts ausgebaut. Für Kirgisistan ist diese Straße lang und verläuft bis weit hinter den Horizont.

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