Wie ich das Erdbeben in Nepal überlebt habe

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Reisen

Wie ich das Erdbeben in Nepal überlebt habe

Weiter nach oben ins Gebirge oder zurück in die am stärksten betroffene Region? Ein Bericht mitten aus dem Beben von Nepal.

Vor zwei Jahren konnte ich im Anschluss an sechs Monate Volunteerarbeit in Dhaka, Bangladesch, noch zehn Tage Urlaub nehmen. Die Frage, wo es hingehen sollte, stand im Raum, denn das Nachbarland Nepal, mit den höchsten Bergen der Welt—somit das genau Gegenteil von der ewigen überfluteten Weite Bangladeschs—, und alle damit verknüpften Vorstellungen klangen verheißungsvoll, magisch, anziehend. In so kurzer Zeit kann man nur eine Ahnung gewinnen. Was ich sah und die Menschen, die ich kennenlernte, hinterließen jedenfalls einen tiefen Eindruck bei mir.

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Ganz am Schluss, ich hatte mir schon eine ganze Weile in den Kopf gesetzt, ein Piercing machen zu lassen, wurde ich irgendwo in den Seitengassen von Thamel/Katmandu in ein Tattoostudio geführt. Eine Dame, ganz in Leopardenstyle gekleidet, empfing mich, die Tätowierer saßen Gitarre spielend in einem etwas heruntergekommen Raum. Das Piercing ging schnell und unkompliziert. Danach saßen wir lachend auf der alten Couch und tranken zusammen Bier. Ich erzählte, dass ich mir auch schon mal überlegt habe, das tätowieren zumindest auszuprobieren, weil ich Grafikdesign und die ganze Zeit vor dem Computer zu hängen zu eintönig finde—sofort wurde mir angeboten, es dort zu lernen.

Seit diesem Moment wünsche ich mir, in so einer Situation einfach mal Ja sagen zu können. Also arbeitete ich zwei Jahre in einer kleinen Münchner Agentur, bis es mir reichte und ich meine Sachen packte, um dieses Land, das mich so fasziniert hat, besser kennenzulernen—und um die ersten Versuche, die ich in Richtung Tätowieren unternommen habe, zu konkretisieren.

Einen Freund, der eigentlich ursprünglich auf die Philippinen fliegen wollte, habe ich bei einer Party so zugetextet, dass er mir die Hand darauf gab, mit nach Nepal zu reisen. Geglaubt habe ich es ja nicht, denn der Pegel war schon recht weit oben, aber Steve ist ein Mann der Tat und hat das Flugticket noch vor mir gebucht.

Das letzte Mal hatte ich keine Zeit, um mich auf einen dieser sagenhaften Treks zu begeben, und daher stand fest, dass wir für mindestens eine Woche durch die Landschaft des Himalayas laufen wollen. Everest Base Camp. Ich war absolut dagegen, denn der Flughafen in Lukla zählt zu den gefährlichsten der Welt. Die Flugzeuge, die dorthin fliegen, sind Propellermaschinen, die man auch aus den alten Indiana Jones-Streifen kennt und dann auf 2.800 Metern zwischen Bergkuppen auf einer Landebahn von circa 500 Metern landen. Es gibt ein Sprichwort, das besagt: „Do not consider to fly in Nepal, because the clouds have rocks in them."

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Nachdem wir jedoch einige Leute getroffen haben, die den Everest Base Camp Trek gemacht und uns Bilder von Yaks vor dem Everest gezeigt haben, war es keine Frage mehr. Wenn man in Nepal ist und wandern will, dann muss man einfach diesen Trek machen. Innerhalb von zwei Tagen organisierten wir die nötige Ausrüstung und Genehmigungen für die 16 Tage und schon fand ich mich in dieser Propellermaschine wieder.

Die Landung ist genau so, wie ich sie auf YouTube gesehen hatte. Man kann ins Cockpit schauen und jede Bewegung der Piloten verfolgen. Die Anspannung ist so groß, dass man vergisst, sich zu übergeben. Voller Adrenalin und Freude, noch am Leben zu sein, laufen wir los.

Es ist der 24.04.2015. Man hätte die erste Etappe nach Namche auch an einem Tag schaffen können, circa sieben bis acht Stunden, aber wir wollen es erst mal langsam angehen. Also machen wir es uns in einem der vielen Teehäuser gemütlich, spielen Karten und gehen um 19 Uhr schlafen, weil es keinen Strom gibt. Der nächste Tag ist wolkenverhangen, doch meine größte Sorge bis dahin war zum einen die Höhenkrankheit, die einen schon ab Namche (auf 3.440 Metern) treffen kann, und zum anderen, ob ich von meiner Schreibtischkonstitution her das tägliche Laufen mit 14-Kilo-Rucksack überhaupt packe. An diesem Tag haben wir 800 Höhenmeter zu bewältigen, mit mehreren steilen Etappen.

Man trifft viele Menschen auf dem Weg, aus den verschiedensten Ländern. Ein kurzer Smalltalk, wenn man überholt oder überholt wird. Da sind Vater und Sohn aus Frankreich unterwegs. Eine Frau mit Freundin aus Texas, deren Guide den Weltrekord für den Everest Summit hält. Er war 21 mal ganz oben. Das Militär begleitet uns eine Weile und fragt uns, warum wir zwar verheiratet sind (ich habe Steve gebeten, das zu behaupten), aber keine Kinder haben, da muss doch irgendwas mit uns nicht stimmen. Irgendwann, wir haben den Eingang zum Sangarmatha National Park längst passiert, beginnt der steile Aufstieg nach Namche.

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Man läuft über eine beeindruckend hohe Hängebrücke und danach windet sich der Weg durch Wald und Gestein. Es ist mühsam, aber wir machen öfter Pause und trinken Wasser. Gerade haben wir wieder unseren Rucksack aufgeschnallt und sind um die nächste Kurve gelaufen, als ein grollendes Geräusch ertönt. Der Boden fängt zu beben an und es ist schwer, das Gleichgewicht zu halten. Mein Hirn setzt aus, Steve reagiert geistesgegenwärtig und drückt sich, so nah es geht, an einen Felsen und zieht mich zu sich. Kleine und größere Steinbrocken fallen von oben runter. Dieses Geräusch und das Beben—mein einziger Gedanke ist, was, wenn wir mitten in einen Erdrutsch geraten und der Hang im nächsten Moment abgeht? Ich habe Todesangst, kann nicht atmen und schaue einfach nur entsetzt auf die Brocken, die von oben runterkommen. Da ist es auch schon wieder vorbei. Wir setzten uns hin, versuchen zu atmen und dieses panische Gefühl unter Kontrolle zu bekommen.

Etwas weiter hinten im Tal sieht man eine große Staubwolke. Mit zitternden Knien laufen wir weiter und fragen uns, ob das alles durch einen gewaltigen Erdrutsch ausgelöst wurde. Kann etwas so heftig sein? Dass der ganze Berg wackelt? Zwei Kurven weiter kommt uns ein Mann entgegen, ein Inder vermutlich, seine Regenjacke ist blutüberströmt und er hält sich die Hand an den Kopf. Ein Stein hat ihn getroffen, zum Glück kein allzu großer, doch er steht sichtlich unter Schock. Unsere Frage, ob wir irgendwas für ihn tun können, verneint er und läuft in Begleitung seines Guides weiter runter. Etwas weiter treffen wir eine Gruppe Franzosen, ältere Leute, die auch nicht fassen können, was gerade passiert ist, aber allen geht es gut. Immer wieder spielt sich die Szene in meinem Kopf ab und ich muss die Panik unterdrücken, immer wieder scheint es, als ob der Boden leicht bebt und ich frage mich, ob mein Kreislauf gleich schlapp macht.

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Namche

Schließlich erreichen wir den Checkpoint vor Namche. Es gibt einige Kontrollhäuschen auf dem Weg, da immer mal wieder Menschen verschwinden und man so weiß, wo sich wer zuletzt aufgehalten hat. Dort haben sich einige Menschen versammelt und wir hören zum ersten Mal von einem Erdbeben. Den Ort soll es ziemlich getroffen haben und es wird uns davon abgeraten, weiter zu gehen. Was tun? Umdrehen? Lieber verschaffen wir uns ein eigenes Bild und laufen weiter. Aus den ersten Häusern, die wir passieren, sind die Wände rausgebrochen und die Menschen stehen unschlüssig am Hang. Traurige Minen, denen immer noch das Entsetzen ins Gesicht geschrieben ist. Schließlich die letzte Kurve und Namche öffnet sich als ein Ort, angelegt wie ein Amphitheater am Fuße eines noch höheren Berges. Menschen haben sich am äußersten Rand an einem großen Felsen inmitten eines Kartoffelfeldes versammelt. Wir gehen auch dorthin und schauen uns im Ort um. Auf den ersten Blick sieht es gar nicht so schlecht aus, auf den zweiten sieht man einige Häuser, die einen Knacks bekommen haben. Bald treffen wir auf eine Gruppe Australier, die uns an ein Gasthaus verweisen, in dem sie auch übernachten und das aus viel Holz besteht und einen Garten hat und somit ihrer Meinung nach gute Voraussetzungen in Anbetracht der Situation aufweist.

Dort laden wir unsere Sachen ab und laufen etwas unschlüssig durch die Gegend. Es ist kalt und wir sind seit sechs Stunden auf den Beinen und haben gerade zum ersten Mal ein Erdbeben der Stärke 7,9, wie wir später erfahren, erlebt. Aus diesen Gründen setzen wir uns in ein Café, das trotz allem irgendwie offen hat. Eine amerikanische Familie ist gerade dabei, riesige Wraps zu verspeisen und scheint bester Laune zu sein. Alles fühlt sich so surreal an. Wir bestellen Cappuccino. Laut Karte ist das sogar Illy Cafe! Seltsam das alles. Zum Glück habe ich Netz und kann meiner Familie gleich schreiben: „Ich bin am Leben und es geht mir gut."

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Kurz darauf bebt es wieder. Ich schenke dem zuerst kein Beachtung, weil es für mich schon die ganze Zeit irgendwie bebt. Aber als die Wasserflasche auf unserem Tisch plötzlich heftig zu schwanken anfängt, draußen eine Sirene losgeht und Schreie ertönen, springen wir auch auf. Der Besitzer kommt aus der Küche gerannt und schreit: „RUN RUN RUN!!! FASTER!" Hunderte Menschen sind draußen in Bewegung und laufen alle Richtung Stein. Bis wir dort ankommen, ist es auch schon wieder vorbei. Steve und ich nehmen uns in den Arm, zittern und können unsere Situation nicht begreifen.

Diese Nacht „schlafen" wir alle, die in dem Guesthouse sind, gemeinsam im Speisezimmer, es gibt mehrere kleinere Nachbeben und die Nerven sind bis zum Äußersten angespannt, jedes noch so kleines Geräusch lässt das Herz still stehen. Alle haben eine Art Survival-Pack mit dem Nötigsten in nächster Nähe. Das W-Lan funktioniert und die Nachrichten beginnen sich zu überschlagen, doch das Ausmaß dringt nur langsam in unser Bewusstsein, da wir wie paralysiert sind.

Das Café Danphe in Namche

Sonntag, der 26.04.2015, wird beherrscht von Unschlüssigkeit, hin und hergerissen zwischen dem Impuls der Flucht und der Gewissheit, dass es nichts bringen würde. Es gibt viele Gerüchte. Die meisten Touristen versammeln sich im Cafe Danphe, für die kommende Zeit Dreh und Angelpunkt. Eine Bar mit Pooltable, Ofen, guten Cocktails, Bier und der besten Pizza weit und breit und vor allem kostenlosem Wifi. Es wird klar, dass wir unfassbares Glück gehabt haben. Tausende Tote, Verletzte und Verschüttete. Orte, die zerstört sind. Eine riesige Lawine am Everest, bei der 20 Menschen ums Leben gekommen sind. Hunderte Bergsteiger, die oberhalb des Khumbu Icefalls am höchsten Berg der Welt feststecken. Weitere Steinlawinen, von denen viele Menschen in der Langtang-Region begraben wurden. Immer wieder hören wir Hubschrauber über uns hinweg fliegen.

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In einem Bericht lese ich, dass Experten schon seit 2002 davor warnen, dass es durch die Aktivität der Eurasischen und Indischen Erdplatte zu einem schweren Erdbeben kommen kann. Und das erst vor wenigen Wochen ein Gipfeltreffen in Kathmandu stattgefunden hat, wo von der Möglichkeit eines Erdbebens der Stärke 9 gesprochen wurde. Diese Tatsache verbreitet sich in Windeseile und es werden Warnungen durch das Militär rausgegeben, was zu einer Panikreaktion führt. Auch die Menschen in Namche packen ihre Sachen, verlassen ihre Häuser und bauen weiter oben am Hang Zelte auf. Mit all diesen ungewissen Faktoren sind wir psychisch am Tiefpunkt angelangt und warten mit den übrig Verbliebenen im unteren Dorf beim Stein im Kartoffelfeld darauf, dass sich die Erde wieder bewegt. Langsam wird es dunkel und Nebel macht sich breit. Alles wirkt unglaublich trostlos. Ein Tscheche packt seine Haschpfeife aus und meint, dass sei der beste Zeitpunkt, um was zu rauchen. Um alles aufzulockern, erzählt er uns, wie sie am Tag zuvor gerade auf dem Rückweg vom Everest Base Camp waren und auch gerade eine Pfeife geraucht haben, als plötzlich alles wackelt. Sie seien umgefallen und haben sich dann angeschaut. „Wow what a good shit. Haha" … haha. Er bietet mir seine Pfeife an, aber ich lehne ab. Der Gedanke, high zu sein, während man sich eventuell in Sicherheit bringen muss, behagt mir nicht so ganz.

Nach einigen ereignislosen Stunden in der Kälte, in denen wir nur rumstanden, gehen wir schließlich wieder in die Bar und bestellen uns Bier. Was soll man tun? Man kann nichts tun. Es entwickelt sich eine seltsame Abgestumpftheit und ein eigener Sarkasmus, mit dem man die Situation ins Lächerliche zieht. Als wir schließlich zu unserem Hostel wollen, finden wir dieses verschlossen vor. Alle sind den Berg hoch. Wir dürfen in der Bar übernachten und bekommen sogar ein Zimmer. Auf einem Bett liegen lauter Brocken und Dreck, der von der Decke runtergekommen ist. Wir sind so übermüdet, emotional und überhaupt, dass uns diese Tatsache nicht stört. Noch kurz aufs Klo und dann Bett. Als ich auf dem Klo sitze, beginnt es zu beben. Im ersten Moment muss ich anfangen zu lachen, weil das einfach verrückt ist. So schnell es geht, zieh ich meine Hose hoch und renne in die Bar. Doch sie lassen uns nicht raus, weil es sicherer ist, unter dem Türrahmen zu stehen, als draußen auf der Straße, wo einen Ziegel treffen können. Anschließend trinken wir noch ein Bier und schlagen unser Lager neben dem Ofen auf. Ich schlafe wie ein Baby, wahrscheinlich aus Trotz und Resignation. Fuck you Earthquake!

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Der nächste Tag. Die Gerüchte, wo was wie, werden nervtötend. Ein deutsches Fernsehteam war hier und hat Leute interviewt, anschließend haben sie sich vom Heli abholen lassen, um dann in den Nachrichten zu bringen, wie sie knapp dem Tod entkommen sind, wie Namche quasi zerstört ist und ohne Versorgung dasteht. Ich könnte kotzen. Wir sitzen hier, wahrscheinlich im besten Ort von ganz Nepal, sind bestens bedient mit allem Möglichen, während in Katmandu das Chaos ausgebrochen ist und man nicht mal Wasser bekommt.

Die Brücke, auf der zwei Amerikanerinnen vom Beben überrascht wurden

Wir treffen die Texanerin und ihre Freundin wieder. Ich freu mich sehr, sie zu sehen. Sie erzählen, dass sie während dem Erdbeben gerade mitten auf einer hohen Brücke waren. In Wellenbewegung hat sie ausgeschlagen und sie konnten sich gerade so festhalten. Eine schreckliche Vorstellung.

Wieder ist ein Tag vorbei, aber Zeit hat ihre ganz eigene Dynamik und scheint unglaublich langezogen.

Es wird heftig diskutiert, was zu tun ist, und viele Gruppen verlassen den Ort, um einen Flug aus Lukla raus zu bekommen. Wir finden das dämlich. Zum einen weiß man nicht, in welchem Zustand der Weg nach unten ist, dann sind da noch diese Schluchtpassagen, die im Falle eines Nachbebens sicher nicht lustig sind, und zum anderen werden sich die Leute in Lukla stapeln. Der Flughafen in Katmandu ist gesperrt, mit Menschen komplett überfüllt und wer will jetzt in Katmandu sein?

Wir beschließen also in einer kleinen Gruppe mit Ida aus den Niederlanden und Nik aus New Mexico, die empfohlene Runde zur Akklimatisierung zu unternehmen. Ein Sechs-Stunden-Trek durch die umliegenden Dörfer.

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Als wir dort schließlich ankommen, wird klar, dass die Bergbevölkerung schwer getroffen ist. Viele Häuser stehen zwar noch, sind aber augenscheinlich unbewohnbar geworden. In Khunde reden wir mit einem älteren Herren, der vor den Trümmern seines Hauses campiert. Er rechnet damit, für ein ganzes Jahr im Zelt zu leben und weiß noch nicht, wie er ein neues Haus finanzieren soll. Denn all die Materialien in diese entlegene Gegend zu bekommen, ist ein kostspieliger und langwieriger Prozess. Er erzählt uns das ganz sachlich und mit einem ungläubigen Lächeln. Ich frag mich, ob ich ihm hätte Geld geben sollen, aber was ist dann mit seinen Nachbarn, die auch zelten, und deren Nachbarn?

Auf halben Weg zurück kommen wir an einer Yak-Farm vorbei, ein weites Terrain, und endlich sieht man in einiger Entfernung diese zotteligen Rinder, ohne deren Fototrophäe keiner, der hier unterwegs ist, die Region verlässt. Wir fragen uns, ob man hier nicht auch Yak-Käse kaufen könnte. Kaum sind wir gesichtet, werden wir vom Besitzer mit großen Gesten und einem übergroßen Strahlen in den noch intakten Teil des Hauses gewunken. Ob wir Tee und Kartoffeln wollen? Ein Nein hätte eh nicht gegolten. Yak-Käse gibt es hier nicht und dann erklärt er uns erst mal, wie das funktioniert: Denn Yak ist schon mal männlich. Nag, das weibliche Tier, produziert nur sehr wenig Milch und ein reiner Yak/Nag-Käse wäre unwahrscheinlich teuer, also gibt es eine Art Hybrid-Rind, was einer Kuh noch ähnlicher ist. Auf die Frage, wie es ihm und seiner Familie geht, antwortet er zum Glück, dass es allen gut geht und sogar sein Haus noch steht, aber auch in seinem Distrikt sind über 70% ohne Obdach. Er schaltet den Fernseher ein und zum ersten Mal sehen wir die Bilder aus Katmandu. Chaos, überfüllte Krankenhäuser, Leichen, Menschen, die gerade aus den Trümmern gerettet werden konnten, aufgerissene Straßen und jahrhundertalte Kulturschätze, die verloren sind. Fassungslosigkeit macht sich breit, denn waren wir dem Ganzen schon wieder zum gewissen Teil entrückt (es ist erstaunlich, wie sehr man auf Autopilot fahren kann), kam hier das ganze Ausmaß mit aller Wucht zurück. Ein paar Minuten später kommen nach und nach die Jungs, die für den Yak-Farmer arbeiten, in das Zimmer und es wird auf Wrestling umgeschaltet. Das alles ist zu absurd und konträr. Wir sitzen irgendwo im Everest-Gebiet auf einer Yak-Farm und schauen uns halbnackte Muskelprotze an, die sich gegenseitig einen Stuhl über den Kopf ziehen, während das Land sich dieser Katastrophe stellen muss und Menschen um ihr Leben kämpfen.

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Wieder in Namche bei Veggie Pizza und Cerveza Grande ist die Diskussion voll im Gange, ob hoch oder runter. Einige, die geschwankt haben, sind jetzt fest entschlossen, sich auf den Weg nach Lukla zu begeben. Einige lassen sich mit dem Heli abholen. Jetzt zum Sonderpreis—einmalige Gelegenheit meint eine, das will sie sich nicht entgehen lassen. Super! Find ich gut! Ehrlich … Während immer noch viele Bergsteiger festhängen und die Dörfer mit dringend nötigen Materialien versorgt werden müssen.

Gerüchte sind anstrengend und machen eine vernünftige Entscheidung sehr schwierig. Immer wieder hört man, dass dies oder jenes komplett zerstört ist, und dann wieder das Gegenteil. Warum neigen die Menschen dazu, ihre Situation noch dramatischer darzustellen, als sie eh schon ist? Wir hören zwei Australiern zu, die mit ihren Mamas telefonieren und die schwärzeste Nacht beschreiben, hoffentlich bekommen sie einen extra großen Kuchen von ihren Müttern, die nun vor Sorge halb umkommen bei der Vorstellung, wie ihre Söhne sich den Weg nach Hause erkämpfen, und werden dann von ihren Freunden mit wehenden Fahnen empfangen.

Es kommen immer mehr Menschen von weiter oben an, die wir fragen, in welchem Zustand die Wege und Lodges sind. Ein deutscher Fotograf zeigt uns Bilder und erklärt uns die Situation ganz gut und unterstützt damit auch die Beschreibung von anderen. Durch verschiedene Kanäle dringt durch, dass auch der Weg nach unten in Ordnung ist, an manchen Stellen gab es Erdrutsche, aber es soll passierbar sein. Jedoch sind mittlerweile Tausende Menschen in Lukla, die gar nicht alle von den Lodges aufgenommen werden können. Die Flüge gehen nur unregelmäßig, teils wegen schlechten Wetters, teils wegen der Situation in Katmandu.

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Die Option nach unten scheint uns aus diesem Grund immer noch sinnfrei. Warum also nicht weiter nach oben wandern und sein Geld dort noch verteilen, als hier an der immergleichen Stelle für Bier und Pizza ausgeben.

Nach einem weiteren Tag, den wir komplett in Namche verbringen, steht fest, dass wir, Steve, Nik und ich, nach oben gehen. Auch aus dem einfachen Grund, den Einzug von Wahnsinn zu vermeiden. Erst mal bis zur nächsten Etappe Tengboche, das für sein Kloster berühmt ist, und dann werden wir sehen, wie es sich anfühlt.

An diesem Abend ist jeder in Stimmung, viel zu trinken, und an der Bar ist ein mitreißendes Phänomen lautstark zugange. Sein Name ist Papa Barney the Invisible. Der gebürtige Deutsche lebt seit einer Ewigkeit auf Bermuda und verteilt großzügig Bier und Whiskey. „We are fucking alive! The fuck, we have to celebrate!"

Draußen mit einer Zigarette versuchen wir, uns mit einem Iren zu unterhalten, der wegen seines Akzents und wegen seines Pegels kaum zu verstehen ist. Was er jedoch sagen will, ist, dass es eine schlechte Idee von uns ist, nach oben zu gehen. Da oben kommen die Leichen vom Everest an, sagt er und zeigt uns ein Video, das er aufgenommen hat. Es zeigt einen Helikopter und mehrere lange gelbe Säcke, die vorbeigetragen werden. Er schämt sich dafür, dieses Video gemacht zu haben, und weint. „Do not go! Just don't!" Dann ist er weg.

Daraufhin trinken wir noch einige Runden mit Papa Barney, bis der Whiskey aus ist und wir auf die lokale Version umsteigen, die doch eine ganz eigene Note hat. Es ist mittlerweile so spät, dass wir unser Hostel verschlossen vorfinden und mal wieder eine Nacht in der Bar verbringen.

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Der nächste Tag fühlt sich übel an, aber das ist egal. Hauptsache nicht mehr rumsitzen, Hauptsache nicht mehr all dieses Gerüchtepalaver. Uns schließt sich noch ein Pärchen aus New Jersey an und so ziehen wir am Mittwochmittag zu fünft von ungläubigen Augen verfolgt den Berg hoch.

Der Weg nach Tengboche ist anstrengend aber beeindruckend, denn zum ersten Mal bricht die Wolkendecke auf und die ganze Schönheit des Himalaya entfaltet sich vor uns. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl macht sich breit, für das man sich irgendwie auch schämt, aber diese eindrucksvolle Landschaft birgt soviel Kraft und Ruhe in sich, deren Wirkungskreis man sich nicht entziehen kann

Als wir schließlich nach sechs Stunden und einem steilen Aufstieg in Tengboche ankommen, ist es genau der Mount Everest, dessen Spitze durch die Wolkendecke ragt und von der untergehenden Sonne tief orange angestrahlt wird. Der Ort besteht nur aus ein paar Häusern und dem mächtigen Kloster, welches augenscheinlich stark getroffen wurde.

Die einzige Lodge weit und breit, ein flaches Haus, hauptsächlich aus Holz gebaut, hat gut eingeheizt und bietet als Spezialität Snickers Pie. Die Besitzer freuen sich ausgesprochen darüber, dass doch noch ein paar Touristen hochkommen. Wie kann es sein, dass es einem so gut geht?

Dingboche ist das nächste Ziel und wir begeben uns auf 4.360 Meter. Der Ort ist etwas größer und scheint bis auf wenige Häuser noch intakt zu sein. Wir bleiben drei Tage, um uns zu akklimatisieren. Dabei steigen Nik und ich am nächsten Tag auf den 5.600 Meter hohen Nagartsang, eher aus Versehen, denn eigentlich wollten wir nur auf 5.000 Meter, aber dann wird man vom Gipfelfieber gepackt. Die Quittung kommt später in Form von rasenden Kopfschmerzen. Die Angst vor Höhenkrankheit bleibt ständiger Begleiter. Gerade jetzt, wo jeder Heli gebraucht wird, wäre es schlecht, wegen Leichtsinnigkeit abtransportiert werden zu müssen.

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Die Symptome sind zwei verschiedene. Zum einen breitet sich ein starkes Druckgefühl und Kopfschmerzen vom Nacken beginnend aus, es heißt, das Hirn fängt an zu schwellen. Wenn man nichts unternimmt, geht es weiter mit Schwindelgefühl bis hin zu Halluzinationen. Die Personen können keine eigenen Entscheidungen mehr treffen und sind auf Hilfe angewiesen, passiert das nicht, tritt bald Ohnmacht ein und anschließend der Tod. Zum anderen kann man von anfänglichen schmerzenden Atemproblemen ein Lungenödem bekommen, das zeigt sich, wenn man rostbraunen Schleim hustet. Unternimmt man nichts, schrumpelt die Lunge in sich zusammen und man erstickt.

Sicherheitshalber bleiben wir also noch einen Tag, weil alle etwas angeschlagen sind. Ron und Vanessa, das Pärchen aus New Jersey, wollen weiter und so teilt sich unsere Gruppe.

Noch zwei Etappen sind zu bewältigen. Loboche (4.900 Meter) und am Tag darauf Gorak Shep in Kombination mit dem Aufstieg nach Kalapartar (5.510 Meter), dem Aussichtspunkt für Everest und Everest Base Camp.

Es ist unfassbar, wie langsam man wird. Alles geht nur noch in Zeitlupe. Ein Schritt nach dem anderen und man starrt den Boden an, beginnt, die Steine und Yak-Haufen zu zählen, nur um sich vom eigenen keuchenden Atem abzulenken. Doch die Belohnung ist tausend mal mehr. Es ist eine faszinierende Landschaft, hat man erst mal die Baumgrenze hinter sich gelassen. Nicht direkt schön, aber so urzeitlich, geheimnisvoll. Anfang und Ende kommt zusammen, alles manifestiert sich im Moment und das Universum ist eins mit jedem Molekül, Om mani padme hum. Dieser Glaube findet seinen Ausdruck in diesem Mantra, das man überall zu sehen bekommt.

Nik muss in Loboche umdrehen. Er hat eindeutige Anzeichen von AMS (Alltitude Mountain Sickness).

Was das Erdbeben betrifft, scheint alles weit weg und es waren nicht einmal mehr Nachbeben zu spüren. Die Tatsache, dass so wenig Menschen unterwegs sind, ist etwas ganz Einmaliges. Normalerweise findet man sich mit Hunderten Leuten auf dem Gipfel von Kalarpartar wieder. Und wir waren die einzigen, unfassbar. Da saßen wir nun. Vor uns der höchste Berg der Welt.

Während alle anderen runtergerannt sind, war es wirklich die beste Entscheidung gewesen, genau das Gegenteil zu tun. Der Instinkt drängt zunächst zur Flucht, was ganz natürlich ist, aber es ist deswegen nicht automatisch die richtige Eingebung. Die Dörfer, die wir nach oben passiert haben, waren doch zum Großteil intakt und daher wurden wir recht freudig empfangen, wahrscheinlich in der Hoffnung, nicht die Letzten zu sein, die sich auf den Weg gemacht haben.

Am Abend zurück in Loboche treffen wir wenig später Nik. Er hat auch die ganze Runde gemacht von Dhugla aus, ein Ort zwei Stunden und 300 Meter nach unten entfernt, mit einem äußerst steilen Aufstieg.

Der Weg zurück ist fantastisch, endlich aus den Klauen der Höhenkrankheit und der Kälte, die doch ganz schön an einem zehrt. Nach neun Tagen kommen wir stinkend wieder in Namche an, denn keiner hat auch nur einmal geduscht, die Sachen sind weitestgehend die selben und Socken hatte man auch nur zwei Paar dabei.

Der Weg nach Lukla

Der Ort ist wie ausgestorben. Genau wie Lukla, das wir zwei Tage später erreichen. Es mutet seltsam an, Leere zu finden, wo man noch die Hektik von kurz zuvor spürt.

Es ist der 9. Mai, nach 16 Tagen im Everest-Gebiet, und wir steigen früh morgens in die Propeller-Maschine. Ein letzter Blick auf die mächtigen Berge, bevor wir die 500 Meter runterrollen, abheben und von einer Wolkendecke verschluckt werden.

Wenn ihr den Leuten in Nepal helfen wollte, könnt ihr das zum Beispiel hier und hier tun.