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Welche Beleidigungen man sich als Jude in der deutschen Provinz anhören muss

"'Freunde' fanden es witzig, mir mit dem Transport nach Auschwitz zu drohen."

Autor Shahak Shapira mit 17 in Jerusalem

_Mit 14 Jahren verließ Shahak Shapira _gemeinsam mit seiner Mutter und seinem jüngerem Bruder_ Israel und landete in einer gottverlassenen NPD-Hochburg in Sachsen-Anhalt. 2015 wurde Shahak für 2,5 Minuten bekannt, nachdem er in der Berliner U-Bahn antisemitische Gesänge filmte und dafür von einer Horde junger Männer angegriffen wurde. Ein Mediengewitter war die Folge, PEGIDA solidarisierte sich, aus Israel kam die Empfehlung, in die Heimat zurückzukehren. Dann bot ihm ein skrupelloser Verlag an, für lächerlich viel Geld ein Buch zu schreiben. Er stimmte aus purer … ähm … "Leidenschaft" … zu. Nun schreibt er über seine Jugend als einziger Jude im tiefsten Sachsen-Anhalt und über seine Familie. Seine Botschaft: Jeder entscheidet selbst, ob er ein rassistisches Arschloch ist oder nicht._

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_Dies ist ein Auszug aus dem Kapitel "Erst wir. Dann du" aus Shahaks Buch DAS WIRD MAN JA WOHL NOCH SCHREIBEN DÜRFEN!_

Eines meiner größten Probleme als Neuling in der deutschen Pampa war die Unsicherheit darüber, was mich beleidigen sollte und was nicht. Ab welchem Punkt aus einem Witz eine Beleidigung wird, ist eine äußerst subjektive und komplizierte Angelegenheit. Für Millionen von Menschen ist eine Karikatur ihres Propheten eine Beleidigung, groß genug, um einen Heiligen Krieg vom Zaun zu brechen.

Dabei sind Propheten eigentlich zum Brüllen. Moses zum Beispiel. Ich meine, haben Sie schon mal so viel Rauch von einem brennenden Busch mitten in der Wüste inhaliert, dass Sie geglaubt haben, Gott würde mit Ihnen sprechen? Beim Burning­-Man­-Festival gehört so was zur Tagesordnung. Dann noch ein langhaariger Hippie, der übers Wasser laufen kann, und ein Mann Anfang 50, der eine Neunjährige heiratet? Das könnte doch der nächste Hangover-­Film sein.

Allein die Kreuzigung Jesu erfüllt einen mit Trauer. Den einzigen Menschen, der aus Wasser Wein machen konnte, aus der Welt zu schaffen, war nicht nur grausam und ungerecht—es war auch taktisch unklug.

Wer bestimmt also, was beleidigend ist? Die Gesellschaft? Vielleicht. Allerdings hielt die Gesellschaft vor Jahren auch die Sklaverei für eine gute Idee, und heute guckt sie Frauentausch auf RTL II. Manchmal spielt die Beleidigung selbst kaum eine Rolle, sondern vielmehr, wer sie ausspricht. Der Unterschied zwischen einem Judenwitz, der von einem Juden erzählt wird, und einem Judenwitz, der von einem Nichtjuden erzählt wird, ist gigantisch.

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Dürfen also nur Juden Judenwitze machen? Auch unlustige? Sind die Deutschen Antisemiten, wenn sie lachen? Sind sie Antisemiten, wenn sie eben nicht lachen, damit der Jude ja nicht denkt, er sei witzig? Ich schätze mal, eine Religion ist wie Mutti. Es ist OK, wenn man selber ab und zu ein bisschen frech zu ihr ist, doch wenn ein Anderer es wagt, Mama schief anzuschauen, dann kracht's aber gewaltig!

Diese innere Debatte führte ich in meinem Heimatort Laucha in Sachsen-Anhalt immer wieder aufs Neue. Beispielsweise als einer meiner Freunde beim Auswechseln auf dem Fußballplatz "Ausländer raus!" rief und mich grinsend anschaute. Alle lachten, es war ja auch ganz witzig. Ich habe mitgelacht, denn er hieß Kevin, der Witz ging also eher auf seine Kosten.

Manchmal entwickelte es sich allerdings zu einem ernsthaften Dilemma. Etwa, als meine Klassenkameraden einen neuen Lieblingsspruch für sich entdeckt haben, um mir ihre arische Überlegenheit stets vor Augen zu halten. "Erst wir, dann du", riefen sie bei jeder Gelegenheit: Wenn nur noch ein Sitzplatz auf der Bank übrig war, wenn sich eine Schlange vor dem kleinen Schulimbiss bildete oder beim Einsteigen in den Bus für einen Klassenausflug, es galt die goldene Regel aus den 30ern nach wie vor—zuerst die Deutschen, dann der Jude.

Manchmal fanden "Freunde" es aber auch witzig, mir mit dem Transport nach Auschwitz zu drohen, wenn ich mich nicht anständig benehmen würde. "Jetzt sei nicht so empfindlich! Alles nur Spaß!", hieß es immer. Dabei war Buchenwald doch viel näher als Auschwitz—bei solchen geografischen Wissenslücken hört der Spaß bei mir auf.

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Den Lehrern schienen die Sprüche nicht sauer aufzustoßen, bis die Geschichtslehrerin, Frau Stiegel, einen dieser schönen Erst­-wir-­dann-­du-­Momente auf dem Pausenhof mitbekam und eine Diskussion zu Beginn der Stunde anregte. Frau Stiegel warf meinen Klassenkameraden vor, ihren ausländischen Mitschüler auszuschließen. Die Klasse warf dem ausländischen Mitschüler vor, sich nicht anpassen zu wollen. Die Diskussion artete aus in Dimensionen weit über den ausländischen Mitschüler und seine inländischen Klassenkameraden hinaus.

"Ich habe Angst, dass Ausländer mir den Job wegnehmen", sagte eine Schülerin der zehnten Klasse des Gymnasiums. Die hatte zwar noch einige Jahre des privilegierten Dorflebens bei Mami und Papi vor sich, aber die Saat für ein erfülltes Leben mit Ausländerhass wollte sie keinesfalls zu spät säen.

Der ausländische Schüler versuchte, sich ebenfalls zu Wort zu melden, wurde allerdings recht schnell von seinen Klassenkameraden dazu aufgefordert, "es einfach hinzunehmen". Hinnehmen war eine große Tugend am Gymnasium Laucha und dass der ausländische Mitschüler auch immer und ständig diskutieren musste, das ging ja gar nicht!

Die Kunst des Hinnehmens, die hatte der ausländische Mitschüler noch nie beherrscht. Er kam aus einem Land voller Nichts­-Hinnehmer. "Wer zu viel hinnimmt, lässt sich früher oder später auch in die Gaskammer abführen wie ein Schaf zu seinem Schlachter", so sagte man es ihm in der Schule in Israel jedes Jahr, bevor die Raketensirene durch das Land tönte und alles und alle für Sekunden plötzlich stillstanden.

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Doch letztendlich musste der ausländische Mitschüler es hinnehmen, denn sie waren viele, und er war ganz alleine. Also nahm der ausländische Mitschüler es hin. Vorerst.

Shahak auf seinem Motorrad

Der ausländische Mitschüler bin ich, falls ihr das noch nicht gerafft habt. Das hier ist auch nur ein billiger Trick für den abrupten Übergang, der jetzt folgt, damit der Text ja nicht zu lang wird—das Internet hat keine Zeit für Literatur. Anyways:

Ich hatte ein kleines Honda-NSR-Motorrad mit 125 Kubikzentimetern Hubraum, das der anspruchsvollen Aufgabe diente, meinen Freund Julian und mich zwischen den Dörfern des Burgenlandkreises rumzukutschieren. Meistens zu einer seiner Freundinnen, mit der er seinen Unfug trieb, während ich als fünftes Rad danebensaß und auf meinem Handy Snake spielte.

Eines Abends ging es nach Karsdorf zu meiner allerersten Party. Alle Anderen waren schon längst jeden Freitag und Samstag unterwegs, doch ich hatte dem freiwilligen Sozialisieren in meiner Freizeit bis dahin die kalte Schulter gezeigt. Das lag vor allem an meiner Abneigung gegenüber Alkohol. Ich habe nie dieses Heckmeck um Bier verstanden. Es schmeckt widerlich, genau wie Wein oder Sekt, und die Bars der Dorfdiskotheken waren nicht unbedingt für ihre eleganten Cocktail­-Kreationen bekannt.

"Du wirst dich an den Geschmack gewöhnen", sagte man mir. Was für ein Unsinn! Wozu die Mühe? Ich spritze mir ja auch kein Heroin, nur um Junkie zu werden. Also blieb ich bis zu meinem 24. Lebensjahr fast durchgehend nüchtern.

Ich hatte mein Motorrad auf dem Schotterparkplatz vor der Karsdorfer Mühle abgestellt und betrat das Gebäude. Der Saal hatte zwei Etagen und erinnerte an ein altes Theater. Vor einer Reihe von Biertischen befand sich die Tanzfläche, wo das DJ-Team Ronny & Lutz den Bass droppte, während die Raver aus dem Umland zu ihren fetten Beats das Tanzbein schwangen. Julian begrüßte mich mit belustigtem Blick und starker Fahne, und ich stellte mich zum ersten Mal der Herausforderung, die ich bis heute bei jedem Partybesuch zu bewältigen habe: nicht alleine in der Ecke rumzustehen.

Ich wartete ab, bis genug Zeit verstrichen war, damit ich nach Hause gehen konnte, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen. Ich war schon auf dem Weg zu meinem Motorrad, als Julian meinen Namen rief. Ich drehte mich um und sah, wie er seinen ganzen Körper steif in meine Richtung gedreht hatte und den rechten Arm zum Hitlergruß ausstreckte. "Sieg Heil!", rief er mit breitem Grinsen. Die Gruppe um ihn herum, zum großen Teil meine Klassenkameraden aus dem Gymnasium, gaben sich nicht sonderlich viel Mühe, ihre Belustigung zu verbergen. Ich stieg kommentarlos auf mein Motorrad und fuhr nach Hause.

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