Wir werden die letzte Generation sein, die stirbt
Foto: Sara | Flick | CC BY-ND 2.0

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Popkultur

Wir werden die letzte Generation sein, die stirbt

Wenn Jesus 2016 gestorben wäre, wäre seine Wiederauferstehung nur eine kleine Nachricht.

Es dreht sich doch immer wieder um die alte Frage. Wie möchtest du in Erinnerung bleiben? Und wofür? Menschen werden zu dem, was sie hören, was sie lesen, was sie sehen, was sie bewundern und verehren, und zu dem, was sie abstößt. Die Idee der Unsterblichkeit—darauf sind wir alle gepolt, das ist unsere kulturelle Idee. Nicht vergessen zu werden.

Ich scrolle mich durch das Facebook-Profil einer verstorbenen Freundin. Würde man die zahlreichen Kondolenz-Beiträge, die sich jetzt im zweiten Jahr nach ihrem Tod häufen, nicht sehen, könnte man annehmen, dass sie immer noch so wach wie auf ihrem Profilbild ist. Da ihr Konto nicht in den „Gedenkzustand" versetzt wurde, ist sie ja gefühlt auch noch irgendwie am Leben. Zumindest im Internet.

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Während sie bis zum Schluss im Krankenhaus an Maschinen hing, sind es jetzt andere Maschinen, die sie am Leben halten. Auf mehreren Servern in Amerika und auf der ganzen Welt sind ihre Gedanken, Erinnerungen und Bilder gespeichert—für die, die danach suchen.

Irgendwann bleiben unsere digitalen Avatare einfach stehen. Auf der Facebook-Seite des kürzlich verstorbenen Guido Westerwelle steht als letzter Beitrag: „Gerne wäre ich heute Abend wie geplant zu Gast beim Jahresrückblick von Günther Jauch gewesen. Im Rahmen meiner Behandlung ist durch eine Medikamentenumstellung ein stationärer Aufenthalt noch einmal notwendig geworden. Daher kann ich heute Abend leider doch nicht dabei sein, aber die Gesundheit geht vor." Vier Tage später ist er tot. Wenn wir in naher Zukunft nach ihm suchen sollten, werden wir diesen Beitrag auffinden.

Auf dem Twitter-Profil des am 12. Juni 2015 verstorbenen FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher steht noch immer sein letzter Tweet vom 11. Juni. Der Inhalt: Sein ganz alltäglicher Job—er war Journalist.

Bilanz des Krieges gegen den Terror: Der Irak fällt in die Hände von Leuten, die selbst AlKaida zu extrem sind. — frankschirrmacher (@fr_schirrmacher)11. Juni 2014

Superstars wie David Bowie oder Lemmy Kilmister führen auch immer noch auf Facebook ihr aktives Unwesen—ihre Profile sind geführt von Plattenfirmen, die ihre Accounts betreuen. Aber nichts ist unheimlicher, als wenn sich ein verstorbener Freund auf Facebook plötzlich mit einer neuen Person befreundet—weil die Verwandten das Profil übernommen haben.

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Ein junger Fotograf, der auf Instagram einen typischen Account bespielt (Models, Selfies, Making-of-Fotos seiner Shootings), bekommt Krebs. Anstatt weiter sein Portfolio zu präsentieren, macht er den Prozess seiner Krankheit öffentlich. Er postet Fotos aus dem Krankenhaus, von der Chemotherapie und von den Maschinen um ihn herum. In der Beschreibung seines Accounts steht seitdem fortan: „Photographer and creative director based in New York City. Fighting cancer and losing. This Instagram is sooner or later a tomb stone."

Zu seinem letzten, veröffentlichten Video schreibt er, im Krankenbett liegend: „Fluid collecting around my heart. Cant breathe. Fluid in my right lung causing it to collapse."

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Wir werden in den nächsten Jahren nicht die Unsterblichkeit oder die Möglichkeit der Wiederauferstehung des Körpers erleben, aber jetzt gerade können wir schon erahnen, wie sich die Bedeutung von Sterben und Vergessen in den nächsten Jahrzehnten radikal ändern wird. Es ist klar, dass unser Körper durch digitale Technologie nicht am Leben erhalten werden kann, aber Menschen können Verstorbene über ihre Profile und Einträge im Netz immer noch als lebendige Personen erfahren. Die Daten bleiben in Bewegung. Und nie hat sich die aus der Science-Fiction kommende Kryonik, das Einfrieren des Körpers zum Präservieren über Jahre, mehr nach Oldschool angehört.

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Wie verändert unsere kontinuierliche Präsenz im Netz die Art, wie wir sterben? Eine Spekulation: Irgendwann wird es mehr tote als lebendige Menschen auf Facebook geben—allzu lange kann das nicht mehr dauern. Und auch wenn es Facebook oder Instagram irgendwann nicht mehr als Plattformen gibt, nehmen die Daten toter Menschen auf dem digitalen Friedhof jeden Tag massiv zu.

Wir schreiben, fotografieren, tippen und surfen jede Woche im Schnitt 40 Stunden an unserer eigenen Autobiografie. Unsere Enkel werden uns über das Internet kennenlernen. Und zwar von einer ganz anderen Seite, als man sonst seine Großeltern kennengelernt hat. Sie sehen unseren Alltag, worüber wir gelacht haben, welche Musik wir gut fanden und zu welchen Veranstaltungen wir gegangen sind.

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Früher mussten wir uns bewegen, wenn wir den Toten gedenken wollten: Zum Friedhof, in die Kirche oder an ein Mahnmal. Wir haben alte Fotobände durchgeblättert, um zu schauen, wer die Personen waren. Im Internet sind all diese Orte vereint und so verhält es sich auch mit der Zeit. So wie wir existieren auch die Toten noch in diesem Medium. So wie sie im Netz sind, sind wir es auch.

Der Autor und VICE-Kolumnist Douglas Coupland beschreibt in seinem Buch The Age of Earthquakes eine Szene in der Zukunft, in der wir einen sich bewegenden, digitalen Avatar mit unseren körperlichen Merkmalen ausgestattet haben, der uns nicht nur in unserem Alltag hilfreich ist, sondern uns auch stellvertretend vertritt. Er sieht so aus wie wir und dank der Massen an Daten, die wir jahrelang ins Netz gegeben haben, handelt und denkt er so wie wir. Irgendwann macht sich dieser Algorithmus selbstständig und lebt auch nach dem menschlichen Tod noch als unser Alter Ego weiter.

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Auch ohne die Fiktion des sich verselbständigenden Avatars sind wir den persönlichen Assistenten, die auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten sein sollen, gar nicht so fern. Der Moment in Spike Jonzes Film Her, in dem Theodore von der künstlichen Intelligenz Sam erfährt, dass sie neben ihm auch 641 andere Personen liebt, bekommt so für uns einen ganz neuen Twist. Denn in Her sind sich Algorithmus und Mensch zwar emotional nah, aber noch klar voneinander getrennt.

Das Internet sammelt jetzt schon die Daten der Wünsche, Sorgen und Gedanken, die wir täglich dort einspeisen. Was passiert, wenn wir die Algorithmen noch menschlicher machen, als in Her? Was passiert, wenn die Algorithmen sich immer weiter automatisieren?

Big Data ermöglicht es uns, uns frei von unserem Gedächtnis zu machen. Man muss sich nicht mehr erinnern, man kann ja alles googeln und sich von intelligenten Algorithmen zusammenstellen lassen. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass wir heute ganz anders vergessen als früher. Vielleicht vergessen wir in Zukunft nicht mehr, dass jemand existiert hat, aber vergessen dafür, dass die Person jemals fort gegangen ist. Die Frage, wo man gerade ist, wird extrem irrelevant werden. Das kann auch unseren menschlichen Drang nach Unsterblichkeit verändern.


Titelfoto: Sara | Flick | CC BY-ND 2.0