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Sex

2014 hat uns Tinder alle zu emotionalen Krüppeln gemacht

Auf Tinder versucht man, das zufällige Kennenlernen im echten Leben zu optimieren und den Zufall so gut wie möglich berechenbar zu machen. Dabei ist ein Kennenlernen im realen Leben doch so viel besser.
Chatfenster mit 2 Nachrichten ,,Hallo" ,,Sex?"
Foto: VICE Media

So ziemlich jeder, der Single ist oder zumindest trotz Beziehung eine gesunde Leidenschaft dafür hegt, andere Männlein und Weiblein wenigstens online zu bestaunen, um zu sehen, was es denn—natürlich—rein theoretisch noch so für Optionen gäbe, hat Tinder auf seinem Handy installiert. Wie man vor Tinder Menschen kennen gelernt hat, und dass manchmal auch ein bisschen Arbeit dahinter stecken kann, jemanden zu finden, mit dem man sich versteht, scheint jeder schon komplett vergessen zu haben. Man hat sich damals—ja, ich klinge absichtlich wie ein nostalgischer alter Sack—zufällig getroffen, sich gegenseitig für gut befunden, Blicke, Nummern und letzten Endes zumindest ein bisschen Körpersaft ausgetauscht.Wenn man jemanden zufällig trifft, weiß man vorher meistens nichts über die andere Person. Weder, wie viele gemeinsame Interessen und Freunde man hat, noch mit welcher Songzeile von Oasis der andere sein Leben beschreiben würde, um möglichst originell und nachdenklich zu wirken. Auf Tinder versuchen die Menschen jedoch, das zufällige Kennenlernen im echten Leben um die allseits beliebte sozialmediale Stalking-Komponente zu erweitern und den Zufall so gut es nur geht berechenbar zu machen.

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Auf Tinder gibt es zwei Typen von Menschen. Diejenigen, die denken, sie zeigen sich von ihrer besten Seite, indem sie die Auswahl ihrer schönsten Klo-Selfies online stellen, das passende Ghandi-Zitat zu ihrem Leben auswählen und ihre Körpergröße und ihre Lieblingssportart hinzufügen, um für andere möglichst attraktiv zu wirken. Dann gibt es noch diejenigen, die ein Bild von Füßen als Profilbild wählen und „I love female feet" darunter schreiben.

Egal, wie sich die Menschen präsentieren, die meisten von ihnen wollen doch nur das kurze Vergnügen—und das ist irgendwie auch völlig OK, solange man nicht so tut, als wäre es anders—und das tut sogar Tinder selbst, wenn sich das Unternehmen im App Store mit der schön klingenden Zeile „Es ist eine neue Art und Weise, dich selbst auszudrücken und Freunden mitzuteilen" präsentiert. Bitte Tinder, hör zumindest auf, so zu tun, als wärst du etwas anderes als eine Plattform für Menschen mit Samenstau.

Apps wie Tinder setzen alle „Regeln", die bisher beim Schließen von neuen Bekanntschaften galten, weitestgehend außer Kraft. Man muss nicht weiter höflich sein, freut sich nicht mehr, wenn man jemanden kennenlernt, weil es sowieso nichts Besonderes mehr ist und jede Person ist immer nur eines unter vielen—wahrscheinlich viel zu vielen—Matches und irgendwann weiß man nicht einmal mehr, ob man die nette Unterhaltung gestern mit Stefan oder Patrick geführt hat.

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So viele Möglichkeiten, wie man auf Tinder offenbar hat, gibt es im echten Leben hingegen schlicht und einfach nicht. Und weil einem diese Apps das aber trotzdem suggerieren, fängt man an, emotional ein bisschen zu verkrüppeln. Tinder will uns klar machen, dass wir unendlich viele Optionen haben—zumindest wenn unser Suchradius weit genug eingestellt ist—und dass das große Glück doch nur einen einfachen Klick weit entfernt ist, falls wir jemanden doch nicht für gut genug befunden haben, weil uns das eine Foto auf seinem Tinder-Account nicht so gut gefallen hat, wie wir anfangs dachten und er vielleicht dunkelblond statt brünett sein könnte. Ist es aber leider nicht.

Was feststeht, ist, dass es mittlerweile fast normal geworden ist, dass man sich die Suche nach den Menschen, die man in Zukunft vielleicht einmal lieben oder zumindest sehr gern mögen könnte, viel zu einfach vorstellt und dementsprechend den persönlichen Aufwand möglichst niedrig halten möchte. Man kann nicht einfach mit einem X oder einem Herz entscheiden, ob einem jemand sympathisch ist und man hat auch einfach nicht unendlich viele Optionen—oder zumindest nicht so viele, wie wir gerne hätten.

Weil aber trotzdem jeder denkt, dass wir im Land der unbegrenzten Sex- und Beziehungs-Möglichkeiten leben, gibt sich im echten Leben niemand mehr Mühe. Niemand bemüht sich um jemand anderen, auch wenn man sich vielleicht sogar ein bisschen mag. Meistens gibt es auf Tinder aber diejenigen Menschen sowieso nicht, die man wirklich kennen lernen möchte. Nach vielen Monaten auf Tinder kann ich persönlich nur eine äußerst traurige Bilanz ziehen.

Ich hatte unendlich viele Matches, habe mich mit zwei Typen getroffen, die beide wahnsinnig und sich für meinen Geschmack ihrer Sache eine Spur zu sicher waren und ich habe viele schreckliche Nachrichten bekommen, die mich ein wenig am Guten in der Welt oder zumindest in den Männern zweifeln lassen. Ja, Tinder ist für die meisten Menschen wahrscheinlich dazu da, um jemanden zum Ficken zu finden. Aber nicht jeder, der auf Tinder ist, sucht nur danach. Wenn ich Nachrichten wie „Kannst du schwimmen? Ich würde dich nämlich echt gerne mal ins Becken stoßen." oder „Lust auf ein Sexdate? glg" bekomme, frag ich mich ehrlich, was das soll. Wahrscheinlich verliert man unter dem berüchtigten Schleier der Internet-Anonymität einfach alle Hemmungen und seinen letzten Funken Anstand wenn es darum geht, jemanden anzusprechen.

Tut euch selbst einen Gefallen—wenn ihr Tinder schon nicht löschen wollt, schaut zumindest mal wieder vom Display hoch und testet eure „Skills" im echten Leben. Vielleicht verpasst ihr gerade in dem Moment, in dem ihr mit der Angst, das schöne Duckface-Mädchen mit dem Dirndl-Foto in eurer Nähe zu versäumen, auf Tinder hin und her wischt, die Chance, die Person zu bemerken, die gerade den Raum betreten hat.

Verena hat Tinder gelöscht und sucht jetzt auf Twitter nach der großen Liebe: @verenabgnr