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Warum es geiler ist, auf dem Land aufzuwachsen

Hier kann man den Rinderbraten noch beim Namen nennen und klärt Streitereien mit einer Runde Bier beim Schützenfest. Nehmt das, Stadtkinder!
Test

Ja, ich weiß: Viele der Stadtkinder unter euch werden jetzt aufschreien. Mistgabeln schwingende Halbmenschen aus der Provinz sind schließlich einfältig, haben keine Chance im Alltag der Großstadt zu bestehen und nur wer zwischen Beton und U-Bahnsklo aufgewachsen ist, ist reif für die Realität da draussen. Zu Recht, wer kennt sie nicht, die Holzschuhe tragenden Hinterwäldler, die in unregelmäßigen Abständen in Wien einfallen, um ein bisschen Zivilisation in Form von Frappuccinos und H&M-Shirts zu erbeuten?

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Foto: Jermain Raffington

Aber, und diese Frage muss erlaubt sein: Ist es wirklich so viel schlimmer, zwischen Kühen aufzuwachsen, statt permanent von vollgekoksten Medienmenschen umgeben zu sein? Welche Vorteile es haben kann, in der viel gefürchteten Einöde fernab der Stadt aufzuwachsen, hat euch ein echtes Dorfkind im Folgenden zusammengefasst:

Tiere

Foto: Danel Solabarrieta | Flickr | CC BY-SA 2.0

Klar, wahrscheinlich gibt es kein einziges Stadtkind mehr da draußen, dass wirklich überrascht ist, dass die Milch in der Schokolade nicht von lila-weiße Milka-Kühen kommt. Aber weißt du, wie ein Wiedehopf aussieht? Hat dein Opa dich mit geschultertem Gewehr durch den Wald gejagt und Sonntag für Sonntag Tier-AA lesen lassen? Vielleicht nicht und das ist auch nicht schlimm. Trotzdem ist es wichtig zu wissen, dass man sich als Tierliebhaber auf dem Land lieber ein dickes Fell zulegen sollte. Wer Kälbchen streicheln will, muss auch ertragen können, wenn sie wenig später geschlachtet werden.

Eines schönen Sommertages in den späten 90ern habe ich mit meinen Kumpels dem Bauern beim Heu machen geholfen. Abends beim Heimfahren ist uns ein Reh vor den Traktor gelaufen. Natürlich war das Reh nicht tot, niemand stirbt, wenn er mit 10 km/h angefahren wird. Aber es war so schwer verletzt, dass der Bauer vom Traktor gesprungen ist und es fachmännisch mit der Sense ins Jenseits befördert hat. Ihr könnt euch denken, was es am Wochenende zu Essen gab. Meine Freunde und ich wissen seitdem mehr über die inneren Organe von Bambis Mama, als uns lieb ist.

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„Straftaten"

Schwarzfahren? Einbruch ins Schwimmbad? Ladendiebstahl? Kein Problem! Im Idealfall ist der Busfahrer und Bademeister dein Onkel und der Polizist schuldet deinem Vater garantiert noch ein Bier vom letzten Schützenfest. Wächst du auf dem Land auf, wirst du automatisch Freund der subtilen Problembehandlung. Diese zwischenmenschliche Nähe bedeutet andererseits aber auch, dass keine deiner jugendlichen Sexeskapaden unbemerkt bleiben. Oder, um es mit Leo Tolstoj zu sagen: „Wenn man auf dem Lande lebt, weiß man, ob man will oder nicht, alles, was ringsum vor sich geht." Wenn die Omi von nebenan dir sagt, dass die „Bumm-Bumm Musik" mal wieder zu laut ist, bedeutet das für dich: Zieh die Schrauben in deinem Bett nach und schalte einen Gang runter.

Ernährung

Wenn der Winter mal wieder länger dauert und sich einsame Städter auf's Land verirren, werden sie gnadenlos gejagt und vernascht? Goldrichtig, es gibt sogar einen Film darüber. Wenn allerdings Sommer ist so wie jetzt, kommt meistens Oma vorbei und zeigt dir wie man aus Innereien und ein paar Sträuchern das epischste Gericht südlich des Nordpolarmeeres zaubert. Da du von ihr weisst, wie man das magische Spiel der Pfannen und Töpfe spielt, kannst du auch bei deinem ersten Date mit einem Stadtkind beeindrucken. Das Dorf freut sich, endlich frischer Wind im Genpool! Wer auf dem Land lebt, braucht auch keine überteuerten Biomärkte oder muss sich auf dem sonntäglichen Markt im Szeneviertel um den knackigsten Salatkopf prügeln. Hier pflückt man das Obst noch selbst vom Baum oder weiß, wie der Rinderbraten zu Lebzeiten hieß.

Schützenfest

Foto: Götz A. Primke | Flickr | CC BY-SA 2.0

Mein erstes Mal war laut, verschwitzt und es tat weh. Wovon ich rede? Wenn einmal im Jahr alle Alltäglichkeiten einem Strudel aus Bier, Paukenschlägen und Gewehrdonnern erliegen, dann ist Schützenfest! Dort schlägt das Herz eines jeden Dorfbewohners höher. Sex ist nie einfacher zu haben, Differenzen werden in Schnaps aufgelöst und dank der kurzen Distanzen, ist man auch ohne öffentliche Verkehrsmittel nach ca. zwei Mal Hinfallen zu Hause. Während der Dorfplatz sonst eher einer ausgestorbenen Westernkulisse (Tumbleweed inklusive) gleicht, wird jetzt stärker socialized und gegrabscht als auf jedem Ball. Pädagogisch wertvoll sind hier vor allem die Gespräche am Rande des Sprachverlustes. Auch non- verbale Kommunikation wurde quasi hier erfunden (um ein neues Glas Bier zu bestellen, wirft man das Leere). Und wenn jede Unterhaltung fehlschlägt und man sich doch prügeln will, ist das auch absolut OK. Danach gibt man sich die Hand und säuft die Reste.

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Allergien

Deine Eltern haben sich entschieden, dich in einem dampfenden Moloch aufwachsen zu lassen, wo statt frischer Luft eher eine Mischung aus Abgasen und Kanalisation vorherrscht? Das klingt nicht nur wahnsinnig eklig, sondern hat auch ganz konkrete Nachteile. Wenn dann nämlich doch mal ein warmer Wind mit Pollen vom Land her weht, bist du am Arsch, denn du hast höchstwahrscheinlich eine Allergie. Herzlichen Glückwunsch.

Wenn man die Zeit bis zur Volljährigkeit auf dem Land verbringt, ist die Gefahr, zu wenig abgehärtet zu sein, praktisch nicht-existent. Um ein—zugegenermaßen ziemlich verstörendes—Beispiel zu nennen: Ein Kumpel hat mal aus Mitleid einer kranken Taube den Kopf abgerissen. Mit. Den. Zähnen. Danach sah es aus, als wäre er auf dem Weg zum Twilight-Casting und die Taube längst in den ewigen Jagdgründen. Abgesehen davon, dass Ozzy Osbourne völlig ausgeflippt wäre, ist es bemerkenswert, dass mein Kumpel diese Aktion überlebt hat. Ungeimpft! Nimm das, Schulmedizin.

Deine Freunde sind Bauern

Wer schonmal die Kinder von Bullerbü, Die Kinder vom Alstertal, Michel aus Lönneberga oder einfach nur Heidi gesehen hat, weiss: Kinder und Bauernhöfe passen ziemlich gut zusammen. Wenn du in der Nähe von einem aufwächst, ist meistens einer der zukünftigen Landwirte in deinem Alter. Wenn dir also latenter Gülle-Gestank, Bauernweisheiten und der Anblick riesiger Zuchteberhoden nichts ausmacht—voilà, du hast direkten Zugang zum besten Abenteuerspielplatz überhaupt! Durch diese Freundschaft lernst du Traktor fahren, wie Milch wirklich schmeckt wenn sie direkt aus der Kuh kommt (Spoiler: warm & fettig) und was es heißt, ein Rind zu belegen. Vielleicht gibt es sogar Ponys und ihr könnt standesgemäß Cowboy oder Indianer spielen, ohne (wie Stadtkinder) nahezu alles eurer Fantasie überlassen zu müssen.

Besoffen Auto fahren

Bei weitem der Großteil meiner Freunde ist schon mehr als einmal völlig steif aus der Kneipe und in sein Auto gefallen. Keine gute Idee, deine Dorfkumpels werden aber nicht versuchen, dich vom Fahren abzuhalten. Sie wissen, dass du vom Dorf kommst und dir von diesen Bauern verdammt nochmal nichts sagen lässt. Neben allen offensichtlichen Nachteilen (Gefährdung von Mensch und Tier, Zerstörung der Vegetation, Tod) kann sich das allerdings auch positiv auf dein Standing in der Dorfgemeinschaft auswirken. Hier werden „wahre Kerle" nämlich noch dafür gefeiert, dass sie komplett hirnrissige Dinge tun.

Beispiel gefällig: Nach 5-10 Stunden gnadenlosen Saufen im Dorfbeisl, in der wahrscheinlich schon dein Uropa seine besten Trinksprüche gegrölt hat (z.B. „Leber duck dich, es kommt einer!"), trübt sich deine Sicht. Wenn du es jetzt schaffst, deine abwesende Hand-Augen- Koordination zu ignorieren und das Auto zu starten—Mordsleistung, auf dem nächsten Schützenfest ist dir ein Tusch sicher! Je nachdem welche Tageszeit gerade ist, sind die Straßen außerdem ziemlich leer (außer es ist Schützenfest). Du kannst also beruhigt ein paar Leitpfosten mitnehmen oder mitten im Wald anhalten und mit den Bäumen reden. Hauptsache, du verletzt weder dich noch andere.

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Die Landschaft

Foto: Olli Henze | Flickr | CC BY-ND 2.0

Der vielleicht ebenso offensichtlichste wie überzeugendste Punkt. Nüchternheit, ferner Horizont, Zeit zum Nachdenken. Das weite Land, das zwischen unseren Großstädten liegt, bietet viel Perspektive, um über die Kernfragen des Lebens zu philosophieren und das Getreide anzupflanzen, aus dem dein morgendlicher Toast besteht, den du mit Blick auf den Gemeindebau verschlingst. Ob Schiller an den Neckarwiesen oder die Ludolfs im Westerwald, das Aufwachsen im Grünen hat noch keinem großen Geist geschadet.

Du wolltest schon immer wie in Signs durchs Kornfeld laufen oder einfach einen Baum fällen? Daily Business, ein kleiner Indiana Jones steckt in jedem Kind vom Lande. Hier ist auch der Ort, wo du deine tagelangen Drogenexzesse mal so richtig auskurieren und dich Kafka und Foucault widmen kannst. Wenn dir der Ernst des Lebens dann doch mal zu Nahe kommt, kannst du immer noch in die nächste Großstadt fahren und Urlaub auf Keta machen.