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Aus dem Alltag einer Gefängnisärztin

"Aus einem unerfindlichen Grund ist das Untersuchungszimmer so entworfen, dass die Häftlinge zwischen mir und dem roten Panik-Knopf sitzen."
Illustration von Dola Sun

Ich habe in meinem Leben schon viele Handverletzungen gesehen. Verstauchte Finger, Hämatome und Schwellungen—und alles umgeben von einer ungeheuren Vielfalt an Tattoos.

Die Verletzungen von Häftlingen haben unweigerlich etwas mit Wut zu tun: Sie können sich die Kaution nicht leisten, ihr Gerichtstermin wurde verschoben, ihre Familie hebt nicht ab, wenn sie anrufen. Also schlagen sie gegen eine Wand, oder gegen die Stahltüren ihrer Zellen. Manchmal schlagen sie auch einander. (Zufällig kommen Gesichtsverletzungen auch ziemlich häufig vor.)

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Doch Handverletzungen sind einfach. Ein Röntgenbild, eine Bandage, etwas Ibuprofen und der Häftling darf wieder von dannen ziehen.

Als Notfallärztin in einem städtischen Jail in den USA (Jails sind Gefängnisse für Untersuchungshaft und kurze Haftstrafen) habe ich Folgendes gelernt: Es gibt sehr viele kleine Traumata. Die fettige Gefängniskost ruft viel Säurereflux hervor und die Betonklötze, die hier als Betten durchgehen, verschlimmern so manches Rückenleiden. Es gibt Angst- und Stressgefühle, die sich als Brustschmerzen tarnen, unkontrollierte Blutzuckerspiegel bei Diabetikern des Typs 2, und Hautinfektionen, die sich zu Abszessen entwickeln.

All das sind weit verbreitete Probleme. Und letzten Endes sind sie auch einfach zu lösen.

Ich dachte, bei Jay würde es auch einfach sein.

Einige Tage vor seinem Termin bei mir, war Jay in eine Notaufnahme gestolpert, vorübergehend wahnsinnig von einem Cocktail illegaler Aufputsch- und Beruhigungsmittel. Laut seinen Krankenhauspapieren konnte er ein paar Stunden lang entgiften, bevor man ihn hierher brachte. Und die Gefängnisvorschriften—es gibt für alles eine Vorschrift—schreiben vor, dass ein Arzt oder eine Ärztin jeden Häftling untersuchen muss, der in der letzten Zeit ins Krankenhaus eingewiesen wurde.

Ich hatte auf einen einfachen Termin gehofft. Meine Schicht war fast vorbei und nach Jay standen noch acht weitere Patienten auf meiner Liste. Seine Akte enthielt Dutzende kurze Haftstrafen aus den letzten Jahren. Ich überflog sie kurz und bat dann einen Beamten, ihn zu mir zu rufen. Häftlinge, die nicht gewalttätig sind, dürfen sich relativ frei durch die Korridore bewegen, also sollte Jay ohne Eskorte aus seinem Block kommen.

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Als er eintrat, sah er kleinlaut aus. Er setzte sich auf den harten Plastikstuhl vor mir, verschränkte die Arme und schaute auf seine Füße. Wie viele meiner Patienten war er ein junger schwarzer Mann im grünen Overall und grellorangen Sandalen. Beamte in schwarzen Uniformen durchquerten hinter ihm die Gänge. Aus einem unerfindlichen Grund ist das Untersuchungszimmer so entworfen, dass die Häftlinge zwischen mir und der offenen Tür—und damit auch zwischen mir und dem roten Panik-Knopf—sitzen. Allerdings habe ich noch nie das Bedürfnis gehabt, den Knopf zu drücken.

"Hi, Jay. Ich bin Dr. Moore. Es sieht aus, als seien Sie vor Kurzem im Krankenhaus gewesen. Wie geht es Ihnen jetzt?"

"Nicht gut", sagte er leise, obwohl er gesund aussah. Sauber, die Augen klar, keine sichtbaren Entzugssymptome oder Male von den Drogen, die er anscheinend in den Tagen zuvor verzehrt und injiziert hatte.

"Warum nicht?"

"Ich sitze im Gefängnis."

Ich habe es hier schon mit vielen Sprücheklopfern zu tun gehabt. "Aber was ist im Krankenhaus passiert? Haben Sie sich davon wieder erholt?"

"Wissen Sie, ich war total neben der Spur. Ich erinnere mich an das meiste gar nicht mehr."

Obwohl das Krankenhaus keinen Drogentest durchgeführt hatte, hatte Jay dem Personal dort gestanden, dass er Crystal Meth und Heroin konsumiert habe. "Ich bin dort hin, um clean zu werden", fuhr er fort und sah zu mir auf. "Ich bin schon so lange fertig. Ich wollte einfach nur, dass sie mich auf Entzug schicken."

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"Ich hab' die Polizisten angefleht, mich nicht zu durchsuchen. Ich hab' sie angefleht, die Drogen einfach zu ignorieren. Lasst mich doch einfach Entzug machen, Mann."

"Wissen Sie, wann Sie hier rauskommen?" Vielleicht musste er nur über Nacht bleiben, oder hatte sich vielleicht einen kleinen Verstoß gegen seine Bewährungsauflagen geleistet. Vielleicht würden sie ihn bald freilassen.

"Wer weiß. Ich glaube, ich muss ins richtige Gefängnis."

Wenn Jay einfach nur desorientiert und berauscht in der Notaufnahme aufgetaucht wäre, dann wäre es das Ende vom Lied gewesen. Da er allerdings noch seine restlichen Drogen in der Tasche gehabt hatte, wurde die Polizei eingeschaltet.

"Ich hab' die Polizisten angefleht, mich nicht zu durchsuchen. Ich hab' sie angefleht, die Drogen einfach zu ignorieren. Lasst mich doch einfach Entzug machen, Mann." Jay wirkte nicht wütend oder traurig. Er hatte stattdessen etwas Zerknirschtes und Resigniertes an sich, das ich schon unzählige Male in anderen Gesichtern gesehen hatte.

Während meiner Weiterbildungsphase bin ich einen Monat lang mit den Ärzten eines berüchtigten Hochsicherheitsgefängnisses in Colorado mitgelaufen. Ein weißer Rassist dort hatte einen ähnlichen Gesichtsausdruck. Er hatte WHITE POWER auf die Stirn tätowiert, seine Akte strotzte vor Gewaltdelikten und er selbst war von zahllosen Dämonen verfolgt, denen er nicht glaubte, entkommen zu können. Als ich ihm begegnete, stand er kurz vor der Entlassung, und er sagte mir durch eine Glasscheibe, er habe vor, den Rest seines Lebens in einer Hütte in den Bergen zu verbringen. Er hatte die Dämonen akzeptiert und beschlossen, dementsprechend zu leben.

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Ich wünschte mir, dass Jay zitternd vor Heroin-Entzugserscheinungen bei mir aufgetaucht wäre. Das war etwas, das ich behandeln konnte: etwas Hydroxyzin, ein wenig Clonidin, eine Tasse Gatorade. Einfach.

"Sie werden Ihre Medicaid-Versicherung [für Einkommensschwache] verlieren, während Sie hier drin sind", sagte ich ihm. "Sie müssen sich neu versichern, sobald sie rauskommen. Sie müssen sich einen Arzt suchen. Der kann Ihnen helfen, in ein Entzugsprogramm zu kommen."

Neben meinem Job im Gefängnis arbeite ich auch noch als Hausärztin in einer Hilfsklinik, neben Sozialarbeiterinnen, Sachbearbeitern, Patientenberatern und Psychologen. Ich habe schon einige Patienten mit Suchtproblemen gehabt und sie manchmal auch erfolgreich an Entzugsprogramme vermittelt. Doch all diese Ressourcen sind im Gefängnis knapp bemessen und es gibt keine medikamentöse Therapie—nur Entgiftung.

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Ich warf einen Blick auf Jays Krankenhausakte, in der seine Diagnosen und Medikamente aufgelistet waren. "Sieht aus, als hätten Sie keine Krankengeschichte angegeben", sagte ich. "Haben Sie irgendwelche Gesundheitsprobleme?"

"Ich sage es Ihnen, aber bitte bringen Sie mich nicht dazu, Ihnen später einen Antrag für sieben Dollar zu schicken, um nochmal drüber zu reden", sagte er. Die Gesundheitsversorgung im Gefängnis mag in der Verfassung verankert sein, doch jede neue Terminanfrage kostet den Häftling sieben Dollar. "Ich hab' Bluthochdruck. Als ich die letzten Male hier war, haben sie mir Wassertabletten gegeben."

Ich stand auf und maß seinen Blutdruck, der erhöht war. Die meisten Häftlinge haben Bluthochdruck. Einfach.

"Kann ich bitte auch salzarme Mahlzeiten bekommen?", fragte er. "Ich kriege immer salzarmes Essen, wenn ich hier bin." Ich schrieb die Anweisung in seine Akte. Hydrochlorothiazid, tägliches Blutdruckmessen, natriumarme Kost. Er stand auf und dankte mir beim Rausgehen leise.

Dabei war es das Mindeste, was ich tun konnte. Und mehr konnte ich tatsächlich nicht für ihn tun. Alles ganz einfach, schätze ich.

Dr. Alia Moore ist Allgemeinärztin im US-Bundesstaat Colorado. Sie hat acht Monate lang in einem städtischen Jail gearbeitet und ist in Teilzeit in einem „Safety Net Hospital", einem Krankenhaus für Zahlungsschwache und Unversicherte, tätig. Ihre Forschungsarbeit konzentriert sich auf die Kontinuität der Gesundheitsversorgung bei Männern und Frauen, die aus der Haft entlassen wurden.