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Wie es ist, in der Schweiz Opfer eines Raubüberfalls zu sein

"Da standen wir nun: Er, der mit einer Waffe herumfuchtelte und 'Money! Money!' schrie und wir, die uns in einer Schockstarre befanden."
Foto von Geoffrey Fairchild

Eine besorgte Miene, ein entsetztes Kopfschütteln oder ein trauriger Blick. Mehr haben wir für unseren Fernseher nicht übrig, wenn in den Nachrichten wieder einmal über einen Raubüberfall an einer Tankstelle oder in einem Supermarkt berichtet wird. "Mir wird das eh nicht passieren" ist das, was uns in einem solchen Moment durch den Kopf geht. Wir können gar nichts dafür, denn Opfer eines Raubüberfalls in einem der sichersten Länder der Welt zu werden, ist mehr oder weniger die beschissene Version von einem 6er im Lotto.

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Aber nicht umsonst lehrt uns das Universum, dass auch das unwahrscheinlichste Szenario hin und wieder eintreten kann und wird. So geschehen bei einer weit entfernten Bekannten von mir, die sich nicht scheute mir zu erzählen, was es für ein Gefühl ist, überfallen zu werden und wieso sie das Ganze zu Anfang für einen Witz hielt:

Dieser Tag fing an wie jeder andere Mittwoch auch. Ich kam zur Arbeit, setzte mich an meine Kasse und scannte die Produkte der Kunden. Dann räumte ich das Gemüse ein, verteilte die 50 Prozent-Sticker und backte zwischendurch Brot. Jeden Tag die gleiche Scheisse eben.

Der Laden an sich ist nicht wirklich gross. Im Vergleich zu einem Supermarkt in einer Grosstadt könnte man ihn wahrscheinlich winzig nennen. Er liegt ein bisschen abgelegen, ausserhalb von einer kleineren Schweizer Stadt, weswegen nur Kunden kommen, die mobil unterwegs sind oder hier in der Nähe wohnen. Kommt man herein, sind die Kassen das erste, was einem ins Auge fällt, weil sie direkt vor dem Eingang ausgelegt sind. Daneben befindet die Gemüseabteilung die sich nach ein paar Schritten geradeaus in den Kühler (auch genannt Molki) verwandelt. Dann wäre da noch Fleisch, Alkohol und das ganze Zeug, welches man Jahrzehnte halten kann wie Pasta und Dosenravioli.

Nach anstrengenden 8.5 Stunden konnten ich und meine Mitarbeiterin mit einem Seufzer der Erleichterungen und einem Hauch von Wochenendvorfreude den Laden schliessen. Da wir nur noch zu zweit waren, wollten wir so schnell wie möglich dicht machen, um den Abend mit einer genüsslichen Flasche Bier ausklingen lassen.

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Als wir schliesslich das Büro aufgeräumt hatten und den Laden durch den Eingang bei der Laderampe verlassen wollten, stand da plötzlich jemand. Er war weiss, etwa 1.80 Meter gross, trug eine rote Jacke, hatte pechschwarzes Haar und strahlend hellblaue Augen. Sein Gesicht konnte ich nicht genau erkennen, da er sich einen Schal oder etwas Ähnliches über die Nase gezogen hatte.

Als ich den Mann entdeckte, musste ich lachen. Ich dachte, das sei ein Scherz. Es hätte auch ein Freund meiner Mitarbeiterin sein können, der uns verarschen wollte. Sie dachte anscheinend das Gleiche und schmunzelte ebenfalls vor sich hin. Dann ging alles plötzlich ganz schnell: Er zog seine Waffe und schubste uns durch die Tür zurück in den Laden. Taschen und Handys fielen uns aus den Händen.

Da standen wir nun: Er, der mit einer Waffe herumfuchtelte und "Money, money" schrie und wir, die uns in einer Schockstarre befanden. In so einem Moment geht einem einiges durch den Kopf: "Was mache ich jetzt? Was, wenn er uns etwas antut? Wie soll ich mich verhalten, damit das nicht passiert?"

Aus ihrer Trance herausgerissen, lief meine Mitarbeiterin Richtung Büro, wo sich der Tresor mit den täglichen Einnahmen befindet. Da kam mir plötzlich in den Sinn, dass sobald jemand das Büro betritt, automatisch der Alarm ausgelöst wird. Deswegen lief ich routinemässig zum Schaltkasten und wollte ihn abstellen. Natürlich verstand der Herr Einbrecher nicht, was ich da tue und dachte, ich wolle den Alarm auslösen. Er nahm seine Waffe, hielt sie mir mit einem Abstand von etwa zwei Millimeter an den Kopf und schrie mit rauer Stimme, dass er mich ohne zu zögern umbringe, wenn ich auch nur eine falsche Bewegung machen würde. Wie will man bitte einem aggressiven Einbrecher der gebrochen Englisch spricht, erklären, dass man nur den Scheiss Alarm abstellen möchte um einen grössere Eskalation zu vermeiden?

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Zum Glück kam gerade meine Mitarbeiterin wieder zurück und machte ein Geräusch, das wohl einen Alarm nachahmen sollte: "Biiiba Biiiba". So langsam schien er zu begreifen, was wir vorhatten und liess uns gewähren. Er hatte immer noch seine Waffe auf uns gerichtet, wir gingen ins Büro. Je länger er uns gefangen hielt, desto wütender wurde ich. Und als ich schliesslich die 15.000 Franken aus dem Tresor geholt hatte, bin ich ausgerastet. Ich schmiss ihm die Tasche vor die Füsse und schrie: "Friss."

Meine Freundin geriet natürlich sofort in Panik und versuchte, mich zu beruhigen. Zu diesem Zeitpunkt wurde mir erst richtig bewusst: Wir stecken da beide mit drin. Sie hat zwei kleine Kinder und ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass diese Knirpse ihre Mutter nie wieder sehen. Also beruhigte ich mich wieder.

Foto von Pixabay

Nachdem er das Geld hatte, stellte er uns im Büro mit dem Gesicht zur Wand auf und tastete uns ab. In diesem Moment dachte ich: "OK, jetzt ist es vorbei mit uns." Er hatte schliesslich alles, was er von uns brauchte. Aber er tat uns nichts. Er ging zur Tür und sagte, wenn wir in den nächsten 20 Minuten rausgehen, würde er eine Bombe platzen lassen. Er zeigte uns eine in Küchenpapier eingerollte Handgranate und lief davon.

Ich habe diesen Mann noch nie zuvor gesehen, aber meine Mitarbeiterin hat gesagt, sie kenne diese Augen. Wahrscheinlich war er einige Male hier, um unser Verhalten zu beobachten und den perfekten Zeitpunkt für seinen Angriff zu ermitteln. Wie auch immer. Sobald er weg war, brach meine Mitarbeiterin zusammen. Sie war total aufgelöst und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich konnte es einfach nicht glauben, dass ein Mensch zwei jungen Frauen so etwas antun konnte. Ich konnte es einfach nicht verstehen.

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Im Gegensatz zu meiner Mitarbeiterin war ich jedoch ganz ruhig. Ich konnte weder etwas sagen noch konnte ich weinen. Ich war einfach unter Schock. Man hört ja immer wieder von Raubüberfällen an Tankstellen. Aber es kam seit Jahren nicht mehr vor, dass ein solch grosser Supermarkt wie unserer überfallen wurde. Erst recht nicht mit Waffe und Handgranate.

Schliesslich versuchte ich, die Polizei zu kontaktieren. Besetzt. Na toll. Ich rief eine andere Mitarbeiterin an, um mir die Nummer der Chefin geben zu lassen. Geschlagene fünf Minuten musste ich sie davon überzeugen, dass das kein Scherz ist und dass wir wirklich überfallen wurden. Weil wir unsere Taschen ja am Eingang haben fallen lassen, hatte ich nichts mehr bei mir und nach draussen gewagt haben wir uns auch nicht. Vielleicht schlich er ja noch irgendwo umher.


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Nachdem wir die Polizei endlich erreichen konnten, wollten wir die Lage abchecken. Wir gingen also raus und bewaffneten uns mit Brotmessern—nur für alle Fälle. Zum Glück war der Einbrecher nicht mehr da, unsere Taschen und Handys aber schon.

Innerhalb von fünf Minuten war die Polizei vor Ort und machte das, was Polizisten eben so tun: Zeugen befragen, Protokolle aufnehmen, Tatorte sichern. Als wir für das Protokoll wieder den Raum betreten mussten, kam in mir alles hoch. Ich glaube, sich daran erinnern zu müssen, ist viel schlimmer, als das Erlebnis an sich. Denn der wirklich schlimme Teil fängt erst an, wenn alles vorbei ist.

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Kurz nach dem Raubüberfall entwickelten ich und meine Mitarbeiterin sogenannte Zwangsstörungen. Sie muss zum Beispiel immer alle Türen in einem Zimmer abschliessen, weil er uns durch eine offene Tür in den Laden gestossen hatte. Bei mir ist es ähnlich. Zu Anfang hatte ich Angst vor Türen. Und ich zuckte immer zusammen, wenn ich einen Mann in einer roten Jacke sah. Das hat sich mit der Zeit aber gebessert.

Seit einer Woche besuche ich die Opferhilfe, was mir sehr gut tut. Meine Beraterin war schockiert, dass ich in so einer heiklen Situation so ruhig geblieben bin, ja sogar den Kriminellen angeschnauzt habe. Sie meinte, ich solle mich doch bei einem Psychiater melden, weil so ein Verhalten nicht normal sei. Mein Psychiater erklärte mir dann, dass ich an einer posttraumatischne Belastungsstörung leiden würde und es besser wäre, wenn ich einige Wochen nicht zur Arbeit gehen würde. Ausserdem befände ich mich am Anfang eines Burnouts, weswegen er mir das Beruhigungsmittel Temesta verschrieb.

Seit diesem Vorfall sind wir abends immer mindestens zu dritt. Und wir haben jetzt einen Securitas, der jeden Abend vorbei kommt und wartet, bis der Laden geschlossen ist. Erst wenn wir sicher auf dem Nachhause-Weg sind, darf auch er nach Hause gehen.

Sascha auf Twitter: @saschulius
VICE Schweiz auf Twitter: @ViceSwitzerland


Titelbild von Geoffrey Fairchild | Flickr | CC BY 2.0