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Diese NGO hilft Schwerbehinderten, zum Orgasmus zu kommen

Und wollen darauf aufmerksam machen, dass behinderte Menschen oft entsexualisiert gesehen werden, natürlich aber die gleichen Bedürfnisse haben wie jeder Andere auch.
Hände

Andy leidet an Muskelschwund und lebt bei seinen Eltern im Süden Taiwans. Wegen seiner schweren körperlichen Behinderung wurde er zu Hause unterrichtet und konnte nie das Haus alleine verlassen—demnach hat er auch nie die Chance gehabt, ein aktives Sozialleben oder eine Liebesbeziehung aufzubauen.

Als die taiwanische NGO „Hand Angel"—eine Organisation, die sich für die sexuellen Rechte von behinderten Menschen einsetzt—zum ersten Mal mit Andy sprach, wurde schnell klar, dass es dem jungen Mann so auch nie möglich gewesen war, eine offene Unterhaltung über seine Sexualität zu führen. Für einen jungen Schwulen, der mit seinen Eltern nicht über seine Gefühle reden will, sind das nicht gerade förderliche Umstände.

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Mitglieder von Hand Angel heben Andy aus seinem Rollstuhl ins Bett. Fotos: bereitgestellt von Hand Angel

Über einen Zeitraum von mehreren Monaten haben Mitglieder der NGO Andy deshalb online beraten und ihm so dabei geholfen, seine eigene Sexualität und seinen Platz in der Welt zu verstehen. Im nächsten Schritt „schmuggelten" sie ihn dann aus seinem Zuhause in ein Motel, um ihm zu einem Orgasmus zu verhelfen.

Taiwan—offiziell auch als Republik China bekannt—hat eines der weltweit besten Gesundheitssysteme: Millionen behinderte Bürger erhalten dort mit die beste medizinische Betreuung, die es gibt—von Langzeitpflege bis hin zu traditioneller Kräutermedizin ist alles dabei. Was diesen Menschen trotz des Systems jedoch verwehrt bleibt, ist jegliche Hilfe, wenn es um etwas intimere Probleme (genauer gesagt um Orgasmen) geht.

Aus diesem Grund hat eine Gruppe von Sozialaktivisten und Freiwilligen die Dinge selbst in die Hand genommen und Hand Angel gegründet—eine NGO, die sich darauf spezialisiert hat, Schwerbehinderten bei der Selbstbefriedigung zu helfen. Die Mitglieder sagen, dass ihre Arbeit darauf aufmerksam macht, dass behinderte Menschen oft als entsexualisiert dargestellt werden und ihre Sexualität ständig vernachlässigt wird. Die Wahrheit ist jedoch, dass sie die gleichen Wünsche und Bedürfnisse haben wie andere Menschen auch.

In den Niederlanden werden durch das nationale Gesundheitssystem öffentliche Gelder bereitgestellt, mit denen es behinderten Menschen ermöglicht wird, bis zu 12 Mal im Jahr sexuelle Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. In Taiwan bleibt Sex jedoch auch weiterhin ein Tabuthema und einige Buddhisten glauben, dass ein Mensch mit Behinderung für die schlechten Taten seines vorherigen Lebens bezahlen muss. Nicht gerade die besten Aussichten für Leute wie Andy.

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„Ich kann meinen Eltern nichts von meinen sexuellen Bedürfnissen erzählen und mich vor ihnen auch nicht outen", erzählte er mir. „Die Fürsorge meiner Familie setzt mich sehr unter Druck und hält mich davon ab, eine normale Liebesbeziehung einzugehen."

Vincent, der 50 Jahre alte Gründer von Hard Angel, verlor beide Beine durch eine Polio-Erkrankung und sagt, dass seine Behinderung ihm ermöglicht, die Bedürfnisse der Bewerber besser zu verstehen und dabei nicht so bevormundend zu wirken, wie es behinderte Menschen vielleicht von Anderen gewohnt sind. Er betont: „Behinderte haben die gleichen körperlichen und emotionalen Bedürfnisse wie jeder andere Mensch auch. Deswegen sollten sie auch das Recht haben, diesen Bedürfnissen nachzugehen."

Um festzustellen, wer ihren Service in Anspruch nehmen kann, überprüfen die Mitglieder von Hand Angel zuerst den Behinderungsgrad eines Bewerbers. Die Person muss eine staatliche Anerkennung der körperlichen Beeinträchtigung vorweisen können und darf nicht geistig behindert sein. Wenn ein Bewerber erstmal aufgenommen wird, dann muss er für den sexuellen Service nichts bezahlen—kann ihn aber insgesamt auch nur drei Mal in Anspruch nehmen.

Die zehn für die eigentliche Befriedigung verantwortlichen Freiwilligen sind bunt gemischt: einige sind homosexuell, andere hetero, einige sind selbst behindert, andere Doktoranden, einige sind Sozialaktivisten, andere in der Medienbranche tätig. Mir wurde mehrmals deutlich mitgeteilt, dass die Freiwilligen bei ihrem Service wirklich nur die Hände einsetzen—Umarmungen, Liebkosungen und Küsse aufs Gesicht sind in Ordnung, aber alles, was mit Penetration zu tun hat (Fingern, Oralsex, vaginaler Sex und Analsex), geht zu weit.

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Die Hände von Hand Angel

Nachdem Andy von Hand Angel in das Motel gebracht worden war, liebkoste der Helfer ihn und holte ihm dann einen runter. Andy beschrieb die Intimität als so intensiv, dass er für einen kurzen Moment sogar dachte, verliebt zu sein. Natürlich war ihm auch bewusst, dass das Ganze nicht ewig andauern würde, aber durch diese Erfahrung konnte er eine emotionale Bindung erleben, die er so vorher nicht gekannt hatte.

Genau das gehört auch zur Mission von Hand Angel: Die Organisation will nicht nur einen sexuellen Service anbieten, sondern bei den Bewerbern auch eine emotionale und soziale Veränderung bewirken.

„Andy war am Anfang noch sehr verschlossen und wusste nicht wirklich, wie man mit anderen Leuten interagiert", erzählte mir Vincent. „Bei den monatelangen Online-Gesprächen konnte ich jedoch beobachten, wie sich in ihm drin etwas veränderte. Als die Medien über unsere Organisation berichteten und wir scharf kritisiert wurden, hat sich Andy in die öffentliche Debatte eingeschaltet und mit den Kritikern des Internets diskutiert und dabei versucht, seine Meinung darzulegen."

In Taiwan werden Diskussionen über Sexualität sowieso durch die strengen Moralvorstellungen beschränkt und es gab im Internet auch einige spöttische Kommentare in Richtung Hand Angel. Hier einige Beispiele: „Gibt es dann auch ‚Mouth Angel'?", „Ich bin geistig zurückgeblieben, kann ich mich auch bei Hand Angel bewerben?" oder „Insgesamt nur drei Mal?".

Selbst auf offizieller Ebene schien das Konzept nicht wirklich gut anzukommen. Yi-Ting Hu, der Geschäftsführer der United Social Wealth Alliance von Taipeh, sagte über die NGO Folgendes: „Meiner Meinung nach ist es nicht nötig, die Sexualität von behinderten Menschen als unabhängiges Thema anzusprechen. Es gibt wirklich wichtigere und dringendere Probleme, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Ist es nicht auch irgendwie eine Art der Diskriminierung, wenn man für ihre sexuellen Rechte eintritt?"

Natürlich scheint er mit seiner Aussage eigentlich nur die Einstellung von Hand Angel zu bekräftigen: Wenn man die Ansicht vertritt, dass es diskriminierend sei, für die sexuellen Rechte eines behinderten Menschen einzustehen, dann ist das zuallererst mal selbst bevormundend und dazu noch vollkommen aus der Luft gegriffen—was genau ist daran diskriminierend, wenn man einer behinderten Person einvernehmlich zu einem Orgasmus verhilft?

Andy fasst das Ganze ziemlich gut zusammen: „Ich hatte nicht das Gefühl, dass da irgendwie Mitleid im Spiel war. Der ganze Akt war geprägt von Respekt und Gleichberechtigung. Vielleicht sieht die Gesellschaft so etwas als kontrovers an, aber wenn man sich wirklich mit der Sache beschäftigt, dann merkt man, dass wir die gleichen Wünsche haben wie alle anderen auch. Stell dir doch mal folgende einfache Frage: Musst du deine Eltern zuerst um Erlaubnis bitten, wenn du Sex haben willst?"