Zwei Menschen entspannen sich auf begrünten Häuserdächern und denken darüber nach, wie eine Wirtschaft aussehen könnte, in der nicht alles auf Wachstum ausgelegt ist
Illustration: Hunter French
Politik

COVID-19 schrumpft die Wirtschaft – na und?

Statt die Wirtschaft wieder hochzufahren, könnten wir auch weiterhin weniger arbeiten, weniger kaufen und weniger produzieren – unserem Planeten zuliebe.

Ende März konnte sich US-Präsident Donald Trump bei Twitter mal wieder nicht beherrschen und schrieb in Großbuchstaben: "WE CANNOT LET THE CURE BE WORSE THAN THE PROBLEM ITSELF", wir dürften die Lösung also nicht schlimmer sein lassen als das Problem selbst.

Trump bezog sich mit diesem eindringlichen Tweet auf die wirtschaftlichen Folgen die es haben würde, die USA quasi zum Stillstand zu bringen, nur um die Menschen vor dem Coronavirus zu schützen – ein Virus, das dort inzwischen über 140.000 Todesopfer gefordert hat.

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Auch in Deutschland wurden schon früh Stimmen aus der Politik und der Wirtschaft laut, die ein Ende der Lockdown-Maßnahmen gegen das Coronavirus forderten. "Heben Sie den Lockdown auf, bevor es zu spät ist!", hieß es zum Beispiel in einem offenen Brief des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft an Kanzlerin Angela Merkel.

An sich haben solche Forderungen auch ihre Berechtigung: Die Wirtschaft wurde von der Corona-Krise schwer getroffen. In Deutschland gingen die Exporte im Vergleich zum Vorjahr aufgrund der Beschränkungen um rund ein Drittel zurück, im ganzen Land gibt so viel Kurzarbeit wie noch nie zuvor. Auch das Bruttoinlandsprodukt ging im ersten Quartal 2020 im Vergleich zum Vorquartal um 2,2 Prozent zurück – der stärkste Rückgang seit der Finanzkrise 2009.

Man geht davon aus, dass die deutsche Wirtschaft erst im Jahr 2022 wieder zu alter Stärke zurückgekehrt sein wird. Aber was, wenn wir anstatt alles in den vorherigen Zustand zurückzubringen, bestimmte Industrien weiter auf Sparflamme laufen lassen? Was, wenn wir uns anstatt wieder Vollzeit zu arbeiten, bewusst dazu entscheiden, weniger zu arbeiten, weniger zu kaufen, weniger zu produzieren und das Bruttoinlandsprodukt nicht um jeden Preis wieder hochzubringen?


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Es gibt Forschende, die schon lange vor der Corona-Krise argumentiert haben, dass unser Fokus auf wirtschaftliches Wachstum problematisch sei. Die sogenannte "Degrowth"-Bewegung setzt sich für die Reduzierung von Produktion, Arbeitsstunden und als Folge auch des Bruttoinlandsprodukts ein – alles mit dem Endziel, die CO2-Emissionen zu senken. Mit der Wirtschaft quasi im Stillstand fordern mehrere Experten und Expertinnen, dass wir uns eine andere Art der Wirtschaft vorstellen, bei der die Klimakrise gelöst und nicht noch weiter verschlimmert wird.

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Die Pandemie hat sich einerseits beträchtlich auf die Arbeitswelt und die Wirtschaft ausgewirkt, andererseits hat sie aber auch dazu geführt, dass die globalen CO2-Emissionen bis jetzt um mehr als acht Prozent gesunken sind. So steht es in der Fachzeitschrift Nature. Im Vergleich zu 2019 sind die Emissionen dieses Jahr in den ersten vier Monaten um mehr als eine Milliarde Tonnen zurückgegangen. Das entspricht fast der Emissions-Reduzierung, die nötig ist, um die Ziele der 2015er Klimakonferenz in Paris zu erreichen – und um zu verhindern, dass sich die Erde um mehr als 1,5 bis 2 Grad Celsius erwärmt.

Man darf jedoch nicht vergessen, dass der derzeitige Rückgang von Konsum, Emissionen und Bruttoinlandsprodukt ein Nebeneffekt der Pandemie ist – und kein nachhaltiger oder wünschenswerter Weg, die CO2-Belastung zu senken. Denn es kommen dabei Menschen ums Leben, es müssen Lockdowns verhängt werden und das öffentliche Leben hat schwer darunter zu leiden.

Für Future Earth schrieb Maurie Cohen – ein Professor im Fach Nachhaltigkeit am New Jersey Institute of Technology – aber, dass die Pandemie in Bezug auf Nachhaltigkeit seltene Möglichkeiten für die Lebensqualität und die Bewohnbarkeit der Erde biete. Anstatt darauf abzuzielen, die Wirtschaft – und damit auch die Emissionen – nach der Pandemie wieder nach oben gehen zu lassen, sollten wir die Gelegenheit nutzen und darüber nachdenken, wie wir die Emissionen niedrig halten, wenn irgendwann alles wieder seinen gewohnten Gang gehen sollte. Das beinhaltet vielleicht auch, vom Fokus auf wirtschaftlichen Wachstum abzukommen.

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"Man bekommt nicht jeden Tag die Chance, die Wirtschaft neuzustarten."

Jason Hickel ist ein ökonomischer Anthropologe an der London School of Economics. Er sagt, dass wir so schnell wie möglich zu erneuerbarer Energie übergehen müssen. Das ist jedoch unmöglich, wenn man gleichzeitig will, dass die Wirtschaft wächst.

1.100 Experten und Expertinnen aus mehr als 60 Ländern haben vor Kurzem einen offenen Brief unterschrieben, in dem mögliche Richtlinien zur "Wiederbelebung" der Wirtschaft dargelegt werden. Der Fokus liegt dabei aber nicht auf Wachstum, sondern auf Klima, Gesundheit und Wohlbefinden. Die wirtschaftlichen Strapazen, mit denen wir uns gerade konfrontiert sehen, könnten als Möglichkeit gesehen werden, mit progressiveren Lösungsansätzen zu experimentieren. So soll sichergestellt werden, dass die Leute in einer Welt ohne Fokus auf wirtschaftliches Wachstum Zugang zu den wirklich wichtigen Dingen haben – etwa einem Grundeinkommen oder einem fairen Gesundheitssystem.

"Man bekommt nicht jeden Tag – nicht mal alle fünf Jahre – die Chance, die Wirtschaft neuzustarten", schrieb eine Forschungsgruppe letztens im Magazin Jacobin. "Das ist unsere Chance. Wir müssen sie richtig nutzen."

Ein hohes Bruttoinlandsprodukt ist nicht automatisch gut

Warum wollen wir überhaupt wirtschaftliches Wachstum? Weil es impliziert, dass die Leute, die in dem betreffenden Land leben, Zugang haben zu Geld und all den Dingen, die man mit Geld kaufen kann: ein Zuhause, eine gute Gesundheitsversorgung, Bildung, Essen und so weiter. Es impliziert, dass die Regierung in große Projekte zum Schutz der Bevölkerung vor Bedrohungen wie dem Klimawandel oder einer Pandemie investieren kann.

Seit dem Zweiten Weltkrieg gilt das Bruttoinlandsprodukt als Maßstab für das Wohlergehen eines Landes. Das BIP steht dabei für den Gesamtwert von all dem, was in einem Land produziert wird – sowohl Güter als auch Dienstleistungen. Aber wie David Pilling, der Autor des Buches The Growth Delusion: Wealth, Poverty and the Well-Being of Nations in einem Interview mit der Washington Post sagte: "Mehr Zeug bedeutet nicht automatisch mehr Wohlergehen – oder um es etwas umgangssprachlicher auszudrücken, mehr Glück."

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Selbst wenn "Zeug" ein Indikator für Wohlbefinden wäre, ist das Bruttoinlandsprodukt nur eine Gesamtzahl. In anderen Worten: Selbst wenn diese Zahl hoch ist, bedeutet das nicht, dass alle Güter und Dienstleistungen so verteilt sind, dass das Wohl aller steigt. Derzeit besitzt ein Prozent der Weltbevölkerung mehr als 40 Prozent des weltweiten Vermögens. Und auch die Einkommensungleichheit hat in vielen Ländern zugenommen.

Ein hohes Bruttoinlandsprodukt garantiert zudem auch kein längeres Leben. Das Pro-Kopf-BIP der USA liegt bei 60.000 Dollar und ist damit eines der höchsten weltweit. Die Lebenserwartung steht bei 78,5 Jahren. In vielen Ländern mit niedrigeren Bruttoinlandsprodukten herrschen aber viel höhere Lebenserwartungen. Ein Beispiel wäre Südkorea: Dort ist das Pro-Kopf-BIP 50 Prozent niedriger als in den USA, aber die Lebenserwartung liegt bei 82,6 Jahren.

Ähnliches ließ sich bei der ersten Reaktion auf die Corona-Pandemie beobachten. In den USA hat man es trotz des hohen Bruttoinlandsprodukts nicht geschafft, genügend Ressourcen für die Mitarbeitenden des Gesundheitssystems zusammenzutragen oder ein vernünftiges Testsystem zu etablieren. Deswegen sind dort auch so viele Menschen an COVID-19 gestorben.

"Wie bekloppt muss ein System sein, in dem ein paar Wochen Entschleunigung und Ruhe direkt bedeuten, dass alles in sich zusammenbricht?"

Die Pandemie zwingt einige Länder bereits dazu, das Konzept des Bruttoinlandsprodukts zu überdenken. So hat China in einem noch nie dagewesenen Schritt beschlossen, dieses Jahr kein BIP-Ziel zu setzen. Stattdessen lege man den Fokus darauf, den Arbeitsmarkt zu stabilisieren und den Lebensstandard zu sichern, so Ministerpräsident Li Keqiang beim Nationalen Volkskongress.

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Anhänger der Degrowth-Bewegung sagen, dass die derzeitige globale Wirtschaftskrise nur zeige, wie zerbrechlich unsere Wirtschaft die ganze Zeit schon war. "Wie bekloppt muss ein System sein, in dem ein paar Wochen Entschleunigung und Ruhe direkt bedeuten, dass alles in sich zusammenbricht?", schrieb Laura Basu, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Cultural Inquiry der Universität von Utrecht.

Da unsere Wirtschaft in ihrer derzeitigen Funktionsweise von Wachstum abhängig ist, kommen wir nicht mehr klar, wenn dieses Wachstum ausbleibt. Robert Pollin, ein Wirtschaftsprofessor an der University of Massachusetts Amherst und Co-Direktor des dortigen Forschungsinstituts für Volkswirtschaft, sagte einst gegenüber VICE News, dass ein Schrumpfen der Wirtschaft zwar Emissionen zurückgehen ließe, das Ganze aber keine sinnvolle Lösung sei, weil es mit großer Sicherheit auch eine Rezession – also einen Rückgang der Konjunktur – nach sich ziehen würde.

"Es besteht keine Verbindung zwischen dem Bruttoinlandsprodukt und dem menschlichen Wohlergehen."

Dass Pollin damit richtig lag, sehen wir gerade dank der Pandemie. Die Wirtschaft ist geschrumpft, die Folge davon ist eine Rezession. Das zeige laut dem Anthropologen Hickel aber nur, dass wir die Höhen und Tiefen der Wirtschaft von unserer Lebensqualität abkoppeln müssen.

"Es besteht keine Verbindung zwischen dem Bruttoinlandsprodukt und dem menschlichen Wohlergehen", sagt Hickel. Die Degrowth-Bewegung will eine Wirtschaft aufbauen, bei der Menschenleben im Fokus stehen und nicht, eine abstrakte Zahl immer weiter nach oben zu treiben. Genau das könnte dafür sorgen, dass unser Planet weiter bewohnbar bleibt.

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Warum Degrowth nicht mit einer Rezession zu vergleichen ist

Wenn sich nicht schnell etwas ändert, wird die globale Temperatur bis zum Ende des Jahrhunderts um drei bis fünf Grad Celsius steigen. Ein Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change aus dem Jahr 2018 besagt, dass die globalen Emissionen bis 2030 halbiert und bis 2050 ganz weg sein müssten, um einen kompletten Klima-Kollaps abzuwenden.

Obwohl das Bruttoinlandsprodukt und die Emissionen wegen COVID-19 derzeit zurückgehe, hieße das nicht, dass wir dieses Schrumpfen schon richtig durchführen, so Julia Steinberger, eine Professorin für ökologische Wirtschaft an der University of Leeds.

Was bei Degrowth schon immer sehr wichtig gewesen ist: Man muss es irgendwie auffangen, dass das Einkommen der Menschen wohl zurückgehen wird. Das heißt, es muss ein Sozialsystem vorhanden sein, das die grundlegenden Bedürfnisse abdeckt – ganz egal, was in der Wirtschaft gerade los ist.

Genau das unterscheide Degrowth von einer Rezession, so Hickel. Bei einem kontrollierten Rückgang der Wirtschaft sollen Maßnahmen wie ein Grundeinkommen, eine verkürzte Arbeitswoche und ein funktionierendes Gesundheits- und Bildungssystem die wegfallende Produktion kompensieren. Andere Verfechter und Verfechterinnen des Konzepts befürworten eine staatliche Jobgarantie: Menschen, die nur für den Mindestlohn arbeiten, um Dinge zu produzieren, die dem Klima schaden, bekommen einen neuen Job im Bereich Ökoenergie oder Infrastruktur. Schuldenerlässe würden es mehr Leuten ermöglichen, sich nicht mehr abrackern zu müssen, um ihre steigenden Schulden abzubezahlen.

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Unterm Strich bedeutet das alles: Bei Degrowth ist es möglich, weniger zu arbeiten und zu verdienen, ohne dass die Lebensqualität zu sehr darunter leidet. Dazu beitragen würde auch ein progressiveres Steuersystem, durch das das Vermögen gleichmäßiger verteilt wird.

"Beispiele für unnötige Wirtschaftssektoren wären die Waffenindustrie, die SUV-Industrie oder die Einwegplastik-Industrie."

"Bei Degrowth geht es nicht darum, die komplette Wirtschaft willkürlich zu schrumpfen. Nein, dabei sollen einige für das menschliche Wohlergehen wichtige Wirtschaftssektoren vergrößert werden, während man andere, die nicht so wichtig oder gar schädlich sind, verkleinert", sagt Hickel. "Beispiele für solche unnötigen Sektoren wären die Waffenindustrie, die SUV-Industrie, die Einwegplastik-Industrie und so weiter."

Steinberger betont, dass es hier wie beim Klima-Aktivismus sei: Das Handeln eines jeden Einzelnen ist wichtig, aber noch wichtiger ist es, dass die Regierungen und die Industrie ebenfalls mitziehen und für Änderungen sorgen. Einem Bericht des Centers for Economic and Policy Research zufolge würde der Energieverbrauch in den USA um 20 Prozent sinken, wenn man dort die Arbeitsstunden auf die in Westeuropa übliche Zahl reduzieren würde. Aber als arbeitender Mensch kann man nicht einfach so selbst entscheiden, seine Arbeitsstunden zu reduzieren und ab jetzt in einer Wirtschaft zu leben, in der es nicht mehr auf Wachstum ankommt. Darauf ist das System nicht ausgelegt.

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Dein Job ist vielleicht bedeutungsloser, als du denkst

Fühlt es sich falsch an, nicht zu versuchen, die Wirtschaft wieder dahin zurückzubringen, wo sie vor der Pandemie war? Nur, wenn man ignoriere, wie uns diese Wirtschaft schon im Stich gelassen hat und wie nur wenige Leute vom Wachstum profitieren, sagt Steinberger. 1965 verdienten CEOs in den USA im Durchschnitt 20-mal so viel wie normale Angestellte. 2013 war es schon 296-mal so viel. Zwischen 1973 und 2013 stiegen die Stundenlöhne in den USA nur um 9 Prozent, die Produktivität hingegen um 74 Prozent. Trotz der Wirtschaftskrise ziehen die Märkte an und bald gibt es den ersten Billionär überhaupt.

Was bringt wirtschaftliches Wachstum also überhaupt? Wer profitiert davon? Warum sollten wir dafür kämpfen, dass dieses Wachstum zurückkommt, wenn wir stattdessen auch eine Alternative haben könnten, die gleichzeitig die Klimakrise lösen könnte?

"Es ist ziemlich offensichtlich, dass es bei unserer Wirtschaft nur darum geht, das Kapital zu sichern anstatt das Wohlergehen der Bevölkerung", sagt Hickel. "Und es gibt keinen Grund, das einfach so hinzunehmen."

So schrieb die Autorin Kate Aronoff im Politikmagazin The New Republic: "Mit einem Rettungspaket würde man – wahrscheinlich erfolglos – versuchen, die Wirtschaft wieder auf den Stand von vor den COVID-19-Shutdowns zu bringen – komplett mit jahrzehntelangen Lohnstillständen, explodierenden CO2-Emissionen und gigantischer Ungleichheit."

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Beim Degrowth soll man zusätzlich auch zum Nachdenken darüber angeregt werden, wie unser Leben ohne die Arbeit als zentrales Element aussehen würde. "Immer wenn es zu einer Krise kommt, heißt es überall, dass wir mehr arbeiten müssten. Dabei geht es in diesen Momenten darum, die Welt zu retten. Da sollte man eher weniger arbeiten", sagt David Graeber, ein US-amerikanischer Anthropologe und Autor des Buchs Bullshit Jobs. Darin schreibt er, dass viele unserer derzeitigen Jobs komplett bedeutungslos seien.

Als Gesellschaft schreiben wir der Arbeit einen moralischen Wert zu. "Wir sind wirklich davon überzeugt, dass man nur dann etwas verdient hat, wenn man hart arbeitet. Wer das nicht tut, ist ein schlechter Mensch", sagt Graeber. "Aber genau diese Moral zerstört unseren Planeten."

"Telefonverkäufer oder Finanzberater existieren doch nur für sich selbst."

Graeber sagt, dass er beim Schreiben von Bullshit Jobs herausgefunden habe, dass viele arbeitende Menschen nichts tun, das irgendjemand zum Überleben oder zur kreativen Erfüllung braucht. "Telefonverkäufer oder Finanzberater existieren zum Beispiel doch nur für sich selbst", sagt Graeber. "Genau so ist es mit der Wall Street. Dort haben die Leute nur einen Job: uns davon überzeugen, dass sie diesen Job aus irgendeinem Grund haben sollten."

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"Wenn wir uns fragen, was es braucht, damit jeder gut leben kann, dann ist die Liste vielleicht kürzer als man denkt", sagt Steinberger. Alles Überschüssige wegzulassen, sei dabei der Schlüssel dazu, die Erderwärmung zu stoppen und weitere Zerstörung abzuwenden.

2018 haben Steinberger und ihre Kollegen Dan O'Neill, Andrew Fanning und William Lamb mithilfe eines internationalen Datensatzes gezeigt, dass Lebenszufriedenheit mit dem Zugang zu grundsätzlichen Dingen wie ausreichender Ernährung, sanitärer Versorgung, Strom, Bildung, sozialer Unterstützung, Gleichberechtigung, Demokratie, Arbeit und Einkommen zusammenhängt. Einwegplastik, Fast Fashion, große SUVs oder Luxusvillen kommen in der Liste nicht vor.

Degrowth will diese Teile der Wirtschaft verkleinern – aber nicht auf Kosten der Grundlagen. "Wenn wir es schaffen, diese Maßnahmen durchzusetzen, werden wir für sehr gute Lebensumstände sorgen können", sagt Steinberger.

"Auf dem Weg zu einer besseren Wirtschaft und einem besseren Planeten wollen wir den Leuten nichts entziehen", sagt Juliet Schor, eine Soziologieprofessorin am Boston College. "Deswegen finde ich den Begriff 'Degrowth' auch gar nicht so gut, er hat so etwas Negatives an sich und fokussiert sich auf das, was weggenommen wird. Ich würde einen Begriff bevorzugen, der zeigt, dass hier gleichzeitig die Bedürfnisse der Menschen und die Bedürfnisse des Planeten erfüllt werden."

Das Coronavirus ist unsere wirtschaftliche Notbremse

Die Corona-Pandemie zeigt uns, dass die Reduzierung der CO2-Emissionen durch kollektives Handeln tatsächlich möglich ist. Aber eine Pandemie ist natürlich nicht der gewünschte Lösungsansatz für die Klimakrise. Der eigentliche Sinn und Zweck des Lockdowns war ja auch, dass das Virus nicht weiter verbreitet wird.

Was die Pandemie uns noch gezeigt hat: Die Regierung kann ein milliardenschweres Hilfspaket schnüren, wenn es sein muss. Vielleicht besteht in Zukunft also auch die Möglichkeit, dass etwas Ähnliches passiert, wenn unsere Gesundheit und Sicherheit wieder ernsthaft in Gefahr ist – zum Beispiel durch den Klimawandel. "Wir haben gesehen, wie schnell die Regierung gehandelt hat, um das scheinbar Unmögliche zu schaffen", sagt Schor.

Laut Hickel haben Degrowth-Kritiker immer betont, dass es in der Wirtschaft keine Notbremse gebe. Jetzt wüssten wir aber, dass das nicht stimmt.

"Das Virus verbreitet sich, und plötzlich wird klar, dass es doch eine Notbremse gibt, die sogar relativ einfach gezogen werden kann", sagt der Anthropologe. "Die Regierung ist in der Lage, Teile der Wirtschaft herunterzufahren, um die öffentliche Gesundheit und das menschliche Wohlergehen zu schützen. In gewisser Weise wissen wir nun Bescheid und können ab jetzt mit Szenarien arbeiten, in denen diese Notbremse auf ökologisch bedeutsame und gesellschaftlich sichere Art und Weise gezogen wird."

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