Charli XCX hält eine Poppersflasche hoch – Die Droge aus Amylnitrit spielt eine wichtige Rolle in der Schwulenszene
Charli XCX: Screenshot von Twitter || Bearbeitung: VICE
Drogen

Vom Herzmedikament zur Partydroge: Eine kurze Geschichte von Poppers

Wie Amylnitrit schwule Clubs und Schlafzimmer eroberte.

Ich erinnere mich noch bestens daran, wie eine Freundin mir erzählte, dass Poppers dein Arschloch entspannen. Ich glaubte es ihr nicht. Soweit ich informiert war, waren Poppers für ein schnelles und kurzes High gedacht – und das war's. Aber ich lag falsch. Poppers sind bekannt dafür, bestimmte Muskelgruppen deines Körpers, die glatte Muskulatur, zu entspannen und die Blutgefäße zu erweitern. Das kann Analsex erleichtern – und vaginalen Geschlechtsverkehr. Kein Wunder also, dass Poppers vor allem in der schwulen Partyszene verbreitet sind. 

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Wirklich legal sind Poppers nicht – aber auch nicht ganz illegal. Im deutschsprachigen Raum und der restlichen EU sind lediglich der Verkauf und die Weitergabe verboten, Besitz und Konsum nicht. Vor allem in Onlineshops findet man aber recht einfach als Raumduft oder Lederreinigungsmittel getarnte Produkte. Jüngere Versuche, Poppers zu verbieten, wie in Australien zum Beispiel, wurden von der LGBTQ-Community als diskriminierend kritisiert.

"Poppers sind wahrscheinlich mehr schwul, als sie es nicht sind", schreibt Adam Zmith, Autor von Deep Sniff: A History of Poppers and Queer Futures, in einer E-Mail. "Die ursprüngliche Substanz, Amylnitrit, wurde für medizinische Zwecke hergestellt und verkauft. Irgendwann im 20. Jahrhundert begannen allerdings Männer, die Sex mit Männern hatten, Poppers zu schnüffeln." 

Aber da ist noch viel mehr passiert. Schauen wir uns den Werdegang der Riechdroge an.


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1867 

Thomas Lauder Brunton war ein britischer Arzt, der im 19. Jahrhundert eine "wichtige Rolle dabei spielte, die Pharmakologie als exakte Wissenschaft zu etablieren", schreibt Zmith. Obwohl er Amylnitrit, auch heute noch die Grundsubstanz von Poppers, nicht erfunden hat, war er doch der erste, der das Inhalieren des Stoffs zur Behandlung von Angina Pectoris einführte, also Schmerzen in der Brust, die durch eine Durchblutungsstörung des Herzens ausgelöst werden.

Späte 1800er bis frühe 1900er Jahre 

Nach Bruntons Entdeckung wurde Amylnitrit als Medizin verkauft. "Es gab zahlreiche weitere Anwendungszwecke, die in frühen Apothekenbeilagen für Amylnitrit angegeben wurden", erklärt Zmith. "Sogar die Behandlung von Seekrankheit."

Irgendwann zwischen den 1930er und 1950er Jahren

Es lässt sich nicht wirklich sagen, wann genau alle erkannten, dass das Schnüffeln von Amylnitrit auch Freude bereiten kann. Zmith schätzt, dass das irgendwann zwischen den 30er und 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts passiert sein muss. 

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"Stell dir vor, wie jemand daran riecht, den leichten Schwindel fühlt, angeturnt ist und sogar merkt, dass der Dampf dabei hilft, das Poloch für Sex zu öffnen", schreibt er uns. "Poppers wurden irgendwo in diesem unbekannten und zeitlosen Schlafzimmer erfunden." 

1960er Jahre

Nitroglycerin ersetzte Amylnitrit als Behandlungsmittel für Angina Pectoris und die medizinische Nachfrage nach Poppers ging zurück. In der Zwischenzeit hatte sich Amylnitrit allerdings zu einer von vielen Drogen der Wahl unter US-Soldaten im Vietnamkrieg entwickelt. Es war einfach zu beschaffen, die Fläschchen hatten kaum Gewicht und wurden mit "Gegenmittel gegen Schwarzpulverdämpfe" beschriftet.

So wie bei den meisten Drogen, die während des Kriegs genommen wurden, brachten die zurückkehrenden GIs auch ihren Popperskonsum mit nach Hause.

1969

Nachdem alle angefangen hatten, Poppers als Freizeitdroge zu verwenden und reichlich Spaß und Sex hatten, machte die FDA Amylnitrit in den USA verschreibungspflichtig. Wie zu erwarten. 

1976 

Mitte der 1970er feierten Poppers ein Comeback. Ein gewisser W. Jay Freezer gründete die Pacific Western Distributing Corporation, die verschiedene Poppers-Marken herstellte und vertrieb, darunter auch die wohl berühmteste: Rush. Die Amylnitrit-Formel wurde leicht zu Isobutylnitrit abgeändert und Poppers in "Plattenläden, Boutiquen und Sexshops" als Raumduft angeboten.

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1970er

New Yorker Clubs versprühten Amylnitrit großflächig auf ihren Tanzflächen, um eine "kollektive Euphorie zu erschaffen". Auch in queeren Schlafzimmern und Schwulensaunen war der Konsum weit verbreitet.

"Wenn man durch die Archive der LGBTQ-Wochenzeitungen der 70er und 80er blättert, sieht man, dass Poppers lange vor dem digitalen Zeitalter ein Teil der queeren Datingkultur waren", schreibt Alex Schwartz für Popsci. "Kontaktanzeigen enthielten Codewörter für sexuelle Präferenzen. 'Aroma' stand für Poppers."

1985

Auf dem Höhepunkt der AIDS-Krise erschien eine Studie, die den Popperskonsum mit HIV-Ansteckungen in Verbindung setzte. Auch wenn die Theorie schnell widerlegt wurde, das Stigma blieb. Für Zmith ist der herablassende Blick auf die Riechdroge nicht nur typisch für die AIDS-Pandemie, sondern für die generelle Einstellung gegenüber queerer Kultur.

"In den 1980ern wurden in Großbritannien Pub-Besitzer, die Poppers anboten, wegen dem Verkauf einer schädlichen Substanz angeklagt", sagt er. "Weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft interessierten sich für den Alkohol oder die Zigaretten, die in den gleichen Pubs verkauft wurden – beide sind weitaus schädlicher und tödlicher als Poppers. Das ist ein Beispiel dafür, wie Homofeindlichkeit und Ignoranz die Regulierung von Substanzen untermauern und bestimmte Personengruppen treffen kann."

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1990er

Die schwule Raveszene brachte Poppers zurück in die Clubs und ihre Popularität führte dazu, dass auch heterosexuelle Menschen sie in ihrer Freizeit verwendeten.

Mitte der 2010er

Der Aufstieg und die Verbreitung von Internetpornografie verschafften Poppers einen weiteren Popularitätsschub. Ein eigenständiger Kink entstand. "Zu der Zeit begannen kreative Bators – also Menschen, die beim Masturbieren Poppers konsumieren – mit rudimentären Videobearbeitungs-Skills sogenannte Popperbator-Trainer-Videos zu machen und sie im Internet zu teilen", schreibt Zmith. "Eine sexuelle Subkultur, die Poppers und Porno-Supercuts kombiniert, war geboren."

2016

2016 versuchte der britische Gesetzgeber im Rahmen des Psychoactive Substances Act auch Poppers zu verbieten. Das Gesetz sollte "jede Substanz verbieten, die für den menschlichen Konsum gedacht ist und eine psychoaktive Wirkung auslösen kann". Der Gesetzesvorschlag war umstritten und wurde als "drakonisch und diskriminierend" kritisiert. Schließlich wurde die entsprechende Stelle zu Poppers gestrichen – nicht zuletzt dank Protesten der LGTBTQ-Community und des ehemaligen Tory-Ministers Crispin Blunt. Dieser hatte sich im House of Commons als Poppers-User geoutet.

September 2019

Die britische Künstlerin Charli XCX hält eine Flasche Poppers hoch und ruft "Gay Rights".

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2021

Im Januar 2021 regte sich das Internet über den Luxus-Poppers-Abo-Service Poppr auf.

Dort kann man drei verschiedene Varianten bestellen: die Basic Box mit einer Flasche für 15 US-Dollar pro Monat, die Bulge Box mit zwei Flaschen für 25 US-Dollar und die Bottom Box mit vier Flaschen für insgesamt 45 Dollar. Das Konzept wurde als "blödeste Idee aller Zeiten" bezeichnet, andere fragten sich, ob es nicht verantwortungslos sei zu suggerieren, dass eine Person vier Fläschchen im Monat verbraucht.

Heute

Bislang hindern uns Pandemie und Maskenpflicht noch daran, kleine Riechfläschchen auf schweißnassen Tanzflächen oder in Saunen rumzureichen. Aber wenn wir endlich wieder mit fremden Menschen im Club vögeln können, sollten wir an der Bar haltmachen und ein Getränk auf Poppers trinken und auf den Kampf, den viele dafür gekämpft haben, dass Amylnitrit in unseren Händen, Herzen und Nasen bleiben darf.

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Update, 2. Juli 2021, 15:00 Uhr: In einer früheren Version hieß es, das Corona-Virus sei im Januar 2021 noch nicht in Europa angekommen, tatsächlich gibt es das Corona-Virus bereits seit Mitte Januar 2020 in Europa. Wir haben den Halbsatz gestrichen.