Harald möchte lieber nicht erkannt werden
Alle Fotos: Sophie Wanninger
Politik

Harald wurde aus Österreich abgeschoben – ja, aus Österreich

U-Haft, Hausdurchsuchung, schließlich die Abschiebung nach Deutschland und zwei Euro "fürs Münztelefon". Wie kann das sein?

Der letzte Zug verlässt den Hauptbahnhof um 23:13 Uhr. Als die Polizisten Harald um halb 12 in Passau absetzen, fährt nichts mehr. Harald hat kein Geld und kein Handy, und eine Wohnung hat er auch nicht mehr. Zumindest nicht in einem Land, das er betreten darf.

Harald fragt Passanten nach ihren Handys: "Wollen Sie eine lustige Geschichte hören?" Die Masche zieht. Er schreibt seinen Freunden E-Mails von den fremden Telefonen und erzählt, dass er von der Polizei beim Sprayen erwischt und dann abgeschoben wurde. Ja, aus Österreich. Die Leute lachen. Harald findet es gar nicht mehr so lustig.

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Eine Abschiebung. Für viele Geflüchtete bedeutet das die Rückkehr in ein Zuhause, das es nicht mehr gibt. Oder eines, das man verlassen musste, weil man es dort nicht mehr aushielt.

Harald ist am Rand von München aufgewachsen. 30 Minuten in die Innenstadt, aber nur fünf Minuten bis zum Waldfriedhof. Auf der Straße spielte er Fußball, er sang im Tölzer Knabenchor, trainierte Handball und spielte Cello am musischen Gymnasium. Dass ein Deutscher abgeschoben wird, von Österreich nach Deutschland, klingt wie ein schlechter Witz. Wie ist das möglich? Und ist das überhaupt rechtens?


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Das österreichische Innenministerium hält Harald für eine "erhebliche Gefahr für das Grundinteresse der österreichischen Gesellschaft, nämliches jenes an Ruhe, Ordnung und Sicherheit". So steht es mehrfach in seinem Abschiebebescheid. Dort steht auch, dass er nur in Österreich lebe, um Straftaten zu begehen. Er sei ein führendes Mitglied der anarcho-linken Szene.

Vier Jahre lebte er in Wien, bis er zurück in seine Heimat geschickt wurde. Seit etwa fünf Monaten schläft Harald jetzt wieder in seinem Kinderzimmer. Bis vier Uhr morgens, dann muss er für seinen Job an der Tanke aufstehen. Jetzt ist es 13 Uhr und Harald zählt die Einnahmen aus seiner Schicht. Ein Zwei-Meter-Mann vor fünf Metern Zigaretten. Seine braune Locken hängen ihm in die Augen, auf seiner Oberlippe eine kleine Narbe, die sich beim Lächeln verzieht. Schichtende. Als er geht, packt er noch zwei Tüten trockene Brezen ein, für die Pferde seiner Schwester.

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Harald studierte Politikwissenschaft in Wien, arbeitete als Sicherheitsmann in Museen. Er spielte Handball und sang im Chor. Er lebte im 3. Bezirk, fuhr überall mit dem Fahrrad hin. Und ja, er war bei der Antifa.

"Blut an euren Händen" sollte auf der Mauer stehen

Im September zeichnete sich ab, dass die Türkei einen Angriff auf die kurdische Hochburg Rojava plante. Was tun? Die Idee: "Blut an euren Händen" sollte an die Mauern des Rheinmetall-Partners MAN Military Services gesprüht werden. Auf einem Banner sollte stehen: "Rheinmetall entwaffnen". So sollte ein Zeichen gesetzt werden.

Das Unternehmen liegt in einem Industriegebiet in Wien-Liesing. In Sichtweite befindet sich ein Straßenstrich. Ein zivile Streife fuhr dort Patrouille, als sie Harald und seine Genossen sahen. So nennt er sie. Wie viele sie waren, das will er nicht sagen.

Harald will vieles nicht sagen. Oder zumindest will er es nicht lesen.

"Als Sie dann von der Polizei bei der Begehung der Straftaten angetroffen wurden, haben Sie mit erheblichem Widerstand versucht zu flüchten und sich der Amtshandlung zu entziehen. Dabei sind Sie frontal auf einen Polizeibeamten zugelaufen und haben diesen mit voller Wucht zu Boden gerissen. Danach haben Sie diesen Beamten einen Knieschlag verpasst und versucht mit den Händen zu schlagen. Sie haben danach versucht ihre Flucht fortzusetzen, wurden aber anschließend durch einen weiteren Beamten gestoppt."

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Harald zitiert den Polizeibericht, wenn er von den Geschehnissen dieser Nacht erzählt. Weil er nichts Falsches sagen will, aber auch weil es ihm leichter fällt, darüber zu sprechen, als sei das gar nicht er. Sein Atem wird kurz, er bittet um eine Pause.

Die Nacht hat er in einer Zelle verbracht, am nächsten Mittag ist Harald dann verhört worden. Er verweigerte die Aussage. Zwei Stunden später holten sie ihn wieder aus der Zelle. Harald dachte, dass sie ihn nun freilassen. "Nee, Hausdurchsuchung", sollen die Polizisten gesagt haben.

Harald in München

Weil Fabian sprayte, musste er Österreich verlassen

Sechs oder sieben Wagen fuhren daraufhin zu seiner WG im 3. Bezirk, erzählt Harald. Polizisten in schuss- und stichsicheren Westen durchsuchten sein Zimmer. Sie fanden: Eine Maske. Eine Sonnenbrille. Eine Baseball-Kappe. Einen Tacker. Einen Erste-Hilfe-Kasten. Pyrotechnik. Ein Seil. Vorschnitte zum Sprayen.

"Da haben sie schon mehr oder weniger gejubelt", sagt Harald. Die Polizisten sollen ihn aufgefordert haben, ein paar Sachen einzupacken. Er tat wie befohlen. T-Shirts, Unterhosen, Socken. "Weißt du, wohin es jetzt geht?", soll ein Polizist gefragt haben. "In U-Haft, schätze ich mal", sagte Harald. "Nee, Sie werden abgeschoben", sagte der Polizist. Harald lachte laut auf. Aber der Polizist scherzte nicht und Harald, der dachte, dass er fürs Gefängnis packt, vergaß sein Portemonnaie.

Der Pressesprecher des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) bestätigt, dass Harald "aufgrund der gesetzten strafbaren Handlungen, bei denen er auch auf frischer Tat betreten wurde, selber eine erhebliche Gefahr und der weitere Aufenthalt in Österreich eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit darstellt".

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Dass Harald für seine Straftat weder angeklagt, geschweige denn verurteilt ist, ist für seine Abschiebung zwar zu berücksichtigen, aber nicht das einzige Kriterium. Ausschlaggebend sei "das persönliche Verhalten", sagt Professorin Ulrike Brandl von der Universität Salzburg. Die Behörde entscheidet im Einzelfall, ob jemand die Sicherheit der österreichischen Bevölkerung gefährdet – und ob er sich noch im Land aufhalten darf. Die Gründe, die das BFA für die Beurteilung heranziehen kann, beziehen sich auf das persönliche Verhalten der betreffenden Person. Welches Verhalten dich deinen Aufenthaltstitel kosten kann, entscheidet also die Behörde.

"Irgendwo wird's wohl ein Münztelefon geben"

Die Polizisten brachten Harald schließlich nach Wiener Neustadt, ins Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Der Amtsleiter befragte ihn. Wer war dabei? Was war Ihr Ziel? Wie lange haben Sie die Aktion geplant? Aber auch: Haben Sie Familie in Österreich? Haben Sie Freunde in Österreich? Haben Sie einen Job? Wie lange schon? Was studieren Sie?

So erzählt es Harald.

Er wollte keine Fragen beantworten. Nach etwa einer Dreiviertelstunde brachten sie ihn in den Flur, erinnert er sich. Dort setzte er sich auf einen Stuhl, flankiert von vier Polizeibeamten. Dann wurde er wieder reingerufen und der Amtsleiter legte ihm ein Blatt Papier vor. Darauf stand, dass sich Harald die nächsten zehn Jahre nicht in Österreich aufhalten darf, und dass er jetzt nach Deutschland gebracht wird.

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Harald sagte: "Ich habe mein Portemonnaie nicht dabei und kein Handy, wie soll ich in Deutschland weiterkommen?" Der Amtsleiter soll ihm zwei Euro in die Hand gedrückt und gesagt haben: "Irgendwo wird's wohl ein Münztelefon geben."

Etwas verstehen und etwas realisieren, das sind zwei verschiedene Dinge. "Verstanden, dass ich abgeschoben werden soll, habe ich schon nach der Hausdurchsuchung", sagt Harald. Realisiert hat er es, als er in einem Polizeiauto mit 170 Stundenkilometern in Richtung Grenze bretterte.

Die Polizisten brachten ihn in eine kleine Gemeinde im Landkreis Passau, direkt hinter der Grenze. Zwei deutsche Polizisten holten Harald ab und brachten ihn zum Passauer Hauptbahnhof. Ab da war Harald allein.

Von einem Pizzaboten wollte er sich eine Pappschachtel leihen, zum Trampen. Der Mann gab ihm stattdessen 25 Euro für die Fahrt nach München. Harald verbrachte die Nacht in verschiedenen Bankfilialen. Am frühen Morgen kehrte er zum Bahnhof zurück. Er kaufte ein Zugticket. Von den zwei Euro des Amtsleiters eine Nussecke. Dann fuhr er nach Hause.

Das Oberverwaltungsgericht hat sein Einreiseverbot aufgehoben. Das Bundesministerium für Fremdenwesen und Asyl hat jedoch Berufung eingelegt: Sie wollen mit allen Mitteln verhindern, dass Harald Österreich je wieder betreten darf. Ihre Chancen stehen schlecht – weil Harald kein Gewalttäter ist. Doch die Polizei ermittelt noch gegen ihn: wegen Sachbeschädigung, Körperverletzung und Bildung einer kriminellen Vereinigung.

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Anfang Februar wird in München Fasching gefeiert. Harald bewegt sich wie blind durch die schrill kostümierten Menschen, sie weichen dem Riesen aus. Er hält sich sehr gerade und drückt die Brust ein wenig raus, fast steif wandelt er durch die feiernden Massen. Er erkennt jemanden, grüßt, scheint zu zögern, ob er hingehen soll, der Typ grüßt kurz und dreht sich weg.

Auf dem Papier hat Harald wieder ein Leben in München. Er hat eine Wohnung, einen Job, ein Orchester, in dem er spielt, er engagiert sich weiterhin in einer Solidaritätsgruppe für Kurdistan. Aber die meisten seiner Freunde, die sind halt in Wien. Zöge er wieder nach Österreich, fürchtet er, könnte er jederzeit wieder verhaftet werden.

"Einfach, weil sie es können", sagt Harald. Auch deshalb kehrt er erstmal nicht zurück.

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