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Als Transfrau im Knast: Was ich im Gefängnis über Sex und Liebe gelernt habe

Die am längsten inhaftierte Transfrau Großbritanniens erzählt vom sexuellen Alltag hinter Gittern.
Zwei Männerschritte hinter Gittern
Collage: Marta Parszeniew

Bis zu ihrer Entlassung 2019 saß Sarah Jane Baker 30 Jahre im Gefängnis. Ursprünglich kam sie hinter Gitter, weil sie den Bruder ihrer Stiefmutter entführt und gefoltert hatte. Später wurde sie zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, nachdem sie versucht hatte, einen anderen Häftling umzubringen. Heute arbeitet die 50-Jährige als Künstlerin, Violinistin und Autorin.

Es dauerte nur wenige Tage in einem Männergefängnis, bis mir eine Sache klar wurde: Die Inhaftierten hatten ziemlich viel Sex. Da sich viele Häftlinge eine Zelle oder zumindest viel persönlichen Raum mit Fremden teilen mussten, gab auch ich schnell den Avancen der ersten Männer nach, die sich für mich interessierten. Vielleicht hätte ich mich für meinen in den Startlöchern steckenden promiskuitiven Lifestyle schämen sollen, aber das tat ich nicht. Als Transfrau verspürte ich ein tiefsitzendes Verlangen danach, meine Identität als Frau zu bestätigen. Ich fühlte mich nur dann vollwertig, wenn ich Sex mit einem Mann hatte. Ich wollte gewollt werden. Ich wollte geliebt werden. Und ich wollte mich lebendig fühlen.

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Die Drogenabhängigen zogen auf den Gefängnisfluren ihre Geschäfte durch, während die Pumper wie eitle Gockel über den Hof stolzierten und sich wohl nicht bewusst waren, dass ihre Muskeln niemanden beeindruckten oder einschüchterten. Andere Häftlinge waren in Schutzhaft untergebracht – auch ich, denn in Männergefängnissen kommt es regelmäßig zu transphoben Übergriffen. In diesem Zellentrakt saß ich zusammen mit Häftlingen, die Drogenschulden hatten, mit Sexualstraftätern, die hinter Gittern allgemein keinen guten Stand haben, und mit offen schwulen Gefangenen. Immer wenn meine Transschwestern und ich aus unseren Schutzzellen durften, buhlten die anderen Gefangenen um unsere Aufmerksamkeit. Manche boten uns Drogen an, andere ein Handy oder eine Schulter zum Ausheulen, wenn uns unser Östrogenspiegel mal wieder zu emotionalen Wracks werden ließ.

Egal was eine Person auch verbrochen hat, hinter Gittern gehört sexuelle Befriedigung zu den dringendsten Bedürfnissen. Ob die nun durch Masturbation, einvernehmlichen Geschlechtsverkehr oder eine Vergewaltigung erreicht wird, steht auf einem anderen Blatt. Da Gefängnisse in Großbritannien als öffentliche Gebäude gelten, sind jegliche sexuelle Handlungen zwischen Häftlingen verboten. Eine Anklage wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses gibt es trotzdem nur selten. Während meiner langen Zeit hinter Gittern wurde ich oft von den Gefängnisaufsehern und -aufseherinnen bei wilden sexuellen Abenteuern mit einem oder mehreren Partnern erwischt.

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Während die Leute draußen ihre sexuellen Wünsche wegen ihrer Schamgefühle oft nicht äußern, gibt es hinter Gefängnismauern kaum Hemmungen. Egal ob gleichzeitiger Oral- und Analverkehr oder mehrere Männer mit dem Mund befriedigen, unserer Fantasie waren quasi keine Grenzen gesetzt. Andere Männer haben mir oft eine große Menge Drogen zugesteckt, damit ich sie fessle und erniedrige. Dem kam ich gerne nach, solange wir vorher ein Safeword ausgemacht hatten.

Die Duschen waren eine weitere Spielwiese der sexuellen Leidenschaft. Dort wurde das Angebot, anderen den Rücken einzuseifen, nur selten abgelehnt – vor allem die Häftlinge, die mindestens zehn Jahre saßen, sagten da kaum Nein. Und wir lebten natürlich nicht in einer Rosamunde Pilcher-Welt, in der vor dem Sex immer zuerst die Romantik kommt. Ich meine, viele Häftlinge sitzen lebenslange Haftstrafen ab. Denen ist egal, was andere denken.

Ich habe kaum einen Häftling kennengelernt, der schon vor seinem Haftantritt schwul war. Viele von ihnen interessierten sich nur während der Zeit hinter Gittern für Männer. Dabei sind den britischen Gefängnisbehörden homosexuelle Liebesverhältnisse selbst heute oft ein Dorn im Auge. Ich wurde häufig von Mithäftlingen gefragt, ob ich ihnen auf der Krankenstation Kondome besorgen könne. Ihnen selbst war das zu peinlich. Oder sie hatten keine Lust auf die Sprüche der Wachen.

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Trotzdem sind auch Affären zwischen Häftlingen und Aufsehern nicht unüblich. Wenn zwei Menschen auf engstem Raum zusammen sein müssen, überschreiten sie Grenzen. Wenn diese Affären an die Öffentlichkeit kommen, wird den Häftlingen häufig vorgeworfen, die Angestellten böswillig manipuliert und verführt zu haben. Die Aufseher werden dann normalerweise "gebeten", von selbst zu kündigen, während man die Häftlinge in ein anderes Gefängnis verlegt, wo sie erstmal im Strafblock landen.

Leider sind viele Homo-Beziehungen hinter Gittern von einem ausnutzenden Machtgefälle geprägt. Sie scheinen die Beziehung zwischen Gefängnisbehörden und Gefangenen zu spiegeln, bei der die Aufseher alles bestimmen und die Häftlinge gehorchen sollen.

Es gibt aber auch Häftlinge, die eine monogame Beziehung führen und eindeutig ineinander verliebt sind. Über die Jahre habe ich einige solche Beziehungen miterlebt. Zwei zu lebenslangen Haftstrafen verurteilte Männer sind mir dabei besonders im Gedächtnis geblieben.

Die beiden Turteltauben konnten nicht voneinander lassen und waren immer zu zweit unterwegs. Wenn sie sich mal gestritten haben, war das im ganzen Zellenblock zu hören. So ging es über 20 Jahre lang, dann starb einer der beiden an Lungenkrebs. Bis zu seinem Tod wurde er von seinem Partner gepflegt, gefüttert, gewaschen und getröstet.

Obwohl ich mich immer nach richtiger Intimität sehnte, musste ich mich oft damit zufriedengeben, hinter den Mülleimern auf dem Gefängnishof schnell ein bisschen zu fummeln. Rückblickend sollte ich mich vielleicht für mein Verhalten hinter Gittern schämen, aber wozu? Ich habe in einer Welt überlebt, in der Verzweiflung und Bitterkeit vorherrschen. Viele zerbrechen daran. Kein anderer Transmensch hat länger in einem britischen Gefängnis gesessen als ich.

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Manchmal denke ich an meine Transschwestern, die mir oft erzählten, dass sie eigentlich nur eine Sache wollen: sich verlieben und irgendwann ein friedliches Leben in einer gesunden Beziehung führen, ohne ausgenutzt zu werden. Ich kann da voll mit ihnen mitfühlen.

Seit ich wieder auf freiem Fuß bin, habe ich die oftmals gefährlichen Sexpraktiken aus meiner Haft hinter mir gelassen. Die Intimität, nach der ich mich immer gesehnt habe, habe ich noch nicht gefunden. Aber ich hoffe, irgendwann einen Mann, eine Frau oder eine nicht-binäre Person kennenzulernen und mich Hals über Kopf zu verlieben.

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