Die Terrasse eines Restaurants am Meer mit Tischen mit karierten Tischdecken und Plastikstühlen, dahinter an der Straße ist ein ausrangierter Düsenjäger aufgestellt.
Ein Restaurant bei Gerze am Schwarzen Meer | Alle Fotos von Mathias Depardon
Politik

Fotos: So hat sich die Türkei unter Erdogan verändert

Seit fast zwei Jahrzehnten versucht der Präsident, sein Land zu alter Größe zu treiben – ohne Rücksicht auf Verluste.
Pierre Longeray
Paris, FR

Die anatolische Halbinsel ist der westlichste Punkt Asiens. Von Europa trennt sie nur der Bosporus, die Meerenge, die auch Istanbul in zwei Teile spaltet. Einst war diese Region das Zentrum des Osmanischen Reiches. In seiner größten Ausdehnung um das Jahr 1683 erstreckte es sich vom Jemen bis Österreich und von Aserbaidschan bis Tunesien. 

"Ich wollte die Idee des Neo-Osmanismus zeigen", sagt der französische Fotograf Mathias Depardon, der im November 2020 seinen neuen Bildband Transanatolia veröffentlicht hat. Das Cover zeigt eine Blutlache in der Form des alten Osmanischen Reichs. "Diese Einstellung spiegelt sich in der aktuellen türkischen Expansionsstrategie wider und sie hat Präsident Erdogan dabei geholfen, sich die Unterstützung der ultrarechten Wählerschaft zu sichern."

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Dieser Neo-Osmanismus ist eine Ideologie, die politische Einmischung der Türkei in den Gebieten des ehemaligen osmanischen Reichs vorsieht. Unter Erdogan hat sich die Türkei stetig von ihrer Position als Verbündete des Westens, NATO-Mitglied und EU-Beitrittskandidatin wegbewegt. In Ankara hat man es inzwischen offensichtlich eher darauf abgesehen, ein mächtiger Anführer der islamischen Welt zu werden.

In den vergangenen zehn Jahren hat die Türkei in Konflikten in verschiedenen islamischen Ländern mitgemischt – unter anderem im Irak, in Syrien, Libyen und erst vor wenigen Monaten im Krieg um Bergkarabach zwischen Aserbaidschan und Armenien. Außerdem sucht das Land seit einiger Zeit im östlichen Mittelmeer aggressiv nach Gasfeldern und provoziert damit Spannungen mit ihrem Nachbarn Griechenland. Für Depardon sieht sich Erdogan als "eine Art Kalif der türkisch-muslimischen Welt".

Eine Frau mit Kopftuch und einem traditionellen roten Gewand zielt mit einem Bogen

Eine Bogenschützin beim internationalen Conquest Cup, einem Wettkampf, der in Okmeydani, Istanbul, stattfindet

Depardon hat viele Jahre in der Türkei verbracht. 2017 wurde er allerdings bei Arbeiten für das Magazin National Geographic verhaftet und kam 32 Tage ins Gefängnis, anschließend wurde er des Landes verwiesen. Der Vorwurf: Er habe ohne Presseausweis gearbeitet. Vor seiner Verhaftung hatte er über die vielen geplanten Staudämme an Euphrat und Tigris berichtet, welche die Region bewässern und mit Elektrizität versorgen sollen. Das sogenannte Südanatolien-Projekt umfasst 22 Staudämme. Kritikerinnen und Kritiker befürchten einen enormen Einfluss auf die Wasserversorgung in den Nachbarländern Syrien und Irak. Spannungen in der Region seien vorprogrammiert. Auch die Menschen vor Ort sind betroffen. 2020 überflutete der Tigris am Ilısu-Staudamm die 12.000 Jahre alte Stadt Hasankeyf, Tausenden Menschen mussten dem Projekt weichen.

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Ein breiter Fluss mit trübem Wasser, in der Mitte sind die Pfeiler einer antiken Brücke zu sehen, am unteren Bildrand ein Restaurant auf einer Plattform

Der Tigris an der antiken Stadt Hasankeyf

Depardon interessiert sich bei seiner Arbeit auch für den türkischen Einfluss, der fernab der Landesgrenzen zu spüren ist – vom Schwarzen Meer über Aserbaidschan bis nach Ostturkestan, der Heimat der Uiguren im Nordwesten Chinas. 

"Als ich in der Türkei lebte, gab es bei Burger King ein 'Sultan Menü'", sagt Depardon. "Die beliebtesten Fernsehsendungen feierten die Osmanische Zeit." Dieses nostalgische Gefühl verlorener Macht sei an den überraschendsten Orten zu beobachten, wie in dem kleinen Restaurant am Schwarzen Meer mit Plastikstühlen, karierten Tischdecken und einem ausrangierten Düsenjäger. In der ländlichen Gegend an den Ufern des Schwarzen Meers ist Recep Tayyip Erdogan aufgewachsen. Sie ist bis heute eine Hochburg seiner Partei, der konservativen AKP. 

Transanatolia zeigt die neue Türkei. Nirgendwo zeigt sich diese Vision deutlicher als in Istanbuls Stadtteil Başakşehir. Hier leben die türkischen Eliten abgeschieden mit künstlichem Rasen, prunkvollen Gebäuden und brandneuen Moscheen. Der örtliche Fußballverein, Istanbul Başakşehir, wird von Präsident Erdogan gefördert. Er repräsentiert die Werte die AKP, die im Widerspruch zum traditionell säkularen Status Quo der Türkei stehen.

Ein prunkvoller Park in einem Tal mit einer blauen Wasserfläche im Vordergrund und rasen an den Hängen. Im Hintergrund stehen eine Moschee und Hochhäuser

BAŞAKŞEHIR in Istanbul

Schon vor seiner Festnahme sei er häufig von der Polizei angehalten worden, sagt Depardon. "Sagen wir einfach, dass es in diesem Bereich einige Spannungen gibt." Unter Erdogan wurden in der Türkei alarmierend viele Journalistinnen und Journalisten verhaftet. 67 befinden sich aktuell im Gefängnis. Deswegen wurde Transanatolia anfangs nur in Frankreich veröffentlicht – ein kleiner Fotografie-Verlag aus Istanbul, MAS Matbaa, druckte das Buch aber schließlich auch.

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Weil Depardon auf unbestimmte Zeit nicht in die Türkei einreisen darf, hat er sich an ihren Rändern entlangbewegt. Auch den "mesopotamischen Wasserkrieg" verfolgt er weiter, wie er die türkische Kontrolle der Wasserläufe in der Region nennt. Transanatolia sei ein Weg für ihn gewesen, "das Kapitel zu schließen". Trotzdem hofft Depardon, eines Tages in die Türkei zurückkehren zu dürfen.

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