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Stefan Reinartz im Büro von impect: imago images | Eduard Bopp

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Packing—Revolution des Transfermarkts oder unnötige Technisierung?

Packing ist für viele Fans das Unwort der EM. Doch Taktik-Experten und Laptop-Trainer sind begeistert von dem neuen Statistik-Wert. Werden künftig Spieler nur noch nach Packing-Werten eingekauft?

ARD-Experte Mehmet Scholl sprach nach dem EM-Auftaktsieg der deutschen Nationalmannschaft gegen die Ukraine vom „Heiligen Gral, nach dem lange und vergeblich gesucht wurde." Kurz vorher wurde der neue Statistikwert „Packing" dem deutschen TV-Publikum erstmals präsentiert. Er ermittelt, wie viele Verteidiger ein Spieler überspielt. Ein Fußballer, der—ob durch Pass oder Dribbling—an vielen Gegnern vorbeikommt, ist ein guter Spieler. Das wusste jeder schon vorher, jetzt soll es einen Wert geben, der diese Qualität misst—und zwar mit einer sehr hohen Erfolgsrate. Das Team, das in einem Spiel besser „packt", soll laut den Packing-Schöpfern mit einer Wahrscheinlichkeit von 86 Prozent punkten. „Packing bestätigt Gefühle, die ich nicht statistisch erklären konnte bislang", erklärte Scholl. „Dieser Wert wird das Scouting und die Trainingsmethodik verändern." Dieses Produkt der Generation „Laptop-Trainer", das von der ARD mit dem Hinweis auf künftige Unentbehrlichkeit verkündet wurde, fand natürlich einige Kritiker.

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Weil Scholl und die ARD immer ganz exklusiv und etwas zu feierlich die Packing-Rate beider Teams nach ihren EM-Übertragungen präsentierten, wurde besonders der gängige Großturnier-Zuschauer irritiert. Der ist schließlich nur einige Fußball-Phrasen und schnippische Wortwechsel zwischen Moderator und Experten gewohnt. Nun sollte er den mitunter etwas komplexen und sehr technischen neuen Statistikwert noch zu später Stunde verstehen und als von nun an wichtigsten Analysewert von König Fußball honorieren. Auf Twitter echauffierten sich Tastatur-Bundestrainer über den viel zu begeisterten Packing-Jünger Scholl sowie über die exklusive Werbung des öffentlich-rechtlichen Senders für Packing und das dafür verantwortliche Startup „Impect". Auch deshalb wurde „Packing" von vielen Fußballfans schon als Unwort des Jahres gehandelt.

Anfang des Jahres hatte sich die ARD erstmals mit Packing beschäftigt. ARD-Kommentator Steffen Simon traf sich bei einem Kaffee mit dem ehemaligen Nationalspieler und Packing-Schöpfer Stefan Reinartz. Der hatte mit Hertha-Profi Jens Hegeler im Jahr 2014 die Firma „Impect GmbH" gegründet und wollte „Erfolg im Fußball messbar machen". Ein Anstoß war unter anderem der 7:1-WM-Sieg von Deutschland über Brasilien, wo gängige Statistiken wie Ballbesitz, gefährliche Torchancen oder Torschüsse für die nach Toren klar geschlagenen Brasilianer gesprochen hatten. Simon war von der Idee begeistert. „Aber er meinte auch, dass das nur über Mehmet Scholl geht, weil er es als Experte präsentieren muss", erzählt Lukas Keppler, der neben Reinartz einer der beiden Geschäftsführer von Impect ist. „Wir hatten da anfangs ein mulmiges Gefühl, weil Scholl ja den Ruf hat, dass er mit Laptop-Trainern nicht viel anfangen kann. Aber er war sofort ein Riesen-Fan von unseren Daten, weil sie helfen, Spieler- und Mannschaftsleistungen objektiv einzuordnen." Die ARD schloss einen Exklusivvertrag mit Impect ab, sodass die Packing-Werte der EM nur exklusiv bei der ARD gezeigt werden und Zahlen nicht an Dritte abgegeben werden dürfen. Auch wenn niemand über die Vertragsinhalte sprechen will, ist der Deal durchaus lukrativ—für beide Seiten.

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Taktikexperten zeigten sich von dem neuen Statistikwert beeindruckt. „Er ist einer der aussagekräftigsten Statistiken, der mir bekannt ist und gleichzeitig auch einiges über den Spielstil sagt", erklärt Rene Maric von spielverlagerung.de. Impect kann diese Euphorie mit Zahlen untermauern. „Wir können nachweisen, dass 86 Prozent der Mannschaften punkten, wenn sie mehr Verteidiger überspielt haben", erklärt Keppler. Denn das Überspielen der Verteidiger—die letzten sechs Spieler inklusive Torwart—wird gesondert summiert und bildet den entscheidenden Wert der Analyse. Einen Wahrscheinlichkeit von 86 Prozent für mindestens einen Punkt kann fast keine Statistik nachweisen. Alle Spiele der zwei letzten Bundesliga-Saisons wurden für diese Erkenntnisse ausgewertet. „Es kamen viele zu uns, die meinten das sei ja logisch. Das können wir nicht abstreiten, aber vorher hat das einfach niemand gemessen", sagt Keppler über das sehr rationale Verfahren. Auch bei dieser EM gab es bisher nur zwei Spiele, bei denen ein Team mit weniger überspielten Verteidigern und somit einer niedrigeren Packing-Rate ein Spiel gewinnen konnte: Kroatien gewann gegen Spanien und Portugal im Achtelfinale wiederum gegen die Kroaten.

Packing macht durch die Unterscheidung von überspielten Spielern und überspielten Verteidigern die Gründe für Siege oder Niederlagen wesentlich greifbarer als etwa Ballbesitz- oder Torschussstatistiken. „Der FC Bayern und die Nationalmannschaft werden—wenn sie mehr Ballbesitz haben und viele Gegner überspielen—trotz einer Niederlage oft von der subjektiven Einschätzung des Zuschauers favorisiert, obwohl der Gegner mehr Verteidiger überspielt hat", erklärt Impect-Geschäftsführer Keppler. Packing scheint vor allem die Pässe statistisch greifbar zu machen, die dem Gegner am Ende weh tun. „Bei den Niederlagen der Bayern gegen Mainz oder Arsenal in der letzten Saison konnten wir so dennoch schlussfolgern, warum die Siege verdient waren."

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Packing ist ein weiteres Puzzleteil der stetigen Technisierung des Fußballs. Was bisher nur aus dem US-Sport wie Football, Baseball oder Basketball bekannt war, hält auch Einzug im eigentlich so von Emotionalität geprägten Fußball. Einzelne Statistiken werden immer wichtiger—für Trainer, Spieler sowie für Medien und die Fans. Dabei waren im Fußball bisher lediglich Tore, Scorerpunkte oder allenfalls der subjektive Kicker-Notendurchschnitt wichtig—zumindest, wenn man nicht heißblütiger Star-Manager bei Comunio ist. Im Fußball, wo der einzelne Spieler statistisch noch nicht so greifbar ist, werden stattdessen eher „Skills and Goals"-Videos geteilt und Debatten über Führungsspieler oder Leitfiguren geführt. Der Fußball trägt schließlich immer noch den Geist des Unplanbaren in sich.

Während aus den Körpern der Athleten nur noch wenig herauszuholen ist und jedes U14-Wunderkind sich vor Transferangeboten nicht retten kann, wird die Technik neben dem Platz immer wichtiger. Der Taktikzettel, der mitten im Spiel auf dem Platz herumgereicht wird, etabliert sich langsam als Pflichtlektüre für die moderne Mannschaft. Ein eigenes Moneyball-Märchen hat der Fußball auch schon: Das Wunder des FC Midtjylland, der mittels Algorithmen und Wahrscheinlichkeitsrechnung überraschend dänischer Meister wurde und sogar Manchester United im Europokal-Hinspiel schlagen konnte, zeigte, wie viel Vereine durch Datengenerierung herausholen können. Mit Packing scheint es nun eine zuverlässige Statistik zu geben, mit der nachweislich Erfolg (auch von Einzelspielern) gemessen werden und gleichzeitig für den Zuschauer verständlich sein kann.

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Packing-Werbevideo der Firma Impect

Bayer Leverkusen, RB Leipzig oder Borussia Dortmund wissen dies offenbar zu schätzen und arbeiten mit der Impect GmbH zusammen. Mit der TSG Hoffenheim und Borussia Mönchengladbach führt das Unternehmen mittlerweile auch Gespräche. Es sind die üblichen Verdächtigen, wenn es um neue Wege im Fußball geht. Scholl würde von Laptop-Trainern sprechen. „Mit Roger Schmidt und seinem Trainerteam haben wir eine perfekte Konstellation getroffen, weil sie sehr offen für innovative Ideen im Fußball sind und uns auch sehr viel Input gegeben haben, wie wir etwas filtern sollen", bescheinigt auch Keppler. Um neue Anfragen muss sich bei Impect zumindest niemand Sorgen machen. Das liegt vor allem an der Inszenierung von Packing bei der EM.

„Packing ist durchaus ein Meilenstein, vor allem auch wegen der öffentlichen Darbietung. Das gab es so noch nicht", erklärt Taktikexperte Rene Maric. Viele Statistiken erreichen nie den Zuschauer. Impect nutzt die große Bühne der EM, um ihren exklusiven Statistikwert sowohl den Fußball-Fanatikern mit Sky-Abo als auch dem nur gelegentlichen Großturnier-Zuschauer zu präsentieren. Die clevere Öffentlichkeitsarbeit des noch jungen Unternehmens dürfte Impect und die Packing-Statistik in neue Sphären katapultieren. Das weiß auch Geschäftsführer Keppler: „Durch die EM und die Berichterstattung in der ARD haben wir viel Aufmerksamkeit bekommen und wir haben erste Anfragen bekommen." Aber Packing könnte noch mehr—etwa den Transfermarkt verändern.

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„Wir sind noch etwas davon entfernt, dass der Marktwert von Toni Kroos steigt, wenn wir bei ihm eine hohe Packing-Rate ermitteln", erklärt Keppler. „Aber Packing verändert ein Stück weit die Perspektive auf die Spieler." Kroos ist ein Paradebeispiel. Er hat einen der besten Packing-Werte Europas und brillierte mit seinen Zahlen von überspielten Gegnern auch bei der EM. Vor allem für vergleichsweise unauffällige Strippenzieher wie Kroos gibt es durch Packing endlich einen Wert, der ihre starken Leistungen honoriert. „Kroos war bei Bayern, Real und Deutschland Stammspieler, aber es gibt immer noch Leute, die sagen, dass er nur quer spielt und nichts Besonderes macht." Impect analysiert auch die Daten der Passempfänger. Hier holt Mesut Özil Spitzenwerte, „der oft unterschätzt wird, obwohl er ein überragendes Raumgefühl hat, sich zwischen die Ketten fallen lässt, die Bälle fest macht und immer Lösungen unter sehr hohem Druck findet."

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Einzelspieler können durch Packing in den Vordergrund rücken. „Für Scouts oder Analysten ist es eine sehr interessante Methode", erklärt Keppler. Das Scouting will man bei Impect zwar nicht ersetzen, es soll jedoch die Vorauswahl der Spieler erleichtern und diese miteinander vergleichen. „Wir haben für Bayer Leverkusen die komplette Uefa Youth League ausgewertet und im Anschluss an das Turnier übermitteln wir ihnen, welche Highlight-Spieler auf verschiedenen Positionen auffällig waren oder ins Raster passen", so Keppler. Im Mai werteten sie mit dieser Methode auch für RB Leipzig ein Turnier von U23-Nationalmannschaften aus.

Teams wie Real Madrid oder auch Eintracht Frankfurt und der HSV werden zwar immer noch primär nach Namen und Toren einkaufen, doch „Packing" wird das Einkaufen vieler Klubs ergänzen oder vielleicht sogar verändern. Und je mehr Aufmerksamkeit der Wert bekommt, desto wichtiger wird er für Manager, Scouts und ihre Interessen auf dem Transfermarkt. Schon diesen Sommer nahmen Taktikgurus wie Pep Guardiola oder Arsène Wenger für Packing-Musterschüler viel Geld in die Hand. Arsenals Neuzugang Granit Xhaka gehörte bei der EM mit Kroos und Iniesta zu den stärksten zentralen Mittelfeld-Spielern in der Kategorie des Gegnerüberspielens. Gündogan, der bei Dortmund ein zentraler Spieler war und mit seinen Bällen oft in die Tiefe hohe Werte erzielte, wechselte zu Manchester City. Wenger und Guardiola kannten wahrscheinlich den Packing-Wert überhaupt nicht, doch Arsenal- und ManCity-Fans kann der Wert helfen, solche Transfers nachzuvollziehen. In Zukunft werden wohl noch mehr Vereine nach Packing-Genies suchen.

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Durch die Packing-Analyse schreitet der Fußball in seiner Technisierung weiter voran. Er ermöglicht es auch, komplexe Leistungen auf einen Wert herunterzubrechen und dem Fan mit Liebe für den perfekten Pass endlich einen vergleichbaren Nummernwert zu geben. Der große Gewinner ist sicherlich die Firma Impect, die durch eine kluge Idee und noch clevereres Marketing einen gewinnbringenden Trend gesetzt hat. Der Fan muss sich wohl darauf einstellen, dass der moderne Fußball immer taktischer wird und es immer weniger Raum für leidenschaftliche und unkontrollierbare Sturmläufe nach vorne gibt. Statt „einem guten Näschen" oder „Kreativität" brauchen Spieler nun einfach einen guten Packing-Wert—der aber wenigstens vergleichbar ist.

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