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Aufklärung

Wird der Fußball immer antisemitischer?

Warschau-Fans sangen „Jude, Jude BVB", BVB-Hools schmetterten antisemitische Gesänge und Luzerner Anhänger jagten einen verkleideten Rabbi durch die Straßen. Der grassierende Nationalismus in Europa schlägt bei vielen Fans in Antisemitismus um.
Foto: Imago

„Jude! Jude!" soll es am Abend des 14. Septembers durch das Stadion Wojska Polskiego in Warschau geschallt haben. Während die Legia-Spieler bei der 0:6-Niederlage gegen Borussia Dortmund weitestgehend harmlos agieren, zeichnete sich auf den Tribünen ein anderes Bild ab. Neben einem Angriff auf den Dortmunder Block zeigten vor allem die antisemitischen Rufe einiger Warschauer das hässliche Gesicht des Fußballs. Über zehn Jahre warteten die Legia-Anhänger auf die Rückkehr in der Champions League. Die Choreo der Warschauer Ultras stellte daher auch die rhetorische Frage „Guess who's back?". Man möchte fast antworten: Leider.

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Auch manche Anhänger des BVB sorgten bereits mit antisemitischen Gesängen im Pokalzug für einen Eklat. 2015 jagten FC Luzern-Fans einen Mann, der als orthodoxer Jude mit FC St. Gallen-Schärpe verkleidet war, durch die Straßen. Bei einem Freundschaftsspiel im kroatischen Osijek wurden die israelischen Spieler mit „Sieg Heil" begrüßt. Ist der Antisemitismus also ein Problem des gesamten europäischen Fußballs? „Ja", meint der israelische Historiker Moshe Zimmermann im Interview mit VICE Sports. Zimmermann ist seit 1986 Direktor des ‚Richard-Kloebner-Center for German History' an der Hebräischen Universität Jerusalem. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Historie des Antisemitismus und Sport in der Geschichte.

VICE Sports: Moshe Zimmermann, am 1. Spieltag der Champions League fiel der Anhang von Legia Warschau durch antisemitische Parolen auf. Nicht das erste Mal, dass Fans aus Osteuropa damit in die Schlagzeilen gerieten. Ist Antisemitismus im Fußball ein rein osteuropäisches Problem?
Moshe Zimmermann: Bestimmt nicht. Antisemitismus im Sport gab und gibt es auch im Westen, auch in Deutschland. Darüber können zum Beispiel die Mitglieder der jüdischen Klubs in Deutschland ein Lied singen. Nur ist man im Westen besser auf dieses Problem vorbereitet, einfach, weil es hier zum Thema gemacht wurde und wird. Im Osten Europas und auch in der DDR hat man sich mit diesem Phänomen einfach lange Zeit gar nicht befasst. Das erklärt, warum Antisemitismus—und Rassismus—in diesen Teilen von Europa mehr zum Vorschein kommen.

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Moshe Zimmermann

Legia Warschau leugnete in einer offiziellen Pressemitteilung noch in der Nacht nach dem Spiel die antisemitischen Sprechchöre seiner Anhänger und behauptete, die Fans hätten die Dortmunder „Nutte" und nicht „Jude" genannt. Wie bewerten Sie das Verhalten der Klubverantwortlichen?

Polen hat sich in der jüngeren Vergangenheit verändert und ist nationalistischer, illiberaler und rassistischer geworden. Hinzu kommt, dass in Polen versucht wird, die Geschichte neu zu schreiben. So zum Beispiel beim Thema Judenverfolgung während und nach dem 2. Weltkrieg. Diese Haltung zeigt ja, dass sich die Regierung und viele ihrer Anhänger nicht angemessen mit dem Problem des Antisemitismus auseinandersetzen. Schon gar nicht im Fußball. Es wird—nicht nur hier—lieber dementiert, statt der Sache auf den Grund zu gehen.

Wie sollte ein Verein Ihrer Meinung nach reagieren, wenn sich antisemitische Ausfälle in der eigenen Fanszene beobachten lassen?
Vor allem anders als die Verantwortlichen von Legia Warschau. Also: Zunächst mal eingestehen, dass es ein Problem gibt. Anschließend die schuldigen Fans bestrafen und gleichzeitig versuchen, sie für das Thema zu sensibilisieren. Die beinharten Nazis werden sie damit nicht erreichen, aber sicherlich gibt es auch Schreier, die das aus purer Ignoranz getan haben. Die kann man zumindest ein wenig aufklären.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung der europäischen Fanszene bezüglich antisemitischer Tendenzen?
Auch innerhalb der Fanszene lässt sich der gegenwärtige Trend in Europa—hin zum Rechtspopulismus und Rassismus—beobachten. Die Anzahl der Fankurven, die sich offen und aggressiv dazu bekennen, steigt immer mehr. Und das sind nicht nur Teilnehmer von Pegida-Demonstrationen.

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Können Sie Negativbeispiele der vergangenen Jahre nennen?
Dass zum Beispiel die Fans von Ajax Amsterdam oder Tottenham Hotspur, die sich zu ihrer jüdischen Vergangenheit bekennen, regelmäßig antisemitisch beschimpft werden, ist hinlänglich bekannt. Aus Deutschland fällt mir das Banner ein, das Anhänger von Dynamo Dresden 2011 beim Spiel gegen Hansa Rostock zeigten. Das war Antisemitismus in Reinform. Schlimmer sah es auch nicht in Streichers „Stürmer" aus.

Partizan-Fans beim Spiel gegen Tottenham; Foto: Imago

Gibt es positive Beispiele dafür, wie sich eine Fanszene selber reinigen kann, wenn es darum geht, sich gegenüber Antisemiten im Block zu wehren?
Bei Borussia Dortmund gab es früher ein großes Problem mit rechtsradikalen Fans. Auch dank jahrelanger intensiver Fanarbeit hat man es geschafft, dass heute im BVB-Fanblock eine wesentliche offenere und toleranter Kultur herrscht. Viele deutsche Vereinsmuseen beschäftigen sich seit Jahren mit der Aufarbeitung der eigenen antisemitischen Vergangenheit, ich habe das selbst beim HSV und Eintracht Frankfurt beobachten dürfen. Das ist ein wichtiger Part in der Erziehung der eigenen Fans. Was für positive Ergebnisse das haben kann, zeigt sich am Beispiel der Bayern-Anhänger, die vor zwei Jahren an den von Nazis verjagten ehemaligen Vereinspräsidenten Kurt Landauer erinnerten.

Die AfD feiert in Deutschland einen Wahlerfolg nach dem nächsten, zuletzt mit 14,2 Prozent bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin. Lässt sich durch das Erstarken der AfD eine Zunahme der antisemitischen Auswüchse im Fußball beobachten?
Vermuten, nicht beobachten. Aber man hat ja am Beispiel Pegida gesehen, wie intensiv radikale Fangruppen und politische Rechtsausleger zueinander finden können. Ich bin mir sehr sicher, dass es eine Wechselwirkung zwischen den AfD-Erfolgen und Fanszenen gibt.

Die UEFA ermittelt gegen das Verhalten der Legia-Warschau-Fans, die Ergebnisse stehen noch aus. Wie sollten die großen Verbände reagieren, wenn die Bühne Fußball dafür genutzt wird, antisemitische Parolen zu verbreiten?
Mit harten Strafen bis hin zum Ausschluss aus den Wettbewerben. Das gilt übrigens auch für israelische Vereine wie Beitar Jerusalem, wo eine extrem rassistische Fangruppe seit Jahren ungestraft wüten darf.

Viele namhafte Stars sind Teil der UEFA-Kampagne „No to Racism". Bräuchte es eine ähnliche Kampagne zum Thema Antisemitismus?
Nein. Wenn man den Rassismus bekämpft, bekämpft man per definitionem auch den Antisemitismus. Was fehlt, ist eine anständige Aufklärung. Aufklärung darüber, was Antisemitismus ist. Und das ist Aufgabe der Schulen und der allgemeinen Erziehung, nicht des Fußballs.