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Wieso die Weltgesundheitsorganisation Singles bald als Behinderte einstuft

Die UN-Behörde wird Unfruchtbarkeit und das „Recht auf Familiengründung“ völlig neu definieren: Für Singles und Schwule ändert das einiges.

Bild: Shutterstock

Wer Single ist, gilt ab kommendem Jahr als behindert—klingt erstmal empörend und unglaubwürdig, hat aber einen ernsten Hintergrund. Die WHO wird nämlich schon sehr bald den Begriff der Unfruchtbarkeit völlig neu definieren (die wiederum als Behinderung oder, wie es im englischen Originaltext heißt, als disability klassifiziert wird). Die Neudefinition soll auch Singles oder homosexuellen Menschen dabei helfen, rechtmäßigen Zugang zu Techniken zur künstlichen Befruchtung zu erlangen—das verrät zumindest einer, der am Text mitgeschrieben hat.

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Als unfruchtbar wird ein Mensch also in Zukunft nicht mehr nur dann gelten, wenn das Sperma von mangelhafter Qualität ist, die Eierstöcke nicht durchlässig genug sind oder andere medizinische Ursachen vorliegen, wegen denen man in einem Zeitraum von zwölf Monaten des ungeschützten Sexes keine Kinder zeugen kann. Laut der neuen Definition der WHO ist auch der- oder diejenige unfruchtbar, der über einen längeren Zeitraum keinen geeigneten Partner findet.

Dass man hier überhaupt über Glossar-Einträge diskutiert, ist nicht nur Begriffsklauberei, sondern eine große Sache. Was die WHO festlegt, hat nicht selten enorme Auswirkungen auf die Gesetzgebung in den einzelnen Nationalstaaten und stößt so gut wie immer eine größere weltweite Debatte an—erinnern wir uns an die vielfach verzerrt berichtete Meldung, dass Wurst krebserregend sei.

Dabei ist es alles doch gar nicht so schlimm: Niemand hat die Absicht, euch die Wurst wegzunehmen

„Die Definition der Unfruchtbarkeit ist jetzt so verfasst, dass sie das Recht aller Individuen einschließt, eine Familie zu gründen, und das schließt Single-Männer, Single-Frauen, schwule Männer und lesbische Frauen ein", wird Dr. David Adamson im Telegraph zitiert, der den Text dieser revolutionären Neuregelung mitformuliert hat. „Das ist eine große Veränderung", erklärt er—hieße das doch, dass Paare mit Kinderwunsch im Zweifel keine Vorfahrt vor Singles bekommen, wenn es um künstliche Befruchtung geht.

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Dass es definitiv ein Update und eine Änderung an dem Text geben wird, gilt als sicher. Im Hauptquartier der WHO in Genf gibt man sich allerdings etwas zugeknöpfter und verweist auf ein knappes Statement. Aus dem geht hervor, dass eine Revision der Unfruchtbarkeitsbegriffe—das Glossar wurde in seiner Originalversion 2009 verfasst—aktuell diskutiert würde.

Die Aussagen von Dr. Adamson möchte die WHO nicht kommentieren, da „Herr Adamson nicht direkt bei uns arbeitet, sondern lediglich in einer Partneroganisation sitzt, die an dem Glossar arbeitet", wie Tarek Jarasevic gegenüber Motherboard erklärt. Besonderen Wert legte der Genfer WHO-Mitarbeiter auf die Tatsache, dass die überarbeitete Version „auch nur eine klinische Beschreibung eines Defizits" sein würde und keine Handlungsempfehlungen erteilt. Wie genau der Text, der Gesundheitsbehörden weltweit laut Adamson 2017 vorgelegt wird, dann aussehen wird, ist also bislang nur aus zweiter Hand bekannt.

Künstliche Befruchtung im Kinderwunschzentrum Düsseldorf. Bild: imago

Sollte die Definition der Unfruchtbarkeit erweitert werden, würden Gesundheitsbehörden weltweit implizit dazu angehalten, den Zugang zu Techniken der künstlichen Befruchtung auch Menschen zu ermöglichen, die keine offensichtlichen medizinischen Probleme haben, sondern einfach nur niemanden zum Kindermachen. Die bisherige Regelung in Deutschland sieht gemäß der aktuellen WHO-Definition den Zugang zu in-vitro-Befruchtungstechniken erst vor, wenn ein Paar zwölf Monate lang Sex hatte, ohne dass es zur Befruchtung kam (und die Ursache unklar ist) oder die Ursache der Unfruchtbarkeit medizinisch nachgewiesen werden konnte.

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Setzt die Entscheidung global einen neuen Standard—denn nichts anderes ist die Absicht der Weltgesundheitsorganisation—, dürfte in Zukunft eine ganze Menge Druck an die Krankenkassen weitergegeben werden, die die Gelder für künstliche Befruchtungen verwalten und Behandlungen genehmigen.

Wie viele Alleinstehende von dem Recht der Familiengründung überhaupt Gebrauch machen wollen, ist noch längst nicht klar—doch Kritiker warnen bereits jetzt, dass Paare, die gemeinsam auf ein Kind warten, nicht das Nachsehen haben dürften. Andere kritisieren die WHO für ihren Vorstoß, weil sich die Partnerwahl eher in einer sozialen Sphäre abspiele als dass sie ein zu regulierendes Gesundheitsthema darstelle.

Nach der Logik des WHO-Vorstoßes müsste konsequenterweise auch Deutschland seine Gesetze anpassen—auch wenn die Vorschläge der UN-Organisation für die Nationalstaaten nicht rechtlich bindend sind und sich die WHO bemüht, gegenüber Motherboard zu betonen, man wolle keinesfalls Regulierungsempfehlungen erteilen.

Für Single-Frauen mit Kinderwusch könnte sich einiges ändern.

Inwiefern die Neuklassifizierung von Singles beider Geschlechter als Menschen mit Behinderung nun auch den Zugang zu künstlicher Befruchtungs-Technologie für Alleinstehende in Deutschland reformieren könnte, ist sehr fraglich: Bei uns ist sowohl die Eizellenspende als auch die Leihmutterschaft verboten.

Damit ändert sich für einen schwulen, männlichen Single mit Kinderwunsch de facto nichts. Möchte er ein Kind, müsste er dies von einer Leihmutter im Ausland, zum Beispiel in Tschechien, austragen lassen. Für alleinstehende Frauen dagegen könnte sich einiges ändern.

Denn bislang übernimmt die gesetzliche Krankenkasse zwar die ersten drei Versuche einer künstlichen Befruchtung zu mindestens 50 Prozent, doch unter strengen Voraussetzungen: Paare, die diese Option als letzte Methode in Anspruch nehmen wollten, mussten häufig entweder verheiratet sein oder zumindest in einer stabilen Beziehung leben.

Genau dieses Beziehungsmodell passt die WHO nun an die Realität an. Daher sollten wir froh sein, wenn Singles von Seiten der WHO nun bald in einem bestimmten Kontext als behindert oder in ihrer Funktion eingeschränkt gelten—auch wenn noch sehr viele Fragen offen bleiben.