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Psychologie

Warum arbeitet der Fußball nicht enger mit Psychologen zusammen?

Im Gegensatz zu anderen Sportarten wird im Fußball kaum auf die Arbeit von Psychologen vertraut. Warum sich das unbedingt ändern sollte, haben uns zwei Experten verraten.
Photo by Mark J. Rebilas-USA TODAY Sports

Geistige Gesundheit gehört nicht wirklich zu den Dingen, die auf der Agenda der hypermaskulinen Welt des Profifußballs stehen. Kein Wunder, wird das Thema doch sogar in unserer Gesellschaft fernab der Sportwelt häufig noch tabuisiert. Doch schaut man sich an, in welchem Umfang Fußball sportmedizinische Erkenntnisse, statistische Analysen und performance-fördernde Technologien einsetzt, ist es umso erstaunlicher, warum man beim Thema Psychologie so sehr hinterher hinkt.

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Bücher wurden darüber geschrieben und TED-Reden gehalten, außerdem kamen Athleten aus anderen Sportarten zu Wort, die allesamt betont haben, wie wichtig ihr Geist—und dessen Gesundheit—beim Erzielen sportlicher Erfolge war. Klar, man kann nicht messen, wie sehr sich Emotionen und mentale Stabilität auf sportliche Ergebnisse auswirken, doch was neben dem Platz passiert, hat definitiv einen Einfluss auf Sportler.

Dass dem so ist, zeigen uns diverse Einzelfälle im Fußballbereich. Wilson Palacios, ein ehemaliger Mittelfeldspieler mit Champions-League-Erfahrung, hat nie wieder an seine alte Form anknüpfen können, nachdem sein Bruder in Honduras gekidnappt und anschließend ermordet wurde.

Und nachdem ein gewisser Angel Di Maria kurz nach seinem Wechsel zu Manchester United Opfer eines Einbruchs wurde, hatte er große Schwierigkeiten, in seinem neuen Umfeld Fuß zu fassen und Vertrauen aufzubauen.

Oder Roberto Soldado, der bei seinem alten Verein in Valencia Tore wie am Fließband schoss, aber nach seinem Wechsel zu Tottenham plötzlich unter unerklärlicher Ladehemmung litt. Bis dann die Nachricht durchsickerte, dass sein Leistungstief zeitlich mit einer Fehlgeburt seiner Frau zusammenfiel.

Auch im deutschen Fußball gibt es prominente Beispiele: Da wäre etwa der Fall des ehemaligen Bundesliga-Schiedsrichters Babak Rafati, der unter schweren Depressionen litt und im November 2011 versucht hat, sich das Leben zu nehmen; Sebastian Deisler, der viel zu schnell als Heilsbringer des deutschen Fußballs auserkoren wurde und unter dem enormen Druck fast zerbrach; und natürlich der Freitod von Robert Enke, der eine ganze Nation in tiefe Trauer gestürzt hat und dessen Tod ein Umdenken in Sachen Depression im Leistungssport zur Folge haben sollte (Betonung auf sollte).

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Und dann wäre da noch der Fall von Tobias Rau, der in einem Interview mit VICE Sports von großen Egoismen sprach und betonte, dass es so etwas wie einen echten Mannschaftsgedanken eigentlich gar nicht mehr gebe.

Das Fußballgeschäft und die Kunst, von eigenen Fehlern abzulenken

Die Liste ließe sich beliebig erweitern, bleibt also nur die Frage, wie sehr sich das Privatleben eines Fußballers auf seine Leistung auf dem Platz auswirkt.

„Die Ergebnisse aus der Wissenschaft sprechen eine klare Sprache: Die Arbeit von Psychologen hat in vielen Fällen einen entscheidenen Anteil daran, ob ein Athlet Spitzenleistungen erzielt", sagt Tom Bates, ein Performance-Coach, der schon mit Olympioniken und Fußballern aus der Premier League zusammengearbeitet hat. „Andere Sportarten haben viel weniger finanzielle Mittel als Fußball, dennoch sehen wir, dass man sich dort gegenüber psychologischen Erkenntnissen viel aufgeschlossener zeigt."

Bates erinnert sich in diesem Zusammenhang besonders an eine Szene aus der Zeit, als er mit dem FC West Bromwich Albion zusammengearbeitet hat.

„Das bloße Wort Psychologie schreckt schon viele Menschen ab. Die denken, wenn bei einem Spielergespräch ein Psychologe zugegen ist, dann muss der Kollege irgendein Problem haben. Als ich damals zum ersten Mal das Trainingsgelände betrat und mir der damalige Kapitän Steven Reid entgegen kam, zeigte der mit dem Finger auf mich und meinte: „Du bist also der neue Seelenklempner, bei dem ich mich auf die Couch legen muss und der mir irgendwelche Dinge zum Analysieren vor die Nase halten wird". Ich meinte daraufhin nur, dass ich nicht gekommen sei, um irgendetwas zu beheben, sondern um ein paar Extraprozentpunkte an Leistung rauszukitzeln".

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Die Heimspielstätte von West Bromwich, „The Hawthorns". Foto: Wiki Commons.

Der langjährige Leistungspsychologe Dr. Barry Cripps sagt, dass weiterhin eine Stigmatisierung und Vorurteile vorherrschen, wenn es um geistige Gesundheit geht.

„Viele haben noch immer Angst, dass sich jegliche Inanspruchnahme psychologischer Hilfe negativ auf die eigene Karriere auswirken könnte. Spieler denken, dass sie aus dem Team fliegen könnten, sollten sie zugeben, dass sie unter psychischen Problemen leiden. Darum verschweigen sie es in vielen Fällen lieber. Das gilt insbesondere für solche Teams, die nicht öffentlich machen, dass man mit Psychologen zusammenarbeitet. Das Hauptproblem besteht darin, dass viele Fans und sogar manche Trainer und Manager sagen: „Warum braucht der einen Psychologen, um den Ball ins Tor zu schießen?".

Cripps ist überzeugt davon, dass sich das Privatleben auf die sportlichen Leistungen auswirkt, genauso wie das auch in anderen Berufsfeldern zweifelsohne der Fall ist. Er verweist auf den Fall eines Patienten, der bis zu dem Tod seines Kindes ein äußerst erfolgreicher Marketing Director bei einem großen Unternehmen war—danach brach seine Leistung ein und die Verkaufszahlen gingen massiv zurück. Eine Therapie konnte aber helfen.

„Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es auch in der Sportwelt mit ganz normalen Menschen zu tun haben. Die mögen zwar mit besonderen Talenten ausgestattet sein, dennoch bleiben es vor allem eins: Menschen. Und als solche sind sie nun mal unweigerlich mit ihren Gefühlszuständen verbunden", so Bates weiter. „Das Leben als Profisportler ist nicht leicht: Man muss mit großem öffentlichen Druck leben, bei dem es wichtig ist, sein Selbstbewusstsein stetig zu stärken und Rückschläge richtig einzuordnen. Kommen dann private Probleme dazu, die sich auf die Psyche des Sportlers auswirken, ist es nur logisch, dass das einen Einfluss auf seine Leistung haben kann."

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„Als erstes muss immer die Person kommen und erst danach der Fußballer", ergänzt Bates. „Wenn du dem Menschen helfen kannst, wirst du vom Spieler umso mehr zurückbekommen."

Dennoch warnt Dr. Cripps davor, eine 1:1-Relation zwischen persönlichen Erlebnissen und der Leistungsentwicklung aufzustellen.

„Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf ein und denselben Schicksalsschlag", so Cripps. „Nehmen wir zum Beispiel das sogenannte Munich Air Disaster aus dem Jahr 1958, das fast der gesamten Mannschaft von Manchester United zum Verhängnis wurde und das deutlich machte, dass eine solche Relation nicht wirklich möglich ist."

Denn obwohl er acht seiner Mitspieler bei dem tragischen Flugzeugunglück verloren hatte, hat der damals 20-jährige Sir Bobby Charlton das Erlebte—aufgrund der Tatsache, dass er überleben durfte—als wichtige Motivationsspritze für den Rest seiner Karriere angesehen.

Trotzdem, betont Bates, sei ein Umdenken in der Welt des Fußballs dringend nötig.

„Ich arbeite eng mit Spielern und Trainern zusammen, doch das Thema psychische Probleme ist noch immer mit einem Stigma behaftet, weswegen viele davor zurückschrecken, Zeichen von Schwäche zu zeigen", so Bates weiter. „Psychologie muss nicht immer nur als Heilverfahren verstanden werden, sondern auch als eine effektive Präventivmaßnahme, um die Leistung der Spieler zu verbessern."

Dr. Cripps glaubt, dass der nächste Schritt über eine Reform „von oben" zu gehen habe.

„Ich bin absolut überzeugt davon, dass alle Vereine—und nicht nur die Topvereine—Psychologen in ihrem Team haben sollten. Wir müssen endlich Barrieren durchbrechen."

Fußball ist eine Sportart, die sich oft selber im Weg steht, indem sie nötigen Reformen gegenüber viel zu oft eine ablehnende Haltung einnimmt. Doch angesichts der Tatsache, dass der Sport wächst und wächst und immer mehr Starspieler immer jünger werden, scheint es absolut notwendig, dass bestimmte Veränderungen—zum Beispiel hinsichtlich psychologischer Anlaufstellen—in den Statuten verankert werden, die sich bereits in anderen Sportarten als äußerst effektiv erwiesen haben.

Immer wieder sehen wir Fußballer, die innerhalb einer Saison erst reihenweise Topleistungen abrufen, um dann urplötzlich eine Reihe von grottenschlechten Spielen abzuliefern—ohne dass wir uns diese Leistungsschwankungen erklären können. Bei unseren Stammtisch-Interpretationsrunden sollten wir uns in Zukunft vielleicht häufiger mal ins Gedächtnis rufen, dass hinter dem „Chancentod" X in erster Linie ein Mensch steht, der eventuell mit privaten Problemen zu kämpfen hat, die sich direkt auf seine Leistung auf dem Platz auswirken könnten.