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Mitternachtssnacks

Essen im Schlaf: Geständnisse eines Zombie-Eaters

Nächtliches unbewusstes Essen ist für die Betroffenen ein großes Problem, vor allem weil sie das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren und komplett verrückt zu werden. Oft ist es Schokolade, es könnte aber auch eine im Schlaf gebutterte Zigaretten...
Nachts vor dem Kühlschrank
Photo via Flickr user katiecamera

Einmal, ich glaube, ich war so 14 Jahre alt, kam meine Mutter in die Küche, als mir gerade ein paar Würstchen in Butter gebraten habe. Es war mitten in der Nacht und ich schlief.

Bis heute kann ich mich nicht an diese nächtliche Kochaktion erinnern, aber ich habe keine Zweifel: Noch am nächsten Morgen hing der Geruch nach frisch gebratenen Würstchen in der Küche. Anscheinend hab ich die kleinen Mistdinger sogar ordentlich mit Senf bestrichen.

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Ich hatte schon immer Schlafprobleme: Schlaflosigkeit, Schlafwandeln, wenn ich bei Freunden übernachtet habe, habe ich immer wirres Zeug im Schlaf gemurmelt. Ein paar Mal hat man mir sogar gesagt, dass ich im Schlaf unbedingt Sex haben wollte. Ich weiß überhaupt nicht, was ich mache, während ich schlafe, bis ich am nächsten Morgen aufschrecke und mich nur noch entschuldigen kann.

Schlaftrunken stolperte ich in Küchen, habe mit Pfannen und Töpfen geklappert und ganze Gläser mit Erdnussbutter ausgegessen, um meinen anscheinenden Hunger zu stillen.

Solche Schlafstörungen—dazu gehören auch unbewusste Ausflüge zum Kühlschrank—sind eigentlich ziemlich ähnlich. Die Betroffenen fangen mitten in der Nacht an zu snacken und plündern im Pyjama die Essensvorräte.

Schlaftrunken stolperte ich in Küchen, habe mit Pfannen und Töpfen geklappert und ganze Gläser mit Erdnussbutter ausgegessen, um meinen anscheinenden Hunger zu stillen. Eine Zeit lang gab es immer Toast mit ordentlich Butter. Diejenigen, mit denen ich irgendwie mal zusammengewohnt habe, berichten auch von auf mysteriöse Weise verschwundenen Pizzen und Fischstäbchen. Und natürlich ist mir mehrmals der ein oder andere Kuchen zum Opfer gefallen.

Vor ein paar Jahren war es am schlimmsten: Ich bin auf einmal in einem 24-Stunden-Supermarkt aufgewacht und war total perplex, wie benommen lag ich vor dem Joghurtregal. In meiner linken Hand hielt ich ein paar Weintrauben, die ich mir ergattert haben muss. Das war ein ganz neues Level: Ich bin schlafwandelnd einkaufen gegangen. Das war ein ziemlicher Schock.

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Zum Glück habe ich es geschafft, dass es nicht mehr ganz so schlimm ist—auch wenn der Weg dahin nicht gerade einfach war.

Nächtliches Essen ist ein viel weiter verbreitetes Problem, als man es sich vielleicht vorstellt. Es gibt zwei Kategorien: Entweder es handelt sich eher um eine Essstörung, derjenige ist beim nächtlichen Essen bewusst (das sogenannte Night Eating Syndrome (NES)), oder es ist eher eine Mischung aus Schlaf- und Essstörung und derjenige ist nicht bei Bewusstsein (auch Nocturnal Sleep-Related Eating Disorder (NSRED) genannt).

Ich hatte schon Patienten, die Katzenfutter oder rohes Hühnerfleisch gegessen haben. Kuchen ist relativ normal.

Beide Störungen sind für die Betroffenen ziemlich belastend und werden oft missverstanden.NSRED, man könnte es auch Zombie-Essen nennen,ist aber vielleicht am besorgniserregendsten. Schätzungen zufolge leiden fünf Prozentder Bevölkerungan NSRED. Oft kommen noch Alkohol- und Drogensucht hinzu.

„Beide [Störungen] sind natürlich unangenehm. Aber ich glaube, man kann sagen, dass das NES dadurch verursacht wird, dass tagsüber nicht viel gegessen wurde, eher wie bei einer Essstörung bzw. kommt der Hunger nachts", erklärt Dr. Paul Reading, Vorsitzender der British Sleep Society und Neurologe im Krankenhaus in Middlesborough. „NSRED hingegen ist eine Parasomnie und kann ein Problem von vielen sein."

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Bei seinen NSRED-Patienten sind Reading schon so einige merkwürdige Dinge untergekommen. „Man befindet sich im Halbschlaf und hat ein bestimmtes Ziel. „Die Menschen sind nicht mehr sie selbst und sind sich ihrer Handlungen gar nicht bewusst. Der Teil des Gehirns, der für Erinnerung und Persönlichkeit verantwortlich ist(der Frontallappen) ist wie abgeschaltet. Das Gehirn funktioniert zwar, kann aber keine Erinnerungen speichern. Man isst wie im Autopilot."

Was vielleicht weniger überraschend kommt: NSRED-Betroffene nehmen oft zu. Ich hatte Glück, ich hatte nur sporadische Essanfälle, sodass ich damit klar kam, aber einige essen bis zu sechs Mal in der Nacht.

„Die Leute tun die wahnwitzigstenDinge", so Reading. „Sie essen Dinge roh oder essen etwas, das sie sonst nie essen würden. Das kann richtig schlimm sein. Ich hatte schon Patienten, die Katzenfutter oder rohes Hühnerfleisch gegessen haben. Kuchen ist relativ normal."

Dr. Michael Howell arbeitet am Fachbereich für Neurologie der University of Minnesota und leitet ein Programm zur Erforschung von Behandlungsmethoden bei Schlafstörungen.Auch er hat schon viele verzweifelte Zombie-Eater getroffen.

„Oft ist das gefährlich", so Howell. „Viele essen nur kleine Mengen, aber die Tatsache, dass sie sich an nichts erinnern können, belastet sie am meisten."

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Wie er anmerkt, können auch Medikamente, insbesondere Schlafmittel, die Zolpidem enthalten, auch zu NSRED führen. Viele Patienten mit Schlafstörungen sind allerdings auf solche Medikamente angewiesen: Er glaubt, dass der Wirkstoff zwar die Schlafprobleme bekämpft, aber nicht die innere Unruhe, die zu nächtlichen Essattacken führt. Den Betroffenen fällt es schwer, sich zu entspannen oder zu beruhigen. Verschiedene Studien unterstützen Howells Vermutung.

„Wenn jemand, der nachts im Wachzustand isst, Schlafmittel verschrieben bekommt, kann das zu NSRED führen", so Howell. „Diese Medikamente wirken zweifach: Einerseits erinnert man sich an nichts und andererseits unterdrücken sie die Funktion des präfrontalen Cortex, der für die Verhaltenskontrolle verantwortlich ist, was dann zu ungezügeltem Essen führt."

Ähnlich wie Paul Reading hat auch Howell schon mit Patienten zu tun gehabt, die nachts im Schlaf Nüsse knacken oder Zigaretten mit Butter einschmieren. Und auch maßvolles Essen ist schwer, wenn man keine Ahnung hat, was man nachts so tut.

„Eine Patientin hat innerhalb von sechs Monaten 25 Kilo zugenommen", erinnert sich Howell. „Oft essen Betroffene Dinge mit viel Fett und vielen Kalorien."

Ein Betroffener—nennen wir ihn einfach Jack—, hat sowohl im Schlaf als auch im Wachzustand Essattacken und bereitet sich vor dem Zubettgehen vor, indem er sich einen Schokoriegel oder einen anderen Snack neben das Bett legt. Wenn es dann soweit ist, ist alles vorbereitet.

„Meistens bin ich mehr oder weniger wach", erzählt er mir. „Manchmal bin ich bei vollem Bewusstsein, schaffe es aber nicht, aufzuhören. Manchmal schlafe ich. Es ist wie ein innerer Zwang."

Oft isst er Schokolade, aber er weiß auch, dass auch er irgendwann im Schlaf gebutterte Zigaretten essen könnte. „Ich sehe das nicht als großes Problem, nur dieser Kontrollverlust ist schon etwas beunruhigend—ich könnte ja irgendwas essen."

Viele Betroffene haben nicht nur Angst davor, zuzunehmen, sondern auch davor, verrückt zu werden. Ich habe mich selbst manchmal fragt, ob be mir wirklich noch alles rundläuft. Einige fühlen sich depressiv, frustriert und schämen sich für ihre nächtlichen Anfälle—obwohl laut Experten Schlafstörungen nicht zu den Symptomen einer psychischen Störung gehören.

Das ist allerdings nur wenig Trost für diejenigen, die mitten in der Nacht futtern und nicht wissen, was sie da tun. Bei mir ist es zwar mittlerweile länger her, dass mich jemand schlafend in der Küche gefunden hat, aber ich habe immer noch Angst, dass ich eines Tages wieder unter einem Berg von Essen aufwache.