Ich reiste ins Vaterland aller Äpfel

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Apfel

Ich reiste ins Vaterland aller Äpfel

Der heutige Apfel stammt von einer Wildapfelsorte ab, die im südlichen Kasachstan heimisch ist. Wir fuhren in die einzigartigen kasachischen Wildapfelwälder, in denen kein Apfel dem anderen gleicht. Finde heraus warum.

Der Vater des großen Apfels ist der kleine Apfel.

Um die Küche einer Kultur wirklich zu verstehen, muss man zuerst die Geschichte der Leute und ihrer Interaktionen mit ihrer Umwelt, die sich ständig verändert, verstehen.

Kasachstan ist das größte Binnenland der Welt. Bis 1991 war es Teil der UdSSR. Erst dieses Jahr öffnete es anderen Ländern seine Grenzen und erlaubt bestimmten Besuchern, ohne Visum einzureisen, was das Ganze natürlich ein bisschen einfacher macht.

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Die Einwohner von Kasachstan setzen sich hauptsächlich aus Kasachen und russischen Immigranten und ein paar wenigen anderen Zentralasiaten zusammen. Der Umgang zwischen diesen Völkern ist mittlerweile großteils harmonisch, aber als das sowjetische Regime in den 1930er Jahren kasachische Nomaden und Kleinbauern in die Kollektivwirtschaft zwang, herrschte am Land komplettes Chaos. Die Landwirtschaftsreform war zumindest teilweise an der massiven Hungersnot schuld, an der ungefähr 38 Prozent der kasachischen Bevölkerung starb. Der Einfluss dieser großen Hungersnot in der jüngeren Geschichte hallt gespenstisch nach und macht Studien über Essen immer besonders ergreifend.

Almaty ist die größte Stadt des Landes und die ehemalige Hauptstadt. Es ist ein uralter Ort auf der Route der Seidenstraße, was an den Märkten der Stadt immer noch ersichtlich ist. Almatys zentraler Zelionyj Bazar ist in zwei Hauptbereiche aufgeteilt. In der Fleischabteilung ist Pferd die erste Wahl der Einheimischen, gefolgt von Schaf. Aufgrund der weiten Verbreitung des Islams ist Schweinefleisch nicht erhältlich. Frauen verkaufen das Pferdefleisch in großen Stücken und lassen die reichen Kunden die Stücke selbst aussuchen, die sie dann mit reichlich Salz und Knoblauch in Wurstdärme stopfen.

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Frauen verkaufen Pferdefleisch auf dem Markt.

In der Milchabteilung des Markets gibt es zahlreiche verschiedene frische Käsesorten und kleine, traubengroße Stücke getrockneter Joghurt, was die Einheimischen qurt nennen. Diese Joghurtbällchen werden wie salzige, säuerliche Bonbons gekaut oder in Wasser gekocht, um eine Art Joghurtdrink herzustellen. Außerdem gibt es die allseits beliebte koumis, entweder Stuten- oder Kamelmilch, die fermentiert wurde und deshalb Alkohol enthält und sauer schmeckt. Egal von welchem Tier die Milch stammt, das Resultat ist ein dickflüssiges Getränk, das nach Stall schmeckt. Die teurere Kamelversion ist ein bisschen eine weniger große Herausforderung.

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qurt, oder Käsebällchen

Interessanterweise ist ein ganzer Bereich des Markts ausschließlich für koreanisches Essen vorgesehen. Im Jahr 1937 wurden zahlreiche Deportierte aus Korea gezwungen, sich in Almaty niederzulassen. Sie brachten ihre eigenen nordkoreanische Küche mit und Gerichte wie leicht fermentierte Karottensalat wurden von kasachischen Imbissen am Straßenrand übernommen. Dieser Salat ist eine willkommene, gut gewürzte, gemüsebasierte Ablenkung von der allgegenwärtigen gekochten Pferdesuppe.

Nirgendwo ist die Geschichte von Almaty als Dreh- und Wendepunkt der Seidenstraße offensichtlicher, als an der Anzahl an getrockneten Früchten und Nüssen. An den Ständen häufen sich Pyramiden von Rosinen, Aprikosen, getrockneten Äpfeln, Mandeln, Pistazien und Walnüssen, die hier und da wieder einmal mit Säckchen voll nahöstlicher Gewürze gespickt sind. Diese stammen aus dem entfernten Iran, Afghanistan, Kirgisistan und anderswo in Zentralasien sowie aus dem nahegelegen China.

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Eine interessante Manifestation des umfassenden kulturellen Austauschs auf der Seidenstraße sind die kasachischen Teigklöße. Oft sind sie mit fadem Fleisch gefüllt, das bereits zur Zubereitung von Suppenbrühe verwendet wurde und haben die gleiche Form wie italienische tortelloni. Die Pastakultur reiste also nicht nur von China nach Italien, sondern ließ ihr Erbe auch auf den Zwischenstopps liegen.

Der russische Einfluss ist an den Samowar-Wasserkochern ersichtlich, die verwendet werden, um Tee (oder Instant-Nudeln und Suppe aus der Packung) zu kochen. Obwohl moderne Wasserkocher diese mittlerweile weitgehend ersetzen, ist deren Vormachtstellung in Kasachstan sicherlich als Weiterführung der traditionellen Samoware zu sehen, die von der russischen Kultur verbreitet wurden. Russisches Sauerkraut und Dill-Essiggurken tauchen immer wieder neben Schmelzkäse und Pferdewürsten auf. Diese werden häufig mit frittierten Teigbällchen, burak, oder mit verschiedenen Formen von Fladenbrot gegessen.

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An jeder Straßenecke sind Früchte in Eimern und alle möglichen anderen herbstlichen Leckereien aufgetürmt; Äpfel und Birnen werden von Männern angepriesen, die auch frisch gepressten Granatapfelsaft verkaufen.

Der Name der Hauptstadt Almaty (Alma-ata) bedeutet so viel wie „Vater der Äpfel". Aber was macht dieses Land zum Vaterland aller Äpfel?

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Es gibt eine Theorie, die besagt, dass sich der Ursprung einer Art dort befindet, wo dessen Vielfalt am größten ist. Diese Theorie von Nikolai Vavilov, einem Botaniker aus der Sowjetzeit, der sein Leben der Suche nach der biologischen Herkunft essbarer Pflanzen widmete, um den Hunger dieser Welt zu bekämpfen. (Er erlitt ironischerweise in einem Gulag den Hungertod.) Vavilov studierte den Ursprung des Apfels und kam zum Schluss, dass der Kulturapfel (Malus domestica) von einer Art des Asiatischen Wildapfels (Malus sieversii) abstammt, der im Süden von Kasachstan heimisch ist. Mittlerweile wurde von Genetikern bestätigt, dass alle Kulturäpfel aus den Bergen im südlichen Kasachstan stammen. Ich machte mich also auf in die Wildäpfelwälder des Tian-Shan Gebirges.

In diesen Wäldern produzieren keine zwei Bäume Äpfel mit identischem Geschmack oder gleicher Form. Bei jedem Baum, an dem wir vorbeikamen, pflückten wir einen Apfel und nahmen einen Bissen. Auf manchen Bäumen wuchsen bittere Äpfel, auf anderen sehr süße und saftige. Das Interessante an Malus sieversii ist, dass die Früchte von Baum zu Baum anders sind und geschmacklich unglaublich vielfältig, was bei anderen wilden Bäumen nicht der Fall ist. Wir fanden Äpfel, die an Sauternes-Wein, Aprikose, Bitter Lemon oder Rhabarber erinnerten. Der Geschmack reichte von süßen und sauren bis hin zu bitteren Noten. Von der Konsistenz her war alles zwischen knackig und mehlig dabei, von der Größe her alles zwischen einer Kirsche und einem Tennisball.

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In den Wäldern waren wir von essbaren Beeren, Hagebutte und allen möglichen anderen Kräutern umgeben. Wahrlich ein Paradies für Sammler. Die Menschen aus der Eiszeit erkannten schnell, dass das hier ein kulinarisches Paradies ist und hinterließen ihre Spuren in der Form von Petroglyphen auf diversen Felsen. Man kann sich gut vorstellen, wie sie einst hier saßen und Äpfel schlemmten und dort, wo sie das Kerngehäuse des Apfels hinwarfen, wuchsen neue Bäume. Nachdem über Generationen immer nur die süßesten und größten Äpfel gegessen und unabsichtlich die Samen verstreut worden waren, veränderten sich die Früchte mit der Zeit und wurden immer größer und süßer und kamen so langsam den Äpfeln näher, die wir heute kennen.

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Bear shit

Interessanterweise waren Bären ein weiteres Schlüsselelement in der Aussortierung und der Vermehrung von Äpfeln. Die Bären aßen immer die süßesten Äpfel und wenn sie reif waren, fraßen sie sich vor ihrem langen Winterschlaf damit voll. Die Kerne kamen unversehrt am hinteren Ende der Bären wieder heraus und mehr Apfelbäume mit günstigen Genen wurden im Frühling verbreitet.

Pferde mögen Äpfel auch sehr gerne und legen weitere Distanzen als Bären zurück. Pferde—die zum Reiten, für die Milch- und Fleischproduktion domestiziert wurden—ermöglichten weite Reisen entlang der Seidenstraße und verteilten so die Samen auf dem Weg. Bienen spielten als Bestäuber ebenfalls eine wichtige Rolle. Reisende Imker stehen überall am Straßenrand und verkaufen verschiedene Sorten Honig, Pollen, Gläser mit getrockneten Bienen und in Wodka aufgelöste Propolis als Medikament. Ohne die Bestäubung würde kein Apfelbaum je Früchte tragen.

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Mit den kürzlich gelockerten Grenzen findet Kasachstan möglicherweise durch Tourismus zu neuem Reichtum, was dem Land einen Grund geben würde, die natürlichen Obstwälder zu schützen. Im Herbst bleibt in dieser Region die Steppe staubtrocken, aber ein bisschen höher in den von Bergen geschützten Tälern, strahlen Aprikosen Orange und Rot, die Wildäpfel und andere Bäume verfärben sich gelb und braun und die Hänge tauchen in eine warme, leuchtende Farbpalette. Es riecht nach tausenden Äpfeln, von unreif zu verrottet und der dunklen, reichhaltigen Erde.

Die Größe und Weitläufigkeit Kasachstans führen dazu, dass die Forstwirtschaft des Landes unmöglich komplett kontrolliert werden und die Abholzung viele Wälder zerstört. Wenn das mit der derzeitigen Geschwindigkeit weitergeht, werden diese Früchte innerhalb des nächsten Jahrzehnts nicht mehr existieren.