FYI.

This story is over 5 years old.

Fleisch

Ein abgetrennter Schweinekopf hat mir einiges über ethische Viehzucht beigebracht

Ein Londoner Unternehmen bietet in seiner „Meat School" Schlachtkurse an, in denen man lernt, wie man weniger beliebte Fleischstücke zubereitet und haltbar macht.
Ein Schweinekopf

Es ist 9 Uhr früh an einem Samstag Morgen und ich stehe einem abgetrennten Kopf eines riesigen, ehemals wunderschönen Schweins gegenüber. Seine Augen sind halb geschlossen, seine Ohren stehen stolz auf und seine Zunge schaut ein klein wenig zwischen den kieselsteingroßen Zähnen hervor. Aus jedem Nasenloch sickert ein langsamer Strahl dickflüssiges Blut.

Mir war bewusst, worauf ich mich einlasse. Ich bin extra hierher gekommen, um dem Kopf dieser armen Sau in einem kalten, fast schon kahlen Zimmer am hinteren Ende des Borough Market in London gegenüberzutreten. Mit mir im Raum befindet sich das Team der Meat School, einem neuen Projekt des britischen Unternehmens Cannon & Cannon, dessen Ziel es ist, den Leuten die Herkunft, Zubereitung und Haltbarmachung von Fleisch näher zu bringen.

Anzeige
Cannon-and-Cannon-Meat-School-pig

Links und rechts neben meinem Schweinekopf befinden sich noch zwei weitere, hinter ihm steht ein junger Mann mit einer Schiebermütze, der seine Hände zärtlich auf seinen eigenen Schweinekopf gelegt hat. Der Mann heißt Hugo Jeffreys und ist der Besitzer des kleinen Ostlondonder Fleischproduktionsunternehmens Black Hand.

Er erklärt uns, was uns am heutigen Vormittag erwartet: Zuerst trennen wir das Gesicht unserer Schweine vom Schädel an, füllen es mit Kräutern und Räuchersalz und wickeln es zu einer italienischen Delikatesse, porchetta di testa, zusammen. Anschließend vermischen wir gehacktes Schweinefleisch mit Fett, Kräutern und Gewürzen, das wir dann in Rinderdärme stopfen, um eine riesige italienische Wurst daraus zu machen: cotechino.

ARTIKEL: Schlachten sieht auf Fotos immer brutaler aus, als es ist

Ich habe lange die Meinung vertreten, wer mit der Realität von Fleisch als Lebensmittel nicht umgehen kann, verdient es auch nicht, es zu essen. Bisher wurde dieser Glaube nur in Form von Innereien und Reststücken wie Hoden, Leber, Stierpenis und Knochenmark infrage gestellt. Im schlimmsten Fall waren sie essbar, im besten unglaublich lecker.

Cannon-and-Cannon-Hugo-Blackhand

Ich sehe Hugo dabei zu, wie er sich fröhlich an die unvermeidliche, grausige Aufgabe macht, das Gesicht des Tiers—unbeschädigt—von dessen Schädel zu ziehen. Die Augen bleiben in der Aushöhlung stecken, aber die Löcher (inklusive Wimpern) sind in der Maske deutlich zu erkennen. Egal, wie man es dreht und wendet, der Anblick ist und bleibt unschön. Das war's aber noch lange nicht, jetzt bin ich an der Reihe.

Anzeige

Nachdem ich bis vor einigen Jahren fast zehn Jahre lang Vegetarier war, hatte ich fast schon erwartet, dass meine erstes Schlachterlebnis das Fass endgültig zum Überlaufen bringen und ich für immer die Finger von Fleisch lassen würde—was nicht der Fall war. Bis auf ein kleines Missgeschick an einer der Backen, stelle ich mich gar nicht so schlecht an.

Als wir die Hälfte unserer Aufgaben des heutigen Tages geschafft haben, werden wir mit einem Apfelkuchen belohnt, den die Koordinatorin der Meat School Lee-Anna Rennie gebacken hat. Nachdem wir das Fett, das Blut und das Salz von unseren verschmierten Händen geschrubbt haben, unsere Metallarbeitsstationen wieder glänzen, und unsere Beute eingeschweißt und mit unseren Namen beschriftet wurde, setzen wir uns mit Bier und aufgeschnittenen Wurstwaren gemeinsam hin.

Cannon-and-Cannon-curing-meat

Die Meat School soll ein offener, zugänglicher Startpunkt für Londoner bieten, die mehr über ihr Fleisch und dessen Wurzeln herausfinden möchten. Jeffreys und Rennie möchten, dass die Leute verstehen, wieso es 2015 einfach untragbar ist, dass riesige Mengen „Reststücke" bei der industriellen Fleischherstellung auf der Müllhalde landen.

„Wir wollen alle billiges Essen", sagt Rennie. „Aber wir verstehen nicht, dass billige Lebensmittel ihren Preis haben. Den zahlst vielleicht nicht du, aber irgendjemand bezahlt ihn."

Meistens sind das die Tiere. Die industrielle Viehzucht in anderen Ländern, in denen die Tierschutzgesetzt lockerer sind, dienen häufig als Quelle für billiges Fleisch in Großbritannien. Farmarbeiter werden jedoch schlecht bezahlt und die Tiere unter grausamen Bedingungen gezüchtet.

Anzeige

Im Grunde sollte es so etwas wie billiges Fleisch gar nicht geben.

„Verbringt mal einen Tag mit einem Bauern", sagt Rennie. „Dann wisst ihr, wie verdammt schwierig es ist, Tiere richtig großzuziehen."

ARTIKEL: Diese Schweine werden bis ins Paradies massiert

Rennie und Jeffreys sind der Meinung, dass immer mehr Konsumenten wissen wollen, woher ihr Fleisch stammt. Die Gründe, warum Konsumenten sich um die Herkunft scheren und zu heimischem Fleisch greifen, sind vielfältig: Es geht dabei um Tierschutz, die Umwelt, Arbeitsplätze und die Qualität des Produkts.

Cannon-and-Cannon-Rennie

Rennie zeigt mit dem Finger auf den übrigen Kuchen und sagt: „Die Äpfel, die in diesem Kuchen gelandet sind, sind von der Sorte Spartan und ich kann euch ganz genau sagen, wo in Großbritannien und von wem diese Äpfel angebaut wurden."

Stellt euch vor, wir wüssten genau gleich viel über unseren Speck: die genaue Schweinerasse, wo es geboren und aufgewachsen ist, in welchem Schlachthof es geschlachtet wurde. Rennie gefällt die Vorstellung, aber sie bezweifelt, dass sich das durchsetzt.

„Die Leute sprechen nicht gerne darüber, dass das Tier zuerst sterben musste, um auf ihrem Teller zu landen", erklärt sie.

Rennie und Jeffreys wollen den Leuten nicht nur beibringen, wie wichtige artgerechte Tierhaltung ist, sie wollen ihnen auch zeigen, wie man die Haltbarkeit von Fleisch verlängern kann.

Anzeige
Cannon-and-Cannon-cured-meat

„Es gibt sehr, sehr alte Techniken, mit denen man Fleisch haltbar machen kann. Zwei Weltkriege haben schon dafür gesorgt. Wir haben alle gelernt, wie man aus allem das meiste herausholen kann, aber das ist verloren gegangen. Heute wollen wir alles sofort, aber richtig gutes Essen funktioniert so nicht—man muss daran arbeiten."

Ein Interesse an ethisch hergestelltem Fleisch ist für viele Leute keine Priorität, manchmal schlichtweg, weil sie es sich nicht leisten können. Deshalb ist die Verschwendung von Innereien und billigen Fleischstücken, besonders im Ausmaß wie sie in der industriellen Fleischproduktion passiert, für Rennie noch viel inakzeptabler.

Packaged-meat-Cannon-and-Cannon

„Diese Reste sind billig, haben einen hohen Nährwert und einen intensiven Geschmack", sagt sie. „Wir wollen billige Lebensmittel, aber wir sind einfach zu empfindlich."

Genau darum geht es. Ethisch produziertes Fleisch ist verdammt gut, und wir müssen diese Konditionierung auflösen, die uns sagt, wir sollen nur Lebensmittel essen, die uns nicht herausfordern. Wenn mein Tag in der Meat School irgendetwas bewirkt hat, dann ist mir wahrscheinlich jetzt bewusster denn je, dass man der Realität des Fleischkonsums nicht entkommen kann. Diese Realität ist grausam, arbeitsintensiv und von zahlreichen Problemen umwoben, die den gesamten Planeten angehen. Wollen wir das wirklich beschönigen, nur für eine billige Mahlzeit?

Kein Fleischstück sollte in unseren Augen minderwertiger oder ekliger als ein anderes sein und wer es mit sich vereinbaren kann, ein Steak zu verspeisen, der sollte auch vor jeder anderen Art von Fleisch nicht Halt machen—auch wenn es das Gesicht eines Schweins ist.