In diesem Café isst man mit den Toten

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Indien

In diesem Café isst man mit den Toten

Von außen sieht es aus wie jeder andere Laden in der indischen Stadt Ahmedabad, doch innen sitzt man zwischen 27 Gräbern. Keiner stört sich daran. Im Gegenteil: So zollt man den Verstorbenen Respekt.

Die Sidi-Saiyad-Moschee im Herzen von Ahmedabad, einer lebendigen Stadt im größten indischen Bundesstaat Gujarat, versetzt einen mit ihren wunderschön gearbeiteten Steinfenstern zurück ins 16. Jahrhundert. Doch auch hier zergeht man in der Mittagshitze fast, sodass ich, nachdem ich mit meinen Freunden ein paar Bilder gemacht habe, die Moschee wieder verlasse, um nach einer Erfrischung zu suchen. Unser Guide zeigt uns ein kühles, schattiges Restaurant, aus dessen Dach ein Baum wächst.

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Es heißt New Lucky und liegt gleich gegenüber der berühmten Moschee. Durch die Straße drängen sich Motorräder und Rikschas, über dem Eingang hängt ein großes Coca-Cola-Schild: Das New Lucky sieht wie jedes andere Restaurant in Ahmedabad aus.

New Lucky Restaurant-6

Doch sobald wir den spärlich beleuchteten Laden betreten hatten, mussten wir der Tatsache ins Auge blicken: Im New Lucky isst man mit den Toten, die Tische und Sitzecken sind um große, sargähnliche Gräber herum angeordnet.

Meine Freunde, die immer noch fertig von der Hitze sind, haben keine große Lust, sich in einem Friedhof zu erfrischen, also gehen wir nach einem kurzen Augenblick wieder

Mich lässt dieses „Friedhofsrestaurant" jedoch nicht locker, also fahre ich ein paar Tage später 40 Minuten mit der Rikscha durch die Stadt, um es mir noch mal genauer anzugucken

Das Restaurant auf dem Friedhof ist jedoch kein moderner Marketing-Gag:New Lucky wurde in den 50ern von zwei jungen Männern als Tee-Stand eröffnet, kurz nachdem Indien 1947 die Unabhängigkeit erlang hat. Der kleine Stand entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem 280 Quadratmeter großen Restaurant in einem belebten Viertel zwischen Bürogebäuden und Schulen.

Die Bedienung spricht kein Englisch und weiß nicht, an welchem Tisch sie mich platzieren soll. Kurz fühle ich mich wie in der Cafeteria in der High School, als man sich entscheiden musste, mit wem man an einem Tisch sitzt.

Schließlich sehe ich zwei Männer mit Brillen, von denen ich vermute, dass sie Englisch sprechen. Ich freunde mich mit schnell ihnen an und bestelle das Gleiche wie sie, die Spezialität des New Lucky: Masala chai und bun maska, eine Art Brötchen innen mit Butter beschmiert.

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Waiters hustles around in the cemetery restaurant.

Einer der Gründer des Restaurants, Kutti Nayar, ist mittlerweile 72 Jahre. Er sitzt still in einer Ecke des Restaurants, neben ihm sitzt sein Sohn, Rajiv, der die ganze Zeit auf sein Handy guckt. Den ursprünglichen Teestand hatte Nayar zusammen mit seinem Partner Mohammadbhai im Schatten eines Niembaumes aufgestellt. Hinter ihnen und damit gegenüber der berühmten Moschee lang der Friedhof. Hier verkauften sie Masala Chai an die Einwohner aus dem Viertel und an Besucher der Moschee und des Friedhofs.

Als ihr Geschäft größer wurde, entschieden sich die beiden, ein richtiges Gebäude zu errichten und auf dem Gelände des Friedhofs ein Restaurant zu gründen. Sie haben sich den Schnitt genau überlegt: Es sollte eine Kombination sein aus Teestube, wo die Lebenden zusammenkommen, und Grabstätte, wo die Toten ruhen.

Die Tische sind sorgfältig um die umzäunten Gräber herum angeordnet. Die Restaurantbesitzer säubern und dekorieren die Gräber auch mit Blumen, um den Toten Respekt zu zollen.

Die beliebte Kombination aus Masala Chai mit bun maska hat viele Kunden angezogen.Einer davon war der berühmte Maler M. F. Husane, eine Freund des mittlerweile verstorbenen Geschäftspartners Mohammadbhai. Eines seiner Bilder, das jetzt hier hängt, besteht aus abstrakten Farbfeldern und zwei Kamelen, darüber steht eine „Kalma", eine Ehrerbietung an Gottund der Satz: „Gott ist einer."

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Das New Lucky wurde deshalb so erfolgreich, weil es hier einzigartig schmeckt: Ihren Tee machen sie auf ganz eigene Art, mit Kakaopulver. „Im ganzen Laden roch es nach Chai", erzählt Girish Gupta, ein Touristenführer, der durch die historischen Stätten in Ahmedabad führt und für den das New Lucky eine echte Sehenswürdigkeit ist.

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Schon kurz nach dem Bestellen bekomme ich meinen Chai. Ein Kellner gießt den heißen Tee in eine kleine Porzellantasse, schokobrauner Tee läuft auf die Untertasse, die schon ziemlich viele Flecken hat.

Der Tee schmeckt noch intensiver, als seine Farbe vermuten lässt – eine Mischung aus heißer Schokolade und Chai. Die wohl leckerste indische Alltäglichkeit bringt die Toten und die Lebenden, Muslime und Hindus an einen Tisch und haucht der Altstadt neues Leben ein.

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Die beiden Gründer haben neben dem Restaurant auch eine kleine, bescheidene Moschee errichtet, um die Toten zu ehren und die Lebenden beten zu lassen. In der Moschee ist es – anders als im Restaurant – still und nur wenig besucht. Meine neuen Tee-Freunde raten mir davon ab, durch die Tür zu spähen. Das wäre wohl ein bisschen aufdringlich.

Neben Masala Chai gibt es hier die ganze Bandbreite der indischen Küche, viele Gäste kommen aber nur wegen des Klassikers – Tee und Brötchen. Das wird auch in den meisten Online-Rezensionen auf Zomato, dem „indischen Yelp", empfohlen. In vielen Bewertungen werden die 27 Gräber nicht einmal erwähnt.

Und auch kein Gast scheint sie zu beachten, zumindest errege ich wesentlich mehr Aufsehen, als ich den Laden betrete. Die Gäste essen, trinken, unterhalten sich, wie in jedem anderen Café auf der Welt auch.

Der Laden ist beliebt, das bestätigt auch der 62-jährige Leiter des New Lucky, Ruzak Bhai Mansuri: „Wir sind von fünf Uhr morgens bis circa Mitternacht geöffnet, meistens ist immer viel los."

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Religionswissenschaftler Dr. Anand Venkatkrishnan interessiert sich sehr für das Restaurant auf einem muslimischen Friedhof. Er stammt eigentlich aus einer tamilischen Brahmanen-Familie, die traditionell ihre Toten einäschern, verweist aber auf das sogenannte shraaddha-Ritual: Bevor die Toten in die andere Welt verabschiedet werden, werden sie symbolisch gefüttert.

Das Restaurant erinnert ihn an das Essen in der 13-tägigen Trauerzeit.

„Die Atmosphäre bei der Zeremonie und beim Essen ist zugleich ernst und feierlich. Ernst, weil man dem Toten gedenkt, feierlich, weil man mit dem noch lebenden Rest der Familie Zeit verbringt", erklärt Venkatkrishnan.

Auch wenn Leben und Tod eigentlich wie Tag und Nacht sind, meint Ahmet Kargi, ein muslimischer Bestatter aus New York, bauen Muslime ihre Moscheen und Friedhöfe oft an solchen Orten, dass die Menschen einfach beten und den Toten Respekt zollen können.

„Die Friedhöfe", erklärt er, „sind eine tägliche Erinnerung an die eigene Sterblichkeit."