Popkultur

Nach 'Game of Thrones' bleibt nur ein drachengroßes Loch in meinem Herzen

Die aktuelle Folge "The Long Night" ist das Beste, was ich je gesehen habe. Kann es eine Welt nach GoT geben – und wenn ja, möchte ich in ihr leben? (garantiert spoilerfrei)
Jon Snow und Arya Stark in Winterfell

Montag, 6:18 Uhr. Mein Wecker klingelt zum zweiten Mal, ich habe nur einmal Snooze gedrückt. Das ist ungewöhnlich, aber es ist eben auch kein normaler Montagmorgen. Kein Montagmorgen ist mehr normal, seit die achte und letzte Staffel von Game of Thrones läuft. In den USA zeigt HBO die jeweils aktuelle Folge am Sonntagabend, in Deutschland müssen Westeros-Begeisterte früh aufstehen, wenn sie sich nicht den kompletten Arbeitstag durch ein Spoiler-Minenfeld laufen wollen. Game of Thrones ist ein globales Ereignis wie keine andere Serie zuvor, wie kein anderes Produkt der Popkultur überhaupt.

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Ich rolle mich zur Seite und klappe meinen Laptop auf. Dann schlurfe ich in die Küche und mache Kaffee. So kann der Stream von "The Long Night" noch etwas vorladen. Auf mich wartet die große Schlacht zwischen den White Walkern und den Menschen in Winterfell. Die Fans sind seit Tagen angespannt, ich bin seit Tagen angespannt. Es ist wie ein kollektives Luftanhalten.

Der Night King schien lange der sichere Endboss bei Game of Thrones. Was bedeutet es, dass Jon Snow, Daenerys Targaryen und eigentlich alle, bis auf Cersei Lannister, jetzt schon auf ihn treffen? Vielleicht stirbt niemand, vielleicht sterben alle, vielleicht fliegt der Night King auf seinem Eisdrachen auch erst nach King’s Landing und übernimmt den Iron Throne. Je nachdem, welcher Fan-Theorie auf Reddit man glauben mag.


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Ich werde euch die dritte Folge nicht durch Spoiler kaputt machen. Nur so viel: "The Long Night" ist unglaublich – visuell, musikalisch, dramaturgisch. Game of Thrones weiß, was wir erwarten, und spielt damit. Lässt uns glauben, wir verstünden, in welche Richtung sich die Schlacht entwickelt, um wenige Momente später alles wieder einzureißen. Es gibt keine Helden in der Schlacht um Winterfell, nur Menschen, die alles und gleichzeitig nichts zu verlieren haben. Das fühlt sich echter an, als sich eine Fantasy-Serie mit Drachen und Eiszombies eigentlich anfühlen sollte. Selbst als die Credits laufen, hat sich meine Atmung noch nicht beruhigt.

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So etwas habe ich noch nie gesehen, denke ich, adrenalinbedingt zitternd, mit absurd ausgeprägter Gänsehaut und dem dringenden Bedürfnis, ein bisschen zu weinen. Kein popkulturelles Produkt, kein Film, kein Videospiel, keine Serie, hat es geschafft, dass ich mich so fühle, während ich es konsumiere. Red Dead Redemption 2 hat mir das Herz gebrochen, Breaking Bad meinen Puls in ungesunde Höhen getrieben und bei Avengers: Endgame sind meine Augen hinter der 3D-Brille ziemlich feucht geworden. Aber fast eineinhalb Stunden Angst, wirklich Angst, um fiktive Charaktere, die in einer fiktiven Welt fiktive Schlachten austragen, hatte ich noch nie. Es ist 8:20 Uhr, der Kaffee kalt und ich habe das Gefühl, am Ende zu sein. Mental und körperlich.

"Ich habe noch nie in meinem Leben etwas Besseres gesehen", schreibt mir ein Kollege. "Ich bin 82 Minuten lang gestorben."

Das Phänomen ist so groß geworden, dass die Ausstrahlung einer jeden Folge ein globales Ereignis ist – inklusive anschließender kollektiver Traumabewältigung. Egal in welcher Zeitzone, ob abends mit Bekannten auf der Couch oder frühmorgens allein im Bett, Game of Thrones guckt man nie allein.

Auf dem Weg ins Büro scrolle ich durch den GoT-Subreddit und stelle erleichtert fest: Nein, ich bin nicht die einzige, die nicht weiß, wie sie sich fühlen soll. Der meistgenutzte Hashtag auf Twitter ist den kompletten Vormittag hindurch #GameofThrones. Menschen auf Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch teilen ihre Eindrücke zur Folge. Ihre Begeisterung, ihr Unverständnis, ihre Frustration, ihre Aufgewühltheit.

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Dutzende Nutzerinnen und Nutzer betteln ihre Timeline an, keine Spoiler zu posten. Selbst die, die keine Fans sind, scheinen sich zwanghaft am öffentlichen Diskurses beteiligen zu müssen und teilen der Welt ungefragt mit, sich ja überhaupt nicht für Game of Thrones zu interessieren. Natürlich unter Verwendung des Hashtags, damit ihre Ablehnung sichtbar wird. Die Serie ist nach acht Staffeln so groß, dass auch vermeintlich Unbeteiligte eine Meinung dazu haben müssen.

Wenige Stunden später sitze ich im Büro und versuche, meine Gefühle zu "The Long Night" in Worte zu fassen. Ich verwerfe Gedanken und Ansätze, tippe Sätze und lösche sie wieder. Ich möchte keine Rezension zu dieser Folge schreiben, keine offenen Fragen diskutieren, mir kein Urteil bilden müssen. Ich weiß nicht, ob es gut ist oder schlecht, was ich da gesehen habe. Ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist, was ich gerade fühle. Nur, dass ich etwas fühle. Und Worte fühlen sich nicht groß genug an, um dieses Gefühl zu beschreiben.

Heute Abend werde ich die aktuelle Folge nochmal gucken, falls mir in meiner ersten Aufregung wichtige Details entgangen sind. Im Fitnessstudio lasse ich mir in den folgenden Tagen über Kopfhörer von GoT-Superfans auf YouTube erklären, was wir nun von den letzten drei Folgen erwarten können. Auf Twitter, Reddit und Imgur werde ich mich durch Memes und lustige Recaps scrollen und verdrängen, dass ich absolut keine Ahnung habe, wie ich dieses drachengroße Loch füllen soll, wenn die letzte Folge gelaufen ist. Kann es überhaupt eine Welt nach Game of Thrones geben – und wenn ja, möchte ich in ihr leben?

Valar morghulis, alle Menschen müssen sterben, ist einer der zentralen Sätze von Game of Thrones. Und was für Menschen gilt, gilt auch für die Serie. Auch sie muss irgendwann ein Ende finden. Denn hinter all den Drachen und Familienfehden und Machtkämpfen und Untoten und magischen Mischwesen steht ein zentrales Motiv: Menschlichkeit, mit all ihren Schwächen. Vielleicht ist es genau das, was Game of Thrones zum größten Serienphänomen unserer Zeit gemacht hat.

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