Die 19-jährige Josephine wartet auf eine Spenderlunge
Alle Fotos: Flora Rüegg

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Organspende

Offener Brief: "Was wollt ihr mit euren Organen, wenn ihr tot seid?"

Die 19-jährige Josephine wartet auf eine Spenderlunge. Als wir sie im Krankenhaus besuchen, erklärt sie, wie wichtig ein Organspendeausweis ist. Selbst wenn man ‘Nein’ ankreuzt.
Laura Binder
aufgeschrieben von Laura Binder

Ich hatte ein "normales" Leben, bis ich circa 13 Jahre alt war. Na ja, was heißt normal. Meine Eltern waren von Anfang an sehr offen zu mir. Als ich ein Kind war, sagten sie mir: "Pass auf, Josi, du musst Tabletten nehmen und öfter ins Krankenhaus, weil du eine Krankheit hast." Ich bin mit meinen Geschwistern aufgewachsen und konnte alles machen, was mein zwei Jahre jüngerer Bruder auch machen konnte. Ich konnte rennen, Fahrrad fahren, schwimmen. Ich habe damals bei Wettkämpfen im Schwimmen erfolgreich teilgenommen. Von meiner Oma und meinem Papa wurde ich viel in Watte gepackt, hatte früh ein Handy und musste mich ständig melden, wenn ich unterwegs war. Ich durfte nie zum See Schwimmen gehen, aber habe es trotzdem gemacht. Ich war feiern, habe Freunde getroffen. Meine Familie hat mich nicht unbedingt als Kranke behandelt, aber sie wollten besonders viel Acht auf mich geben.

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Nach meinem Empfinden haben sie mich zu stark umsorgt. Ich habe mich ja nie richtig krank gefühlt. Bis zum letzten Jahr, als sich alles verändert hat: Seit November 2017 stehe ich auf der Warteliste für eine Spenderlunge.

In mir bildet sich zäher Schleim, der meine Organe verstopft

Ich habe Mukoviszidose, das ist eine angeborene Stoffwechselerkrankung, die dadurch entsteht, dass ein Gen beider Elternteile defekt ist. Dieser Gendefekt wurde mir vererbt. Meinen Eltern ist aufgefallen, dass ich ständig verschleimt und verschnupft war und angeblich dauernd eine Bronchitis hatte. Ich hatte immer mehr Hunger, aber konnte Essen schwer verdauen. Ich wurde ständig zum Kinderarzt geschickt, bis dann im Mai 1999 die Erbkrankheit Mukoviszidose bei mir entdeckt wurde. Da war ich ein halbes Jahr alt, ein Baby.

Ich bin mit der Krankheit aufgewachsen. Ich wusste, in mir bildet sich zäher Schleim, der meine Organe verstopft. Die Krankheit ist selten, in Deutschland kommen pro Jahr nur etwa 200 Kinder damit auf die Welt. Ich musste viel inhalieren und bei der Physiotherapie lernen, wie man richtig tief einatmet, um den Schleim auszuhusten. In meiner Kindheit und Jugend war ich häufig und oft länger in der Klinik in Hannover, meiner Heimat. Bis sich meine Eltern trennten und ich mit meiner Mutter nach Berlin gegangen bin. Hier kam ich 2015 das erste Mal länger in die Klinik. Und seit August dieses Jahres wohne ich hier auf der Station.

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Ich war acht Jahre alt, als ich das erste Mal von einer Organspende gehört habe. Ich habe mich gefragt, was das ist, und angefangen, Fragen zu stellen. Mir war durch meine Krankheit von Anfang an klar, dass ich irgendwann darauf angewiesen sein könnte. Das fühlte sich komisch an. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich wirklich ein fremdes Organ annehmen kann. Durch das Leben in der Klinik habe ich andere Muko-Patienten kennengelernt und es sind enge Freundschaften entstanden. Mit meiner besten Freundin habe ich länger ein Zimmer auf der Station geteilt. Sie hat bereits eine erfolgreiche Transplantation hinter sich und geht wieder zur Schule. Ich kenne noch andere, die gelistet und dann transplantiert wurden und denen es besser geht. Das hat mir Mut gemacht und meine Entscheidung bestärkt, ein Organ anzunehmen.

In der Berliner Klinik habe ich einen Jungen kennengelernt, der auch Mukoviszidose hatte und mein bester Freund wurde. Er war bereits für eine Spenderlunge gelistet. Vor drei Jahren hatte er seine Transplantation. Es wäre auch alles super gelaufen, aber dann hat sein Körper das Organ abgestoßen. Nach der OP lag er im Wachkoma und meine Eltern meinten, ich solle mich langsam von ihm verabschieden. Ich bin irgendwann nicht mehr hingegangen, um nach ihm zu sehen, habe seine Eltern nicht mehr gefragt, wie es ihm geht und mich von ihm distanziert. Er ist zwei Monate später gestorben. Ich hatte Schuldgefühle, aber die Ärzte haben lange mit mir gesprochen, dass sie ihn nicht mehr retten konnten und es nichts mit mir zu tun hatte.

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Alle meine Freunde haben mittlerweile einen Organspendeausweis. Klar, auch durch mich. Viele junge Leute glauben leider, sie kommen gar nicht als Spender in Frage. Aber ihr habt ein Auto, fahrt mit dem Motorrad oder Fahrrad. Ihr seid gesund, ihr macht Fehler und genau dann passiert euch was. Und das sind die Fälle, wo die perfekten Organe herkommen. Es sind nicht die alten Menschen, die im Krankenhaus sterben. Bei denen wird meist gar nichts entnommen, auch wenn viele das denken.

Wenn ich nicht Mukoviszidose hätte, wäre ich trotzdem Organspenderin. Ich habe sogar jetzt als Muko-Patientin einen Spenderausweis. Ich kann vielleicht keine inneren Organe spenden, aber meine Haut oder die Augenhornhaut. Und das kann auch helfen. Da ich nur 1,55m groß bin, brauche ich eine Kinderlunge. Aber Kinderlungen gehen meist zuerst an Kinder, da diese automatisch immer HU-Patienten sind, das bedeutet sie sind "High Urgent" und stehen dadurch höher in der Liste. Oder ich brauche eine Lunge von einem Mann oder einer Frau, die ähnlich gebaut sind wie ich. Das schränkt die Auswahl ein, deshalb ist es wichtig, dass es viele potentielle Spender gibt.

Die Ärzte stellen in letzter Minute fest, dass ich meine Periode habe. Der Eingriff ist zu gefährlich, ich könnte auf dem OP-Tisch verbluten.

Momentan bin ich in der Klinik und warte. Ich werde um acht Uhr morgens geweckt und habe Physiotherapie. Ich lerne, richtig zu husten und zu atmen. Dann komme ich zurück in mein Zimmer und frühstücke vorm Fernseher. Alle vier Stunden kommen Pflegerinnen und Pfleger rein und schauen nach mir, auch nachts, wenn ich schlafe. Ich bekomme dreimal täglich vier Spritzen mit Medikamenten, um die Keime in meiner Lunge zu töten. Abends kommt dann Besuch, mein Freund schläft, so oft es geht, hier bei mir auf einem Zustellbett.

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Ihn habe ich über die Datingapp Lovoo kennengelernt. Vor guten drei Monaten war meine beste Freundin noch mit auf der Station und wir haben uns aus Spaß diese App heruntergeladen. Steven wurde mir angezeigt, weil er in meiner Nähe war, und ich musste ihn anschreiben. Wir waren uns direkt sympathisch und haben Nummern ausgetauscht. Ich hatte sowas vorher nie benutzt und es fühlte sich komisch an, einem Fremden meine Nummer zu geben.

Ich wollte von Anfang an ehrlich sein. Bevor wir uns das erste Mal getroffen haben, habe ich ihm geschrieben, das ich im Krankenhaus bin. Er fragte warum und ich schrieb ihm, dass ich eine Krankheit habe, auf eine neue Lunge warte und dass er sich nicht so viel Hoffnungen machen soll, dass ich schnell wieder gesund werde. Steven antwortete mir, er hätte sich bereits in mich verguckt und wolle mir zur Seite stehen. Wir haben uns draußen auf dem Klinikgelände getroffen, an seinem Geburtstag, und er meinte das schönste Geschenk an diesem Tag sei die Begegnung mit mir gewesen. Abends haben wir nochmal telefoniert und er meinte, er möchte mich trotz meiner Krankheit haben. Mich hatte es vorher schon komplett erwischt und seitdem sind wir zusammen und sehen uns fast jeden Tag. Wir kochen ab und zu in der Patientenküche zusammen und er ist für mich da, das macht mich glücklich.

Er war auch da, als ich den ersten Anruf bekommen habe vor ein paar Wochen. Mein Handy klingelte uns beide spät abends aus dem Schlaf. Am Telefon wurde mir gesagt, es gäbe eine passende Lunge für mich. Ich schickte meinen Freund auf die Station, er sollte den Arzt holen. Dann rief ich meine Eltern an: Es geht los. Mein Freund verdrückte ein paar Freudentränen, während ich noch nicht richtig wach war und mir klar wurde, was passiert. Ich wurde komplett gewaschen und desinfiziert. Dann lag ich auf der Liege vorm Operationssaal in der Berliner Charité. Doch die Ärzte stellten in letzter Minute fest, dass ich meine Periode hatte. Der Eingriff war zu gefährlich, ich hätte auf dem OP-Tisch verbluten können. Die Lunge ging an jemand anderen und ich kam gegen halb vier Uhr morgens zurück in mein Zimmer.

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Ich habe erstmal wieder geschlafen, weil ich so müde war. Am Morgen danach dachte ich mir dann: Scheiße. Es ist manchmal scheiße, eine Frau zu sein. Ich wusste, dass es mit Fieber und einer Erkältung nichts mit einer Transplantation wird. Die Regelblutung war mir so nicht bewusst, sonst hätte ich es gleich gesagt und mich auch nicht gefreut. Ich wurde von anderen angesprochen, auch die Klinik-Psychologen wussten Bescheid. Vor meiner Mama und meinem Freund war ich stark, aber als ich ganz allein war, habe ich ein paar Tränen vergossen. Ich freue mich einerseits, weil mein Körper irgendwie noch gesund ist und wirklich nur die Lunge nicht funktioniert, aber auf der anderen Seite kommt dann doch etwas Traurigkeit, dass es nur wegen meiner Periode nicht geklappt hat. Aber hey, ich hoffe und warte weiter.

Kein Arzt schaut als Erstes in euer Portemonnaie, sondern versucht, euer Leben zu retten.

Selbst ich weiß noch nicht alles über Organspende. Aber viele junge Leute sind echt schlecht informiert. Bei mir in der Schule wurde gar nicht darüber gesprochen. Ich habe meine Klassenkameraden selbst aufgeklärt, weil mich die anderen gefragt haben, warum ich Sauerstoff habe und immer so huste. Ab der Pubertät sollte man auch schon an den Schulen besser informieren und sagen: Ihr seid Organspender. Ihr müsst keine Angst davor haben. Und ja, ihr müsst besser aufgeklärt werden.

Es kursieren komische Sachen, die Angst machen. In einer aktuellen Befragung von Appinio gaben 70% an, keinen Organspendeausweis zu besitzen. Als Hauptgrund nennen die 16- bis 35-Jährigen die Angst, im Notfall nicht richtig versorgt zu werden. Diese Angst müsst ihr nicht haben. Ärzte leisten einen Schwur, die müssen helfen. Sonst wird ein Verfahren gegen sie eingeleitet, das bleibt nicht unentdeckt, weil ein Arzt immer einen Leichenschauschein ausstellen muss und der Arzt in der Regel nicht alleine an einem Unfallort ist und euch mit Absicht liegen lässt. Man muss für hirntot erklärt sein, bevor mehrere Ärzte die Organspende prüfen und genehmigen. Man ist "lange" tot, bevor überhaupt Organe entnommen werden. Niemand lässt einen zu früh sterben, die wissen ja nicht mal, ob man überhaupt in Frage kommt. Kein Arzt schaut als Erstes in euer Portemonnaie, sondern versucht, euer Leben zu retten.

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Die Krankenhäuser handeln auch nicht mit den Organen. Es kostet ein Krankenhaus mehr, ein Organ zu entnehmen, als Leben zu retten. Ja, es gab Skandale, aber seitdem sind verschärfte Gesetze in Kraft getreten. Alle Organe werden über die Stiftung Eurotransplant zentral vergeben. Meine Spenderlunge kann zum Beispiel aus Bulgarien oder den Niederlanden kommen. Es geht hier nicht um Geldmacherei, sondern um Menschlichkeit.

Mittlerweile trage ich meinen Sauerstoffschlauch 24 Stunden, jeden Tag. Früher wollte ich damit nicht rausgehen, falls mich jemand sieht und die Leute gaffen. Ich könnte ohne überleben, aber irgendwann hätte meine Lunge nicht genug Sauerstoff und ich würde zusammenbrechen. Ausprobieren möchte ich das nicht. Ich hatte immer Angst, dass mich alle angucken und blöde Fragen stellen. Ich hab einmal aus Solidarität den Schlauch mit meiner besten Freundin mitgetragen, als ich es noch nicht musste, damit sie sich wohler fühlt. Und dann wurden wir dumm angemacht von Leuten auf der Straße: "Äh raucht ihr schon? Habt ihr eure Lungen kaputt gemacht?!" Jetzt habe ich mich dran gewöhnt, aber damals habe ich die Anfeindungen nicht verstanden. Niemand kann etwas dafür, wenn er krank ist. Hier im Krankenhaus habe ich einen langen Schlauch und kann mich im Zimmer bewegen. Wenn ich rausgehe, dann habe ich eine mobile Sauerstoffflasche und trage meist zusätzlich noch einen Mundschutz, um mich nicht mit Viren oder Bakterien anzustecken. Oft ist auch ein Rollstuhl dabei, damit die Belastung für mich nicht so groß ist.

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Wenn der Tod heute kommt, ist das halt so. Ich habe mein Leben in dem Sinne gelebt.

Meine Familie und meine Freunde behandeln mich alle ganz normal. Sie sind genauso wie ich mit meiner Krankheit aufgewachsen. Mein kleiner Bruder ist jetzt in der ersten Klasse und weiß schon, was er werden möchte: Schleimarzt für seine Josi. Er versteht, was Mukoviszidose ist und möchte Medizin studieren, um Lungen zu züchten. Das ist sehr niedlich, auch wenn das leider noch nicht geht.

Meine größte Angst ist, meine Familie zu verlieren. Nichts, was mit meiner Krankheit zu tun hat. Ich habe bereits über den Tod nachgedacht, aber fürchte mich davor nicht. Als mein Opa gestorben ist, war ich 13 Jahre alt. Da habe ich gedacht: Was würde passieren, wenn ich einfach weg bin? Wie viele würden um mich trauern? Aber sonst habe ich mir nie mehr Gedanken darum gemacht. Meine Familie ist evangelisch und glaubt an Engel. Und jeder, der stirbt, ist ein Engel für die Familie. Und wenn ich sterbe, bin ich als Engel noch für sie da. Das gibt mir ein gutes Gefühl. Ich war noch nie super down und habe nächtelang geweint. Ich habe mich an meine Krankheit gewöhnt. Ich lebe jeden Tag so, dass ich mir sagen kann: OK, wenn der Tod heute kommt, ist das halt so. Ich habe mein Leben in dem Sinne gelebt.

Ich bin der Meinung, jeder sollte Organspender sein. Es gibt fast 10.000 Menschen wie mich, die jeden Tag hoffen und warten. Wenn man gestorben ist, frage ich mich: Was wollt ihr mit euren Organen, wenn ihr tot seid? Man braucht sie nicht mehr. Andere Menschen könnten dadurch aber überleben. Du bist ja auch ohne deine Organe noch ein Mensch, selbst wenn du gestorben bist. Und du bist auch nicht entstellt nach einer Entnahme, das bist du ja nach einer normalen Operation auch nicht.

Ich kann es trotzdem akzeptieren, wenn jemand keine Organe spenden möchte. Wenn du keine Organe spenden willst, dann geh los, hol dir die Plastikkarte und kreuz halt "Nein" an. Aber mach es, weil es eine bewusste persönliche Entscheidung ist und du nicht aufgrund von unbegründeten Ängsten vor dem Ausweis zurückschreckst.

Ich mache jetzt erstmal die ganze Transplantations-Geschichte. Dann möchte ich gern meine Schule fertig machen, die ich seit meinen langen Klinikaufenthalten nicht mehr besuchen kann. Ich würde gern Abi machen und eventuell etwas mit Kunst studieren. Irgendwann möchte ich groß heiraten, vielleicht ein Haus bauen, Hunde haben. Und eventuell irgendwann Kinder bekommen, das weiß ich noch nicht. Klar, da ist eine kleine Angst, dass mein Kind auch Mukoviszidose bekommen könnte, aber ich würde das akzeptieren und mein Kind genauso unterstützen, wie ich auch unterstützt worden bin.

Wie werde ich Spender?

Einen Organspendeausweis bekommt ihr zum Beispiel bei eurer Krankenkasse oder ihr könnt euch unter www.organspende-info.de einen Ausweis nach Hause bestellen. Dort erfahrt ihr auch mehr zum Thema Organspende und alles rund um den Ausweis.

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