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Streit auf Antarktis-Station eskaliert zu lebensgefährlicher Messerstecherei

Einem russischen Ingenieur droht ein Prozess wegen versuchten Mordes: Er soll in der Antarktis auf einen Kollegen eingestochen haben. Der Fall zeigt, wie Forschende im ewigen Winter an ihre Grenzen kommen.
Bellingshausen-Forschungsstation in der Antarktis
Bild: imago | Tass Publication

Es ist der 9. Oktober, als in der Einsamkeit der Antarktis ein lange schwelender Streit zwischen einem Schweißer und einem Ingenieur in einer Messerstecherei eskaliert. Einzelheiten der Tat kommen erst Wochen später ans Licht, doch inzwischen bieten verschiedene russische und englischsprachige Medienberichte einen ersten Überblick über die Ereignisse in der abgelegenen russischen Versorgungs- und Forschungsstation Bellingshausen.

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Was in der Antarktis passiert ist, macht auch deutlich: Polizeiarbeit findet am Südpol unter ganz besonderen Bedingungen statt. Das Opfer des Angriffs ist der 52-jährige Schweißer Oleg B., der schon seit Monaten mit dem 54-jährigen Elektroingenieur Sergey S. zerstritten gewesen sein soll. Am Sonntag, den 9. Oktober, eskaliert der Konflikt: Der 52-jährige B. verhöhnt den Ingenieur S. und schlägt vor, er solle gegen Bezahlung auf dem Tisch tanzen.

Der Berichten zufolge stark alkoholisierte S. geht daraufhin mit einem Messer auf B. los und sticht ihm mehrmal in die Brust. B. ist schwer verwundet und wird so schnell wie möglich in ein Militärkrankenhaus in Chile gebracht, wie die Associated Press berichtet, wo die Ärzte sein Leben retten können. Laut des Nachrichtenportals 47news gehen die Ärzte davon aus, dass er sich vollständig erholen wird und bald nach Russland zurückkehren kann.

Hölzerne Kirche statt U-Haft-Zelle

S. solle sich kurze Zeit nach dem Angriff bei dem Leiter der Bellingshausen-Station gestellt haben, wie AP berichtet. Aufgrund des seltenen Flugverkehrs musste S. noch fast zwei Wochen auf der Bellingshausen-Station bleiben. Erst am 20. Oktober konnte er laut der russischen Nachrichtenseite AIF nach Sankt Petersburg zurückfliegen. Auf den ersten Blick mag es seltsam wirken, dass S. noch über eine Woche nach der lebensgefährlichen Attacke unbehelligt in der Antarktis leben konnte und nicht verhaftet oder von Polizisten verhört wurde. Doch eine Möglichkeit zur Flucht hätte er in der Abgeschiedenheit der Antarktis kaum gehabt. Wie die Motherboard US berichtete, musste sich S. in Ermangelung von Alternativen in einer winzigen, hölzernen orthodoxen Kirche aufhalten.

Nach seiner Rückkehr soll S. die Messerstecherei gestanden haben. Anschließend wurde er bis zum 8. Dezember unter Hausarrest gestellt, danach droht ihm ein Prozess wegen versuchten Mordes. So berichtet es zumindest die russische Nachrichtenagentur Interfax.

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S. soll allerdings ausgesagt haben, dass er nicht beabsichtigt habe, seinen Kollegen zu töten, berichtet das russische Nachrichtenportal Nevnov. Der Schweißer und der Ingenieur sollen bereits in den Jahren 2014 und 2015 gemeinsam in der Antarktis stationiert gewesen sein. Doch offenbar ist die Feindseligkeit zwischen den beiden bis zu diesem Jahr nicht derart eskaliert.

Das Leben in der Antarktis ist eine psychische Herausforderung

Man darf nicht außer Acht lassen, unter welch extremen Bedingungen die Menschen in den isolierten Stationen der Artkis und Antarktis leben. Der Ingenieur S. war zum Beispiel bereits seit sechs Monaten auf der Bellingshausen-Station stationiert. Das bedeutet, er lebte den gesamten antarktischen Winter über dort. Im Juni und August herrscht nahezu vollständige Finsternis und die Sonne geht praktisch überhaupt nicht auf. Auch die Einsamkeit ist eine enorme psychische Herausforderung. An der aktuellen Mission auf der Bellingshaus-Station waren zum Beispiel insgesamt nur 14 Menschen beteiligt.

Es ist nur schwer vorstellbar, wie es sein muss, ein halbes Jahr lang in nahezu kompletter Finsternis am abgelegensten Ort der Welt zu arbeiten. Durch Alkoholkonsum könnten die Probleme noch verschärft werden. Berichten von 360tv zufolge befindet sich zwar auch ein Psychologe auf der Bellingshausen-Station, aber es ist nicht bekannt, inwiefern Angestellte vor dem Aufenthalt in der Antarktis untersucht werden oder wie genau die Betreuung währenddessen aussieht.

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Zumindest Astronominnen und Astronomen, die im ewigen Eis forschen, sind bereits auf die Arbeit im Dunkeln vorbereitet. Aber wie gehen andere Mitarbeitende mit dem harten, antarktischen Winter um? Das Internet gilt auf Stationen wie McMurdo als langsam und die private Nutzung ist extrem eingeschränkt. Einige Menschen schließen sich daher zu Multiplayer-LAN-Partys zusammen. Laut des russischen Nachrichtenportals AIF, wird die Bellingshausen-Station "legal und in angemessenem Umfang" mit Wodka beliefert.

Ermittlungen im ewigen Eis sind kompliziert

Der aktuelle Vorfall auf der russischen Forschungsstation ist bei Weitem nicht das erste Verbrechen in der Antarktis. So griff zum Beispiel im Jahr 1996 ein Koch einen anderen Küchenmitarbeiter auf der US-amerikanischen McMurdo-Station mit einem Hammer an. Dabei erlitten das Opfer und ein weiterer Koch, der dazwischen gehen wollte, Verletzungen, die genäht werden mussten. Beide erholten sich, trotzdem wurde das FBI zum ersten Mal in der Geschichte der Forschungsstation in der Arktis eingeflogen.

In den 1950er Jahren wurde ein Mitarbeiter auf der australischen Mawson-Station mehrere Monate in einem Lagerraum eingesperrt, berichtete die AP. Der Angestellte sei so gewalttätig gewesen, dass sich ihm nur noch der Arzt der Station nähern konnte. Im Juli 2009 sollen ein betrunkener Mitarbeiter und der Küchenchef der südkoreanischen King-Sejong-Forschungsstation in einen Faustkampf geraten sein, bei dem auch Stühle durch einen Essensraum geflogen sein sollen. Das soll zumindest aus einem YouTube-Video des mutmaßlichen Vorfalls. hervorgehen.

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Der Antarktis-Vertrag von 1959, der von den USA, der ehemaligen Sowjetunion und 48 anderen Nationen unterzeichnet wurde, regelt, dass eine Person, die in der Antarktis ein Verbrechen begeht, den Gesetzen ihres Heimatlandes unterliegt. Normalerweise befindet sich darum auch ein Polizeibeamter beziehungsweise ein Abgesandter der Landesbehörden auf den Forschungsstationen. Berichten der New York Times zufolge ist beispielsweise der Stationsleiter von McMurdo gleichzeitig Sonderbeauftragter des US-Justizministeriums.

Ob der Leiter der Bellingshausen-Forschungsstation, dem sich S. gestellt hatte, ebenfalls ein Vertreter der russischen Strafverfolgungsbehörde ist, ist nicht bekannt. Auf eine Motherboard-Anfrage zu dem Vorfall hat das russische Forschungsinstitut, das die Bellingshausen-Station betreibt, bisher nicht reagiert.

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Dieser Artikel ist zuerst auf der englischsprachigen Seite von Motherboard erschienen.