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Krankenkasse untersucht, ob Social Media Teenager süchtig macht – und alle drehen durch

Nur ein kleiner Bruchteil deutscher Teenager hat offenbar ein Problem mit Social Media, findet eine Krankenkasse heraus. Statt das zu feiern, machen Nachrichtenmedien daraus eine Schreckensmeldung über die neue Sucht-Geißel der Jugend.
Bild: Imago

Die jungen Leute heutzutage haben ihr Leben nicht mehr im Griff – so scheint es jedenfalls, wenn man sich die gestrigen Schlagzeilen vieler deutscher Nachrichtenmedien anschaut. "Tausende Teenager 'Social-Media-süchtig'" titelt die Mittelbayerische Zeitung. Bei RP Online sind es schon "Zehntausende Teenager". Die Welt legt einen drauf und erklärt "Hunderttausend" für süchtig, nur um vom ZDF übertroffen zu werden, wo von "Hunderttausenden" süchtigen Jugendlichen die Rede ist.

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Das ist ja schnell eskaliert. Grundlage für die scheinbar exponentiell wachsenden Suchterkrankungen ist eine Umfrage der Krankenkasse DAK. Sie hat den leicht überdrehten Titel: "WhatsApp, Instagram und Co. – so süchtig macht Social Media". Die schlichte Antwort, die aus der Umfrage hervorgeht, lautet aber: Soziale Medien machen kaum süchtig. Nur 2,6 Prozent der Teenager zwischen 12 und 17 Jahren zeigen laut DAK "einen problematischen Gebrauch sozialer Medien". Befragt wurden 1001 deutsche Jugendliche im Jahr 2017, die DAK bezeichnet die Studie als repräsentativ.

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Von der viel zitierten Social-Media-Sucht ist in der gesamten Studie übrigens keine Rede. Stattdessen betonen die Gesundheitsexperten, es gebe überhaupt keine anerkannte Krankheit oder Störung dieser Art. Selbst Forscher seien sich noch uneins, ob eine Sucht vorliegt. Die DAK-Experten sprechen deshalb nur von "Suchtrisiko" und vom "problematischen Gebrauch" sozialer Medien.

Kurz gesagt: Social-Media-Sucht gibt es nicht. Die 2,6 Prozent der Teenager haben allenfalls ein Risiko, abhängig zu werden. Und selbst diese Zahl entspräche weniger als einem Kind pro Schulklasse – wenn in einer Klasse 30 Kinder unterrichtet werden.

In neun Fragen zum Suchtrisiko

Fragt sich nur: Wie haben es die hohen Zahlen scheinbar süchtiger Jugendlicher in die Schlagzeilen geschafft? Vermutlich so: Laut Bevölkerungsstatistik leben in Deutschland rund 4,7 Millionen Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren. Wendet man die 2,6-Prozent-Quote auf diese Zahl an, kommt man auf rund 126.000 Jugendliche mit Suchtrisiko. Zumindest die Schlagzeile der Welt lässt sich damit herleiten: "100.000 Jugendliche sind süchtig nach Social Media". Trotzdem wird darin das Risiko als veritable Erkrankung bezeichnet.


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Vollkommen ausgeblendet wurde in der Berichterstattung die Kehrseite der Medaille, nämlich, dass die überwiegende Mehrheit der Teenager die Herausforderungen von sozialen Medien offenbar meistert. Volle 97,4 Prozent haben laut Studie keine akuten Probleme mit sozialen Medien.

Den in der DAK-Umfrage verwendeten Test für das Social-Media-Suchtrisiko kann übrigens jeder Nutzer selbst machen. Er besteht aus neun Fragen, die Forscher der Utrecht University unter dem Namen "Social Media Disorder Scale" veröffentlicht haben. Ein Suchtrisiko bestehe den Forschern zufolge, wenn fünf dieser neun Fragen mit Ja beantwortet werden – unter anderem: "Hast du dich im vergangenen Jahr oft schlecht gefühlt, wenn du keine sozialen Medien nutzen konntest?" oder: "Hast du im vergangenen Jahr versucht, weniger soziale Medien zu nutzen und bist gescheitert?"

Die neun Fragen der "Social Media Disorder Scale" | Screenshot: Sciencedirect.com

Dass die angeblich so Smartphone-fixierte Jugend bei einem solchen Test mehrheitlich gut abschneidet, könnte man durchaus als Überraschung werten. Auch im Fazit der DAK-Experten heißt es optimistisch: "Viele Jugendliche profitieren in ihrer Identitätsentwicklung von der Nutzung sozialer Netzwerke."

Trotzdem geben sie natürlich Tipps, um Suchtrisiken einzugrenzen: Erwachsene sollten zum Beispiel eine Vorbildfunktion einnehmen, heißt es. Die Experten schlagen außerdem vor, dass Jugendliche mit Filtern oder Sperren ihre Bildschirmzeit kontrollieren. Gemeint sind wohl Zusatzapps, die einige Smartphone-Funktionen für begrenzte Zeit abschalten. Beispiele dafür gibt es auf der Website des "Center for Humane Technology".

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