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Psychische Gesundheit

Der indonesische Mythos, der Menschen in den Suizid treibt

Aberglaube oder Vorbote des Todes? Wird ein Meteorit gesichtet, sterben auf der Insel Java Menschen. Die Tode geben den Einwohnern Rätsel auf.
Illustration: Adam Noor Iman

In der Nacht vor Aans Selbstmordversuch leuchtete der Himmel über der indonesischen Insel Java rot auf. Ob Aan den Meteoriten selbst sah, ist unklar, aber in dem ländlichen Küstenbezirk Gunung Kidul hatten ihn viele gesehen. Und alle wussten: Dieser Himmelskörper ist ein Vorbote des Todes.

Am folgenden Tag war der 18-jährige Aan blass und schlapp. Er schlurfte in die Küche, nahm sich das kleines Messer, mit dem seine Großmutter Marni Obst schält, und ging damit in den Garten. Seine Großmutter erkannte, was er vorhatte. Sie rannte hinterher und versuchte, ihm das Messer zu entreißen, doch Aan war zu stark. Marni fiel zu Boden und musste hilflos zusehen, wie Aan die Klinge in seiner Brust versenkte. Dann zog er das Messer raus und schleuderte es zwischen die Eichen hinterm Haus.

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Die Nachbarn brachten Aan ins Krankenhaus. Er überlebte, doch seine Mutter fiel vor Sorge und Erschöpfung für fünf Tage ins Koma. Es war der 26. Dezember 2017, die Lokalzeitungen schrieben alle dasselbe: Pulung Gantung hätte fast ein weiteres Leben gefordert.

Aan lebt im Dorf Ngelo, etwa 30 Kilometer landeinwärts von der Südküste Javas. Als VICE ihn dort besucht, sind seine Wunden schon verheilt, doch er hat Herzprobleme und muss Medizin gegen Nervenschäden nehmen. Und niemand weiß, ob der Mythos Pulung Gantung bald schon ein nächstes Opfer fordert.


Auch bei VICE: Auf Patrouille mit Südkoreas Selbstmord-Rettungsteam


Pulung Gantung ist eine urbane Legende, die vermutlich aus den Armenvierteln der nahegelegenen Stadt Yogyakarta stammt. Sie besagt, dass ein Feuerball am Himmel – oder ein Meteorit – ein Vorbote für Selbstmord ist. Im örtlichen javanischen Dialekt bedeutet "Pulung" so viel wie "Schicksal" und "Gantung" ist Bahasa Indonesia für "Erhängung", die verbreitetste Selbstmordmethode in Indonesien – wenn auch nicht die einzige.

Die Anzahl der Selbstmorde im Bezirk Gunung Kidul ist in Indonesien immer wieder ein Thema, auch wenn niemand die genaue Zahl kennt. Statistiken zu Suizid sind in Indonesien höchst unzuverlässig. Soziales Stigma und religiöse Überzeugungen halten viele davon ab, Selbstmord als solchen festzuhalten. Das Gesundheitsministerium verlässt sich für solche Daten auf Polizeiberichte, die nur ein unvollständiges Bild liefern. Fast 90 Prozent der Bevölkerung sind Muslime, der islamische Brauch schreibt vor, dass Tote innerhalb von 24 Stunden bestattet werden müssen. Deshalb gibt es oft keine Autopsie, die genaue Todesursache bleibt ungeklärt. So unzuverlässig sie sein mag, die Statistik zeigt für Zentraljava (Jawa Tengah), wo Gunung Kidul liegt, eine viel höhere Suizidrate als im Rest des Landes.

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Gunung Kidul ist ein ländlicher Bezirk mit etwa 700.000 Einwohnern, 2017 versuchten laut Polizeiberichten 34 von ihnen, sich das Leben zu nehmen. 30 von ihnen gelang es. In der indonesischen Hauptstadt Jakarta leben mehr als 9,6 Millionen Menschen. Manche Quellen sprechen für Jakarta von zehn Suiziden pro Monat, womit die Mega-Metropole nur viermal so viele hätte wie Gunung Kidul. Auch Lokalmedien und Forscher haben den Bezirk als Brennpunkt ausgemacht.

Augenzeugen bestätigen den Mythos

Nur warum hebt sich der Bezirk Gunung Kidul so deutlich ab? Indonesien ist ein zutiefst abergläubisches Land. 69 Prozent aller indonesischen Muslime glauben laut einer Umfrage an Hexerei. Der Hang zum Mystizismus ist in Yogyakarta und dem spärlich besiedelten Landesinneren von Zentraljava noch ausgeprägter. Dort sind alte javanische Volksglauben wie Kejawèn weiterhin verbreitet.

Aber ist es Aberglaube, der so viele Menschen in den Tod treibt? Alle Dorfbewohner, mit denen VICE das Thema bespricht, kennen Pulung Gantung. Ein Mann namens Darmo Supoyo beschreibt das Phänomen als kometenartigen Feuerball, der über den Himmel zieht. Dort, wo er einschlage, seien die Menschen verwirrt und desorientiert, erklärt er. Später würden einige von ihnen versuchen, sich das Leben zu nehmen.

Unter den Jüngeren mag der Glaube an das Phänomen langsam schwinden, aber zu vielen Selbstmorden kommt es weiterhin.

"Die Alten haben früher sehr auf den Pulung geachtet", sagt Darmo, der heute selbst ein alter Mann ist. "Das Schicksal ist überaus mächtig."

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Darmo sagt, er habe den Feuerball mit etwa 20 selbst gesehen. Eine rötlich-weiß leuchtende Kugel habe den Himmel über seinem Dorf Ngringin erhellt. Der Pulung Gantung habe sich in einer Art geschmeidigen Welle von Ost nach West bewegt. Bei dem Anblick sei Darmo klargeworden, dass jemand bald sterben würde.

Ein weiterer älterer Dorfbewohner, Siswanto, sagt ebenfalls, er habe den Feuerball als kleiner Junge gesehen. "Er war geformt wie ein Komet", erinnert er sich.

Wer mit den Bewohnern von Gunung Kidul spricht, merkt: Viele der Älteren glauben wirklich an die Macht des Pulung Gantung. Unter den Jüngeren mag der Glaube an das Phänomen langsam schwinden, aber zu vielen Selbstmorden kommt es weiterhin.

Aufklärung gegen Aberglauben

Ida Rochmawati ist Psychiaterin im Krankenhaus von Wonosari, der Bezirkshauptstadt von Gunung Kidul. Sie versucht seit 17 Jahren zu verstehen, warum die Einwohner der Region sich so häufig das Leben nehmen. Sie sagt, sie selbst glaube nicht an den Mythos, seine Auswirkungen habe sie aber schon häufig gesehen.

Als Rochmawati noch für die Polizei arbeitete, rief man sie nach einem Selbstmord zum Ort des Geschehens. "Ich war überrascht, die Familie schien den Suizid einfach als Teil des Lebens hinzunehmen", sagt sie.

In einigen Gegenden sei Selbstmord derart verbreitet, dass ein kleiner Junge versucht habe, sich zu erhängen – er habe nur nachgeahmt, was er gesehen hatte, sagt Rochmawati. Er sei noch so jung gewesen, dass er das Ganze für ein Spiel hielt und nicht verstand, dass die Menschen danach tot waren. "Es ist so tragisch", sagt sie. "Das zeigt, dass eine Generation die Suizidgedanken an die nächste weitergibt."

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Örtliche Aktivisten für die Belange von psychisch Kranken sehen den Meteoriten-Mythos als Versuch, das Handeln der Betroffenen zu erklären. Jaka Yanuwidiasta leitet eine Nonprofit-Organisation für Suizidprävention und versucht, dem Aberglauben ein Ende zu bereiten. Bisher ohne Erfolg. Yanuwidiasta befürchtet, der Fokus auf den Mythos könnte dazu führen, dass Suizidgefährdete sich keine Hilfe suchen. "Es gibt keine Beweise für die Geschichten über Pulung Gantung", sagt er. "Das soll nur erklären, warum Menschen sich etwas antun."

Sugeng versuchte Anfang 2016, sich das Leben zu nehmen. Heute nennt er diese Zeit eines der düstersten Kapitel seines Lebens. Er leidet an Epilepsie, damals setzten die Anfälle ihm schwer zu. Sugeng musste seinen Job in einem Schreibwarenladen aufgeben und wieder bei seiner Mutter, einer armen Bäuerin, einziehen.

Sein Selbstmordversuch missglückte, doch das sieht Sugeng heute als Glück. Seine Mutter durchbrach mithilfe von Nachbarn die Tür und brachte ihn ins Krankenhaus. "Ich bin dankbar, dass ich Gelegenheit hatte, dem Leben eine zweite Chance zu geben", sagt er.

Sechs Monate brauchte Sugeng, um sich von seinem Selbstmordversuch zu erholen. Seither hat er sich einen Job gesucht, als Leiter der Abteilung für Sozialhilfe in einer Dorfverwaltung. Er sagt, er finde das Leben wieder lebenswert – ganz gleich, was ein Feuerball am Himmel dazu sagt oder nicht.

*Aan hat darum gebeten, in diesem Artikel bei einem Pseudonym genannt zu werden.

Du bist nicht allein. Wenn du Selbstmordgedanken hast, teile dich jemandem mit. Du kannst dich zum Beispiel jederzeit kostenlos an die Telefonseelsorge wenden, unter den Telefonnummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222, oder auch im Chat.

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