06:41 Uhr
Auch bei VICE: Chemnitz mit Trettmann & Kummer - Episode 1

Aber wie authentisch (heftig/krass/hart) ist das Bahnhofsviertel tatsächlich? Ehrlich und echt, weil sich hier die Realität zeigt hinter Politikervokabeln wie Betäubungsmittelmissbrauch und Beschaffungskriminalität? Oder haben sich die zwanzig Laufhäuser und ungezählten Junkies und Dealer längst in ein Freiluftmuseum verwandelt, eine Folkloreveranstaltung mit Gangstern, die weniger auf der Straße rumstehen als am heizstrahlergewärmten Set der Netflix-Serie Skylines?
08:02 Uhr
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"Seit es den Euro gibt, kostet bei mir ein kleiner Strauß fünf Euro und ein großer zehn. Das ist Anstand", sagt Blumenverkäufer Caglar Hamdi.
Hamdi erzählt, dass er seine Blumen auf einem Großmarkt in den Niederlanden ersteigert und mit dem LKW in sein Kühlhaus bei Frankfurt schafft. Ich frage ihn, ob er den "Holland Job" kennt, das Album, auf dem Haftbefehl und Xatar erklären, welche Ware sie bevorzugt aus den Niederlanden in den deutschen Wirtschaftskreislauf einführen. Aber Hamdi hört keinen Rap. Sowieso muss er los und ein Beerdigungsbouquet ausliefern, eine Bekannte aus der türkischen Gemeinde ist gestorben.Die erste Person, die ich im Bahnhofsviertel treffe, importiert also gleich mal im großen Stil aus Holland: Gerbera und Geranien.Die Kaiserstraße runter, vorbei an den Rollläden der Restaurants, die jetzt hochrattern und die letzten Schlafenden aus den Ladeneingängen vertreiben. Mit jedem Schritt vom Bahnhof weg werden die Abgehängten weniger und die Hosenanzugfrauen mehr, die Altbauten machen Glastürmen Platz. Vor der Tiefgarageneinfahrt eines Hochhauses rauchen zwei Wachleute, er groß und breit, sie klein und mit metallic-pinken Haaren. Objektschutz, sie bewachen ein Gebäude der Deutschen Bahn.
08:51 Uhr
Wie ist es denn so als Wachfrau, Wachmann im Bahnhofsviertel? "Wenn ich Bekannten erzähle, wo ich arbeite, kommt immer: Bahnhof, offene Drogenszene, krass. Aber das ist viel Mythos. Die Konsumenten gehören zum Viertel wie Inventar, mit denen ist alles entspannt. Die Partytouristen, die meinen, sich aufs Maul hauen zu müssen, die sind anstrengend", sagt sie. "Die Junkies kennen uns, wir kennen sie, und wenn sie ein Problem haben mit BTM, dann helfen wir und rufen den RTW."
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BTM für Betäubungsmittel. RTW für Rettungswagen. Weitere Bahnhofsviertelwörter: Steine (Crack), Chemo-Steine (unsauberes Crack). Ach ja, Crack: Droge Nummer Eins hier, rauchbare Kokainkristalle, die beim Verbrennen krachen und knistern.Unten am Main, auf einer Parkbank, sitzt Andi und raucht Marihuana aus einem silbrigen Pfeifchen. Neben ihm liegen Schlafsack, Isomatte und Rucksack, ohne sie fiele Andi kaum auf als Obdachloser. Mit 41 sieht er aus wie 30, ein rothaariger großer Junge. Seit sechs Jahren lebt er auf der Straße, freiwillig. "Ich habe 20 Jahre als Landschaftsbauer gearbeitet. Aber mir gefällt die Gesellschaft momentan nicht. Der Termindruck. Hetze und Stress. Da mache ich es mir lieber gemütlich, sammle Flaschen und lese in der Bibliothek."
09:18 Uhr
Andi, 41, lebt seit sechs Jahren auf der Straße, freiwillig.
Was hat sich geändert in den sechs Jahren, die er im Bahnhofsviertel lebt? "Am Anfang waren wir drei Obdachlose im Hauptbahnhof", sagt Andi. "Heute sind es 25 und mehr, man grüßt einander nicht einmal. Da gehe ich nicht mehr hin. Alle auf Nadel oder Steine, das ist Scheiße. Und dann die Zigeuner. Die sind gar keine richtigen Obdachlosen, aber nehmen uns unser Pfand weg. Die gehören aus der Stadt geprügelt. Aber AfD wähle ich trotzdem nicht, die sind nicht besser als die FDP."Auf dem Weg zum Hauptbahnhof nimmt ein Bauchtaschentyp Augenkontakt auf. Ich gehe vorbei und warte auf sein "Brauchst du was?". Aber nichts kommt. Als ich hochschaue, sehe ich in seinem Ohr einen hautfarbenen Knopf. Zivilfahnder und Stadtpolizistinnen, Streifenwagen und Mannschaftsbusse: In manchen Momenten scheint es, als bekämen die Dealer und Junkies eine Eins-zu-eins-Betreuung, so viel Polizei ist unterwegs.
11:37 Uhr
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Auf der Treppe runter zur B-Ebene, der nach Urin riechenden Einkaufspassage unterm Bahnhof, teilen drei Schüler einen Joint. Woher haben sie ihr Gras, kaufen sie hier? "Nee, Mann, heftige Kontrollen." Ein älterer Bruder baut selbst an. Wenn ich sehen wolle, wo das Bahnhofsviertel krass sei, müsse ich in die Taunusstraße, zu den Matratzenlagern der Junkies. "Das ist Walking Dead, live."Auch die B-Ebene galt einmal als krass, hinter den Säulen verkauften die Dealer, auf den Treppen lagen Süchtige mit Nadel im Arm. Bloß ein paar Jahre ist das her. Jetzt steht Berndré Becker hinter dem Verkaufstisch eines Designerstores und legt T-Shirts zusammen. "069" steht auf der Brust, die Marke heißt "BHFSVRTL". Berndré, 23, sieht die neue Coolness des Bahnhofsviertels, mit der sich Klamotten verkaufen und Serien vermarkten lassen, zwiespältig. "Was für die einen rough und krass ist, ist für die anderen einfach Leid."Am Bahnhof steht eine Koalition von Kampfbereiten der Polizei gegenüber. Angesoffene Fans von "Standard Lüttich", dem belgischen Club, der am Abend gegen die Eintracht spielt. Bengalos brennen, Flaschen fliegen. Die Bereitschaftspolizisten setzen ihre Helme auf.
15:47 Uhr
Eintracht Frankfurt gegen Standard Lüttich – vor dem Spiel.
Neben mir lehnt an der Hauswand Marko, ein Lüttich-Fan, gutbürgerlich mit Hemd und zurückgegeltem Haar. Marko sagt den Weltklassefußballsatz: "Das ist kein Fußball." Gewalt gehöre nicht zum Spiel. Nun ja, offensichtlich stimmt auch das Gegenteil. Böller fliegen. Ein neuankommender Gaffer fragt, was hier passiert. Bauchtaschentyp 2, ohne Knopf im Ohr, sagt: "Frankfurt."
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19:41 Uhr
20:50 Uhr
23:45 Uhr, ungefähr
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"Ich gestehe, ich hab ein bisschen Angst.""Echt? Warum?""Naja, ich weiß, für dich ist das bloß von sexueller Relevanz.""Ja, Mann, das macht es so geil.""Aber findest du nicht, es gibt eine gesellschaftliche Dimension?"I feel you, bro. Dann gehe ich rein.Als Erstes ein Schild: "In diesem Haus herrscht Kondompflicht". Dann ein gekachelter Gang in violettem Licht. Ein Spalier von Frauen, die an den Türrahmen ihrer Zimmer lehnen."Hey Curly, komm rein.""Sei nicht schüchtern, Löckchen.""Hast du Zeit für ein bisschen Sex?"Vielleicht sollte ich die Damen im "Haus 44" beschreiben, ihr Aussehen und ihre Berufskleidung. Aber das wäre bloß eine Aneinanderreihung von Klischees. Netzstrumpfhosen, geglättete Haare. Sowieso fällt mir mehr zu meinen Schuhen und dem Muster des Fußbodens ein.Als ich rauskomme, fühle ich mich wiea) Google-Rezensent "daut music", der über seine Erfahrung im "Haus 44" schreibt: "Keine Ahnung ich hab da nur neues Fenster eingebaut"b) ein Mann, der im Puff war.
Autor Florentin Schumacher - 24 Stunden wach.
00:59 Uhr
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03:49 Uhr
Ich schäme mich nur ein wenig , als ich zur Bahnhofsmission gehe. Mir ist kalt, ich bin müde. Mein Akku ist leer. Als ich an einem Hauseingang mit Schlafenden vorbeikomme, denke ich für einen Moment, wie schön es wäre, mich dazuzulegen. Dann, dass ich ein dummer Elendstourist bin.Ich lade mein Handy, als eine Frau in die Bahnhofsmission kommt. "Scheiße, Leute, ich bin so am Ende. Könnt ihr mir ein Bett organisieren?""Das geht erst morgen wieder", sagt der Missionsmitarbeiter."Bitte, mir ist kalt. Gebt mir mindestens eine Decke. Oder eine Jacke. Und eine für meinen Freund.""Ich gebe Ihnen eine Jacke, aber er muss seine selbst holen.""Selbst holen? Okay. Kann er machen. Sein Crack raucht er ja auch allein."
04:23 Uhr
Ab vier Uhr morgens fegen Yilmaz (rechts) und Todoro die Straße gegenüber vom Hauptbahnhof.
"Bra, hast du noch Geld da? Mir fehlen fünf Euro."Rico gibt ihm einen Fünfziger, und sie verschwinden auf der anderen Straßenseite im Laufhaus. "Ich hab mir geschworen, ich geh da nicht rein", sagt Rico. "Aber die zwei, Alter, das sind solche Ficker."Irgendwann sitzen wir draußen, weil durchgewischt wird, rauchend und zu müde zum Reden. Rico macht "069" an. "Die Banken kratzen an den Wolken/Ich mich am Yarrak, wie komm ich an Euros?", rappt Haftbefehl. Wir schauen aufs Laufhaus, Männer kommen heraus, die Taxischlange wird kürzer. Wie kommt man an Euros? Als wollten sie eine Antwort geben, gehen in den Hochhäusern die Lichter an.Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.