Terror in Halle: Links eine weiße Rose, rechts der Kopf eines Menschen mit Kippa
Fotos: imago images | Olaf Döring / photothek
Politik

Wir haben Juden und Jüdinnen gefragt, wie es ihnen nach dem Anschlag geht

"Müssen wir unsere Kinder so erziehen, sich zu verstecken? Ihre jüdische Identität zu verheimlichen? Ist das wirklich das, was wir möchten?"

Jom Kippur: der höchste jüdische Feiertag. In Deutschland wird er auch Versöhnungstag genannt. An diesem Tag wird gefastet, gebetet, Menschen vergeben einander. Ein Tag des Friedens.

In diesem Jahr ist es auch der Tag, an dem ein rechtsradikaler Antisemit in Halle einen Mann in einem Dönerladen und eine Passantin erschießt. Zuvor hatte er versucht, in die Synagoge der Stadt einzudringen. Mit einer Schusswaffe und Sprengsätzen versuchte er, die Eingangstür zu öffnen. Doch die hielt stand und schützte circa 80 Gläubige vor dem Hass des Attentäters.

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Wir haben Jüdinnen aus verschiedenen Städten Deutschlands gefragt, wie sicher sie sich noch in ihrem Heimatland fühlen.

Shira Rademacher, 36, überlegt, Deutschland zu verlassen

"Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich ernsthaft mit der Frage auseinandersetze, ob ich mich als Jüdin in Deutschland noch sicher fühle. Die Nachricht aus Halle hat mich zutiefst schockiert. Bisher war die Frage, ob man das Land verlassen solle, weit von der Realität entfernt. Aber seit gestern ist sie aktuell, ich setze mich mich intensiv damit auseinander. Ich führe mit meinen Eltern Gespräche, mit meinem Mann und meinen Freunden, die ähnlich darüber denken.

Es gibt zwei Meinungen. Die einen sagen: Gerade jetzt müssen wir hier bleiben. Gerade jetzt müssen wir Präsenz in Deutschland zeigen. Die anderen sagen wie ich: Jetzt ist es an der Zeit, sich die Frage zu stellen, ob wir hier noch leben wollen und welche Opfer wir dafür bringen müssen. Müssen wir unsere Kinder so erziehen, sich zu verstecken? Ihre jüdische Identität zu verheimlichen? Ist das wirklich das, was wir möchten? Ich weiß noch nicht, welcher Meinung ich mich anschließe. Das hängt davon ab, wie die Politik und die Gesellschaft auf die Vorkommnisse reagieren. Bleibt es bei Lippenbekenntnissen? Oder passiert endlich etwas? Wird endlich gegen antisemitische Bewegungen vorgegangen?

Ich denke da zum Beispiel an rechtsextreme Aufmärsche im Osten. Die werden auch von unserer Polizei geschützt, obwohl gerufen wird: "Wer Deutschland liebt, ist Antisemit". Die Politik muss ohne Zweifel äußern, dass sie hinter den jüdischen Gemeinschaften in Deutschland steht. Und auch hinter Israel.

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Die erste Nachricht, die ich gestern überhaupt bekommen habe, war von einer nicht-jüdischen Freundin, die mir schrieb: Wie geht's dir? Fühlst du dich sicher? Diese Solidarität macht wirklich Mut. Sie sagt: Es betrifft nicht nur euch. Wir sind alle angegriffen worden. Die ganze Demokratie. Der Täter hat ja, nachdem er nicht in die Synagoge kam, wahllos andere Menschen getötet. Dieses Verhalten ist bezeichnend für den Antisemitismus. Wenn es nämlich keine Juden mehr gibt, wendet sich der Hass gegen die Muslime. Oder die Linken. Oder die Greta-Befürworter. Wir sind alle betroffen. Alle Demokraten müssen jetzt etwas tun."

Mike Delberg, 29, Repräsentant der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, sorgte dafür, dass die Sicherheitsvorkehrungen in Berlin sofort erhöht wurden

"An Jom Kippur darf man keine Elektrizität benutzen, auch keine Telefone. Wir saßen gestern also alle in der Synagoge und keiner hat das gewusst. Ich habe das alles erst mitbekommen, als ich nach dem Mittagsgebet nach Hause gegangen bin.

Ich bin sofort zur Synagoge gerannt und habe dem Rabbiner Bescheid gesagt, habe mit den Sicherheitsleuten geredet und habe so schnell wie möglich versucht, einen Kontakt zum Senat oder zur Berliner Polizei aufzubauen, damit sich dort etwas in Bewegung setzt. Das hat auch sehr schnell geklappt. Sowohl das Büro des Bürgermeisters als auch des Innensenators haben schnell geantwortet. Dann sind auch wirklich zügig die Sicherheitsvorkehrungen vor den Berliner Synagogen erhöht worden.

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Aber die Angst war trotzdem da. Das ist natürlich ein großer Schock gewesen. Wir haben sehr inspirierende Rabbiner, die Reden über Vertrauen, Religion, Gott und darüber, dass alles gut werden wird, gehalten haben. Wir sind selbstbewusste, stolze, aber auch furchtlose Juden. Aber das ist keine normale Situation. Wir sind uns der Drohlage schon sehr bewusst.

Ich trage täglich Kippa. Ich werde sie auch nach diesem Vorfall nicht ablegen. Aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht heute zwei-, dreimal mehr über meine Schulter geschaut habe.

Es haben sich viele Leute solidarisch gezeigt. Eine der ersten Reaktionen war die Mahnwache vor der Gemeindesynagoge in Berlin. Das ist ein schönes Zeichen. Wir sind sehr dankbar dafür, weil wir sehen, dass wir in solchen Situationen nicht alleine stehen. Nur müssen auch Zeichen und Worte zu Taten werden. Es ist mehr als erschreckend, dass trotz dieser positiven und starken Äußerungen von Politik und Gesellschaft der Antisemitismus weiter steigt und er auch immer brutaler und aggressiver wird.

Ich glaube, spätestens jetzt sollte jede Polizeistelle und auch jede politische Instanz in Deutschland aufgewacht sein und keinen Wunsch nach Schutz von einer schutzbedürftigen Minderheit ablehnen.

Es ist vielleicht makaber gesagt, aber mit jedem antisemitischen Vorfall, der in die Öffentlichkeit kommt, wird mein Sicherheitsgefühl etwas besser, da dann Taten folgen. Aber warum muss immer erst etwas passieren, bevor gehandelt wird?

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In Berlin sind die jüdischen Räume sehr gut geschützt. Aber es gibt Gemeinden, da ist das ganz anders. Eigentlich ist es ein Jom-Kippur-Wunder, dass dieser Attentäter es nicht geschafft hat, in die Synagoge einzudringen."

Luisa*, Mitarbeiterin der Israelitischen Religionsgemeinde Leipzig: "Es gab bisher keinen Polizeiwachposten vor unserer Gemeinde, der permanent aufpasst."

"Bei uns in der Gemeinde möchten manche nicht mehr in die Synagoge kommen, wenn es keine höheren Sicherheitsstandards geben wird. Andere sagen, dass sie sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Die möchten dem Täter keine Genugtuung geben und lassen sich nicht unterkriegen.

Ich komme jeden Tag in die Gemeinde, egal was passiert. Meine Empfindung hat sich kaum verändert. Es ist sehr bedrückend und sehr traurig, von dem Anschlag in Halle zu hören. Und klar ist: Wir müssen etwas ändern. Aber das wissen wir schon lange. Das ist leider nicht so einfach. Es gibt akute Sicherheitsmängel. Wir haben schon lange dieses Problem. Aber wo kriegen wir mehr Sicherheitskräfte her? Wie bekommen wir mehr Wachpersonal und polizeiliche Bewachung? Da haben wir schon oft angefragt, aber das erreicht taube Ohren, bevor der Angriff stattgefunden hat.

Seit gestern Mittag wird unsere Synagoge von Polizisten geschützt. Und genau das zeigt wieder, dass es erst mehr Sicherheitsmaßnahmen gibt, wenn bereits etwas passiert ist. Wir haben zwar schon lange polizeiliche Überwachung, aber nicht konstant. Es gab bisher keinen Polizeiwachposten vor unserer Gemeinde, der permanent aufpasst.

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Synagogen sollten auf jeden Fall besser geschützt werden. Wir hätten auch gerne mehr Unterstützung von Staat und Polizei. Sodass wir das nicht durch eigenes Wachpersonal, das ungeschult und unbewaffnet ist, stemmen müssen."

Anita Winter, Präsidentin der Gamaraal-Stiftung, die Holocaust-Überlebende in der Schweiz unterstützt

"Ich spreche für die Holocaust-Überlebenden der Schweiz. Wir sind zutiefst bestürzt, erschüttert und schockiert von dem Anschlag in Halle. Wer den Holocaust überlebt hat, den erinnert dieses Attentat an die 1930er Jahre. Die Überlebenden von damals sagen auch, dass niemand damals gedacht hätte, dass es einmal so schlimm werden kann.

Man soll einfach nicht gleichgültig sein. Gleichgültigkeit ist das Schlimmste. Sie haben mit eigenen Augen gesehen, zu was Menschen fähig sind. Die Zeichen der Zeit wurden schon einmal nicht erkannt und die Überlebenden möchten nicht, dass das erneut passiert."

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