Es macht schon einen gewaltigen Unterschied, ob ein alter Mann mal eben irgendwo hingeht – oder ob einem jeder einzelne Schritt weh tut. Weit nach vorne gebeugt hält sich Dietmar an seinem Rollator fest, schiebt ihn voran, Zentimeter um Zentimeter, bleibt immer wieder an einem Baustellenzaun hängen, der sich die ganze Straße bis zum Treffpunkt 'Strohhalm' in Berlin-Schöneweide entlang zieht. Dietmar hat einen so starken Rechtsdrall, dass er, wie von einem falsch kalibrierten Joystick gelenkt, immer wieder gegen den Zaun stößt. "Ich will nicht zu spät kommen", sagt er. "I don't want to be late." Dietmar, 72 Jahre alt, möchte zum Englischkurs für Fortgeschrittene.
Kim könnte vom Alter her die Nichte ihrer Schüler sein
Der Kurs ist Teil eines Projekts, das einen inneren Widerspruch im Namen zu tragen scheint: Obdachlosenuni. Das Vorlesungsverzeichnis dieser Uni steht im Netz – und im Berliner Straßenmagazin Motz, das jene in U-Bahnen und Bahnhöfen verteilen, die es nicht gut getroffen hat im Leben. Die meisten der aktuell 14 Kurse finden im Treffpunkt Strohhalm statt, ein Projekt der Stiftung SPI. Der Treffpunkt ist nach eigener Auskunft eine "niedrigschwellige Kontakt-, Begegnungs- und Beratungsstelle". Kurz: Da darf jeder hin. Es kommen Obdachlose, Alkoholiker, Einsame, Verlassene, oder auch einfach die, die sonst nicht wissen, wohin sie gehen sollen.Diese etwas anderen Studierenden, die meisten sind zwischen 60 und 80 Jahre Jahren alt, treffen sich außer zum Englischlernen auch zum Yoga, dem Bibelgesprächskreis oder dem "Handarbeitskurs mit Frau Bethke". Während Dietmar die wenigen Treppen zum Treffpunkt überwindet sagt er, dass er mit 72 unregelmäßig konjugieren lernt, damit er "fit in the head" bleibt. Dietmar spricht mit warmer, etwas flatternder Stimme, auch als er den Grund dafür erklärt, warum er so schlecht läuft und sowieso für sein ganzes Malheur: 2001 hat ihn ein Auto überfahren. Der Täter beging Fahrerflucht. Dietmar trug nicht nur viele Knochenbrüche davon, sondern auch Schäden am Kleinhirn.
Dietmar "wants to stay fit in the head"
Im Klassenraum des Englischkurses für Fortgeschrittene sitzen an diesem Tag acht Menschen. Sie sind alle über 60 – ihre Lehrerin ist aber erst 17. Kim Nitsche engagiert sich hier freiwillig, den Duktus einer Lehrerin hat sie schon drauf, wenn sie erklärt, dass es hier darum gehe "das Basiswissen immer wieder zu wiederholen, damit es richtig sitzt". Bevor sie über unregelmäßige Verben sprechen, schenkt Kim Dietmar einen blau leuchtenden Stift, weil er keinen dabei hat. "Aber nicht verlieren, wie du das sonst so machst", sagt sie. Dietmar nickt selig.
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"My Handy is ringing"
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Die meisten von Kims Schülern werden wohl nie flüssig Englisch sprechen, Fortschritte lassen sich in hohem Alter nur zäh erzielen. Doch das heißt nicht, dass der Unterricht vergebens wäre, er hilft, "nicht einzurosten", sagen Kim und mehrere ihrer Schüler. Lernen nicht für eine Note, sondern des Lernens wegen. In der Obdachlosenuni ist der Weg das Ziel.Gegründet hat das Projekt 2011 Maik Eimertenbrink. Der Kommunikationswirt hat sich von der österreichischen Stadt Graz inspirieren lassen, wo kostenlose Vorträge Zugang zu Uni-Wissen ermöglichen, unabhängig davon, ob jemand Geld oder ein Dach über dem Kopf hat. Eimertenbrink hat das Konzept angepasst, "es ist doch super, wenn alle, die wollen, Kurse anbieten" – also auch Dozenten, die keine offizielle Qualifikation für das Fach besitzen, das sie unterrichten.Eimertenbrink sagt, sein Ziel sei es, "Menschen zu helfen und dadurch interessante Menschen kennenzulernen". Manche der Teilnehmer seien "freie Geister", die noch nie in ihrem Leben einen regulären Job hatten.Die allermeisten Teilnehmer der Obdachlosenuni würden nicht auf der Straße schlafen, erklärt Eimertenbrink: "Ich hab's versucht, Plakate an Brücken geklebt, unter denen bekanntermaßen Obdachlose schlafen, aber die erreichst du nicht. Die haben andere Probleme." Stattdessen würden viele Wohnungslose teilnehmen, also Menschen, die in einem Wohnprojekt oder einer sozialen Einrichtung übernachten. Manche hat ein Unfall aus der Bahn geworfen, wie eben Dietmar.
Dozenten müssen nicht vom Fach sein
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Nach dem Englischkurs sitzt er auf einem Holzstuhl im Strohhalm, umgeben von ein paar Senioren, Blümchendecken und Kantinenduft und erzählt, dass er eine Wohnung habe, dort aber alleine sei. Er sagt das in einem hellen Ton, als wäre er optimistisch, dass sich daran etwas ändert. "Ich will noch 73 werden!", sagt er. "Ich habe Freunde!" Er blickt sich um, ein paar Alte blicken auf, lächeln. Dietmar sagt: "Friends."Er erzählt, dass er schon immer von Sprachen fasziniert gewesen sei. "Ich habe mir die einfachen Sachen auf Englisch selbst beigebracht." Zu DDR-Zeiten hat er in der Schule Russisch gelernt. Auf die Frage, ob er mal im Ausland war, antwortet er: "Polen, Tschechien." In einem englischsprachigen Land? "Never."Er verabschiedet sich mit einem "Have a good day!" – und macht sich ran ans Mittagessen. Es gibt "Fruchtiges Putencurry mit Reis" für 1,20 Euro. Direkt gegenüber des Treffpunkts liegt die Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Die Studierenden dort speisen mit Spreeblick. An diesem Tag gibt es Tofutaler, Kokos-Mandelpudding oder mediterranen Dinkel-Tomaten-Burger im Sesambrötchen für 5,95 Euro.Die Obdachenlosenuni richtet sich an jene, die sonst nirgendwo mehr willkommen sind – und rührt damit an einem der großen gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit. Denn die Abgehängten werden immer mehr. Eine Forschergruppe um den französischen Ökonom Thomas Piketty attestiert Deutschland so viel gesellschaftliche Ungleichheit wie zuletzt 1913.
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Viele hier sind in einem anderen Land aufgewachsen
Markus ist die Großmutter, Rainer (re.) der Wolf. Und Rotkäppchen ist auch da
Gerade wird "Die verrückte Märchenschau" geprobt, bei der Hänsel und Gretel, Rotkäppchen und einige andere Märchen in einem wilden Schleudergang ineinander gemorpht wurden – bis der Wolf als verfluchter Vertreter durch den Wald zieht, dessen Waren niemand haben will."Aber ich bin doch alt und krank!", sagt die Großmutter, die sich gegen die Angebote des Wolfs erwehrt. Der Wolf wird von einem langhaarigen alten Rocker und die Großmutter von einem Schrank von einem Mann im Oma-Nachthemd gespielt, die Theatergruppe kriegt sich kaum ein vor Lachen."Edler Whiskey für nur 4 Euro 99", sagt der Wolf und umschmeichelt die Großmutter, die energisch ruft: "Ich will nicht!" So bestimmt ruft das die Großmutter mit dem stoppeligen Gesicht und den schiefen Zähnen, dass der Wolf seinen Sprit fortan als "Zaubertrank" anpreist und weiter um die 100-Kilo-Mann-Seniorin tänzelt, bis die Regisseurin Svenja lachend einschreitet. "Pause!"
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Der Wolf geht mal eine quarzen
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Rainer bezeichnet sich heute als "stabil", auch wenn bei Krisen immer wieder Rückfälle drohen. Und die können, das sagen alle Teilnehmer der Obdachlosenuni, immer passieren. Kein Alkoholiker ist je 100 Prozent geheilt. Egal, wie weit jemand von dem toten Punkt in seinem Leben weggelaufen ist – die Sucht läuft immer mit.Auch Rainer ist in seinem Leben viel gelaufen, 1989 aus der DDR, wo er als Gleisbauarbeiter gearbeitet hat, dann die zehn Jahre durch Europa, immer draußen, bis nach Griechenland und wieder zurück. Heute ist er angekommen, in seinem alten, neuen Berlin, und bei der Obdachlosenuni, wo er auch selbst schon Gitarrenkurse gegeben hat. Er fotografiert und macht eine Ausbildung zum Theaterpädagogen. Sich selbst retten, um anderen zu helfen, so funktioniert diese Universität.Aber manchmal sind die, denen zu helfen wäre, einfach nicht da. So etwa, als an einem Montag zwei Männer im Treffpunkt Strohhalm sitzen und malen. Sie stellen sich vor als "Herr König" und "Herr Stolpe". Der erste ist der Leiter dieses Malkurses, der zweite mehr ein zweiter Lehrer als der einzige Schüler. "Wir sind meistens nur zu zweit hier", sagt Herr König, knollige Nase, hohe Stirn, sympathisch nachdenkliche Stimme. "Wir hatten hier mal eine Dame, die war ein Talent, aber leider tablettensüchtig", erzählt Herr Stolpe. Von einem auf den anderen Tag sei die dann nicht mehr erschienen. So sei das oft mit denen, die noch süchtig sind, eigentlich immer, sagt Herr Stolpe.
"Die war ein Talent, aber leider tablettensüchtig"
Herr Stolpe | Foto: Nik Afanasjew
Er führt seinen Pinsel ins Gurkenglas mit Wasser, um sich danach neue Farbe für ein Bild zu holen: ein Schiff, das in dramatischer See ums Überleben kämpft. Die beiden Männer führen heute ein stetes Leben, jeder auf seine Weise, mit fester Wohnung, mit Struktur, aber sie haben beide einmal darum gekämpft, nicht komplett abzusaufen. "Job weg, Frau weg, Wohnung weg", beschreibt Herr Stolpe seinen persönlichen Niedergang, diese Blaupause der Abwärtsentwicklung, die hier viele kennen. Einmal habe er kalt entzogen, aber dann "einen Rückfall gebaut", als bei seiner Frau eine schwere Krankheit diagnostiziert wurde. "Der Süchtige", sagt Herr Stolpe, "findet immer einen Grund."Herr König zeigt ein Bild: seine Version des berühmten Selbstporträts von Frida Kahlo mit dominanter Monobraue über strengen, selbstbewussten Augen. Eine Frau, die alles will und nichts braucht. "Ich male nur in Gesellschaft, ich kann das nicht alleine", sagt Herr König, Herr Stolpe nickt.Irgendwann sagt Herr Stolpe: "Ich dachte erst: Was soll ich mit 60 anfangen zu malen? Aber das hat mir geholfen, aus der Sucht rauszukommen. Heute bin ich 75. Ich male gerne." Von 100 Leuten, die einmal in den Negativstrudel aus Sucht und Verlust reingeraten sind, "schaffen es vielleicht drei wieder raus", sagen die beiden. Der beste Weg hinaus sei für sie aber schlichtweg "eine Leidenschaft, die kein Geld kostet". Eine ziemlich treffende Beschreibung für die ganze Obdachlosenuni.Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.