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Antiziganismus

Nach Menschen mit Behinderung und LGBTs will die AfD jetzt Roma und Sinti zählen lassen

Der sächsische AfD-Mann Carsten Hütter ist das neueste Ehrenmitglied der Antiziganismus-Hall-of-Fame.
Foto: imago | Jens Jeske 

Mit Fragen ist das so ein Ding: Wer eine stellt und sie nicht rhetorisch meint, will in der Regel etwas lernen. Aber wenn die Frage besonders dämlich ist (Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um es ein für allemal zu klären: Es gibt dumme Fragen), dann lernt nicht der Fragesteller etwas, sondern alle anderen etwas über ihn. Die Rede ist einmal mehr von der AfD, deren sächsische Landtagsfraktion nun Sinti und Roma statistisch erfassen will. Dafür hatte der AfD-Abgeordnete Carsten Hütter am 13. Juni eine Kleine Anfrage an die Landesregierung gestellt. Wie viel die AfD aus deren Antwort lernen wird, kann man sich vorstellen: wenig. Was wir aber aus dieser Frage über die AfD lernen: eine Menge.

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Die Stoßrichtung der Anfrage wird schnell klar. Hütter will nicht nur wissen, wie viele Roma und Sinti seit 2010 in Sachsen lebten, sondern wie viele von ihnen aktuell die Schulpflicht nicht einhalten, wohnungslos sind oder staatliche Leistungen beziehen. Noch schlimmer hätte die AfD auf antiziganistischen Stereotypen nur herumreiten können, hätte sie gefragt, wie viele Roma und Sinti schwarze Magie betreiben.

Es ist in der jüngeren Vergangenheit nicht das erste Mal, dass rechte Parteien Minderheiten zählen wollen. Die rechtsextreme Kleinpartei Die Rechte wollte 2014 im Dortmunder Stadtrat erfragen, wie viele Juden in welchen Stadtteilen Dortmunds wohnen. Ein Jahr später forderte die AfD-Abgeordnete Corinna Herold im Thüringer Landtag, statistisch zu erheben, wie viele Homo-, Bi- und Transsexuelle im Bundesland leben. Und erst vor zwei Monaten wollte die AfD mit einer Kleinen Anfrage im Bundestag erfahren, wie sich die Zahl der behinderten Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland seit 2012 verändert habe. Vor allem interessierten sich die Politiker und Politikerinnen für Behinderungen, die "durch Heirat innerhalb der Familie", also Inzucht, entstanden sein sollen.

Der Nutzen der Anfrage ist gleich null

Die Reaktion auf diese Bundestagsanfrage im April war deutlich. Sozialverbände aus ganz Deutschland klagten die Partei an, mit ihrer Anfrage "an die dunkelsten Zeiten deutscher Geschichte" zu erinnern. Und auch jetzt, wo die Rechten in Sachsen Sinti und Roma zählen lassen wollen, herrscht in den Sozialen Netzwerken Empörung. "Wann wachen deren 'normalen' Wähler endlich auf? Wann merken die, dass diese Partei verdammt gefährlich ist?", fragte ein User auf Twitter. Ein anderer stellt fest: "Was der Neofaschist #Salvini in Italien vorhat, will #AfD-Neofaschist #Hütter für #Sachsen abfragen."

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Damit hat er Recht. Denn die AfD und der italienische Innenminister Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Partei Lega Nord planen tatsächlich beide, Roma und Sinti statistisch zu erfassen. Salvini hat sein Ministerium aufgefordert, "ein Dossier zur Roma-Frage in Italien" anzufertigen. Parallelen zu anderen "-Fragen" in der Geschichte sind natürlich reiner Zufall.

Roma, Trans-, Bi-, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung – es ist nicht besonders schwer, ein Muster zu erkennen: Die AfD will wissen, wie viele Menschen anders sind. Mit solchen Anfragen legt die Partei in den Landtagen und im Bundestag einen ekligen Aktionismus an den Tag. Sie suggeriert ihren eigenen Wählern und Wählerinnen, dass AfD-Politik von Menschen gemacht wird, die harte Fragen stellen und die die Probleme ihrer Wähler, nämlich die vermeintliche Angst vor dem Fremden, ernst nehmen.

Tatsächlich ist der Nutzen solcher Anfragen für alle außerhalb der AfD aber gleich null. Oder besser: Solche Anfragen schaden der Gesellschaft sogar zusätzlich. Alles, was die AfD erreicht, indem sie Menschen nach sexueller Orientierung oder Ethnie zählt, ist, diese als Minderheit und andersartig zu brandmarken. Die AfD zählt nicht Protestanten oder Heterosexuelle oder Seniorinnen. Sie zählt die, die nicht zu ihrem Gesellschaftsbild passen, reduziert diese Menschen auf eine einzige Eigenschaft und trägt dazu bei, dass sie gesellschaftlich isoliert werden.

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Schon 1939 wurden Sinti und Roma statistisch erfasst

Der Nazivergleich nervt und man sollte ihn sparsam gebrauchen. Aber in diesem Fall hat die AfD ihn sich wirklich verdient. Denn mit ihrer neu entdeckten Begeisterung dafür, Minderheiten statistisch zu erfassen, stellt sie sich in eine Reihe mit Faschisten.

Im Dritten Reich führten die Nationalsozialisten Minderheiten-Register; ab 1933 sollten Deutsche bei Volkszählungen ganz unverfänglich ihre Religion ankreuzen. Sechs Jahre später sollten sie dann auf Meldebögen angeben, ob sie "jüdisch" oder "deutschblütig" seien. In der ersten Oktoberhälfte 1939 teilte Heinrich Himmler über ein Schreiben des Reichskriminalpolizeiamts mit, "binnen kurzem im gesamten Reichsgebiet die Zigeunerfrage" zu regeln. Das NS-Regime ordnete die Polizeibehörden an, die Minderheit zu zählen und erkennungsdienstlich zu erfassen.

Die Nazis ermordeten zwischen 1933 und 1945 nach Schätzungen von Historikern bis zu 500.000 Sinti und Roma in ganz Europa. Erst Ende Januar gedachten Sinti und Roma den ermordeten Opfern bei einer Namenslesung. Sie fand vor der Gedenktafel der Kreuzkirche in Dresden statt, der Stadt, in der sich auch der sächsische Landtag befindet – in dem die AfD jetzt wieder anfangen will, Roma und Sinti zu zählen.

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Update, 28.06.2018:

Zum Zeitpunkt der Artikelveröffentlichung standen Antworten des AfD-Abgeordneten Carsten Hütter sowie des Zentralrats der Sinti und Roma auf Anfragen von VICE aus. Inzwischen haben beide geantwortet.
Der Pressesprecher der AfD-Fraktion im Sächsischen Landtag, Andreas Harlaß, sagte, es sei wichtig für eine Gesellschaft zu wissen, "wer sich in ihr aufhält" und "wo ggf. Problemlagen bestehen". Hütter scheue nicht davor, Anfragen zu stellen, die eventuell als "politisch inkorrekt" gewertet werden. "Sofern meine Anfrage ergibt, dass bspw. bei der Einhaltung der Schulpflicht von Sinti und Roma Unregelmäßigkeiten bzw. Probleme bestehen, muss dem entgegensteuert werden. Sofern es Probleme bei der Wohnsituation gibt, auch", schreibt Harlaß.
Der Zentralrat der Sinti und Roma teilte mit, dass die Anfrage "offenkundig auf die Diffamierung von Sinti und Roma als Straftäter" abziele. Die Fragen implizierten, "dass Roma aus Bulgarien und Rumänien Kriminelle und Schmarotzer seien, die das Sozialsicherungssystem ausnutzten".