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Prozess

Ehemaliger Förderschüler verklagt NRW, weil er als geistig behindert eingestuft wurde

Ein neues Gutachten könnte ihm jetzt dabei helfen, den Prozess zu gewinnen.

Sein Leben mit 15 zu hassen, ist so angesagt wie Tracksuits. Der erste Herzschmerz und achte Stunden, die dich zwingen, bis 14:30 Uhr in der Schule zu bleiben. Eltern sagen in solchen Momenten gern, dass man später auf die eigene Schulzeit zurückblicken werde, und sich wünschte, sie wäre noch nicht vorbei. Das hält man natürlich für absoluten Schwachsinn – bis man dann nach dem Studium den ersten Vollzeitjob annimmt und um 14:30 Uhr höchstens Mittagspause macht.

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Durchaus berechtigte Gründe, die eigene Schulzeit zu hassen, hat Nenad Mihailovic. Der 21-Jährige musste auf eine Förderschule gehen, weil er als geistig behindert eingestuft wurde. Er ist sich sicher: Das hätte nicht so sein müssen. Deshalb hat er im März 2017 gegen das Land Nordrhein-Westfalen geklagt, VICE berichtete. Im Juli dieses Jahres wird das Urteil erwartet. Ein neues Gutachten könnte ihm nun dabei helfen, zu gewinnen.

Nenads Eltern flohen von Serbien nach Deutschland, er selbst wurde in Köln geboren. Anschließend zog die Familie nach Coburg. Als Nenad sieben Jahre alt war, musste er in Bayern zur Schuluntersuchung. Da seine Eltern nur Romanes, die Sprache der Roma sprachen, und er selbst vorher keine Schule besucht hatte, bereitete ihm der Einschulungstest große Probleme. Er verstand die Fragen nicht, die man ihm stellte. Statt sprachliche Probleme zu erkennen, attestierte man ihm einen IQ von 59 – alles unter 70 gilt nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) als geistig behindert. Fazit: Nenad kam auf eine Sonderschule.

Das blieb auch so, als die Familie später wieder von Bayern nach NRW zog. Dort besuchte Nenad eine Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung. "Da die ja Schwarz auf Weiß etwas haben, was besagt, ich sei geistig behindert, dachten die, ich wäre ernsthaft geistig behindert", so Nenad in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Er sagt, er sei bald so unglücklich und frustriert gewesen, dass er regelmäßig den Unterricht schwänzte – das sei ihm jedoch als Desinteresse ausgelegt worden. Dabei hatte er bereits als 13-Jähriger um eine Versetzung auf eine Regelschule gebeten, wie er der Rheinischen Post sagte. Auch Nenads Schulakten sollen bestätigen, dass er immer positiv auffiel. Obwohl er schnell lernte und flüssig redete, sprachen sich die zuständigen Pädagogen trotzdem weiterhin für die Sonderschule aus.

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2014 lernte Nenad zufällig den Menschenrechtsaktivisten Kurt Holl kennen. Der überzeugte seine Mutter gemeinsam mit mittendrin, einem Elternverein, der sich dafür einsetzt, dass Menschen mit oder ohne Behinderung im Alltag zusammenleben, Nenad umgehend auf einem Berufskolleg anzumelden. Obwohl Nenad im laufenden Schuljahr einstieg, schaffte er als Jahrgangsbester seinen Hauptschulabschluss.


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2017 reichte Nenad Klage gegen das Land NRW ein. Laut Rheinischer Post verklagt er das Land wegen Amtspflichtverletzung auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Höhe von 52.000 Euro. "Wer will mir denn einen Ausbildungsplatz geben, wenn in meinem Lebenslauf steht, dass ich elf Jahre lang auf eine Förderschule gegangen bin", sagte er vor Prozessbeginn. Ohne sein Stigma als geistig Behinderter hätte er bereits mit 16 Jahren eine Ausbildung beginnen und Geld verdienen können, so seine Argumentation.

Bevor der Gerichtsprozess im vergangenen Jahr losging, machte Nenad einen neuen Intelligenztest. Das Ergebnis: 94 Punkte. Das ist durchschnittlich, 68 Prozent der Bevölkerung liegen mit ihrem IQ zwischen 85 und 115. Damals räumte der vorsitzende Richter zwar ein, dass es "höchstwahrscheinlich ein Fehler gewesen [sei], den Kläger auf eine Schule für geistige Behinderung zu schicken", gleichzeitig sei es jedoch schwierig nachzuweisen, ob der weitere Lebensweg des Schülers tatsächlich anders ausgesehen hätte, wenn er eine andere Schule besucht hätte. Nenad bekam damals drei Wochen Zeit, weitere Dokumente einzureichen, die seine Klage unterstützen.

Eines dieser Dokumente ist ein neues Gutachten, erstellt von Irmtraud Schnell, Expertin für Sonderpädagogik. Sie erhob nun im Zeugenstand schwere Vorwürfe gegen die Schulaufsichtsbehörde. Laut Rheinischer Post sagte sie vor Gericht, dass es beim Schulwechsel von Bayern nach NRW ein "ordentliches Diagnoseverfahren" für den Schüler hätte geben müssen. Das wäre eine Intelligenz-Überprüfung, eine Einschätzung der Lernentwicklung und eine Prognose gewesen. Dabei hätte man nach ihrer Auffassung feststellen können, dass kein spezieller Förderbedarf wegen einer geistigen Behinderung besteht.

Die Erziehungswissenschaftlerin hat außerdem betont, dass Nenad nur auf einer Förderschule gelandet ist, weil ihm in Bayern eine "momentane, leichte geistige Behinderung" attestiert wurde. Diese wurde jedoch nie wieder überprüft. "Er hätte auf eine andere Schule gehen können", sagte Schnell laut Rheinischer Post.

Am 17. Juli will das Gericht eine Entscheidung treffen.

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