Wie mir 'World of Warcraft' dabei half, meine Transsexualität zu akzeptieren
Illustration: Eleanor Doughty

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Wie mir 'World of Warcraft' dabei half, meine Transsexualität zu akzeptieren

Meine Online-Freunde kannten mich als weibliche Nachtelfe, im echten Leben war ich ein Teenager, der sich heimlich Kleider kaufte. Unser Treffen veränderte alles.

"Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht", sagte ich. Meine Herz fühlte sich an, als würde es jeden Moment aufhören zu schlagen. Ich wollte weitergehen, doch war wie erstarrt. Ich war schweißgebadet und fühlte mich, als würde ich unter Strom stehen. Meine großen Hände, meinen Adamsapfel, den Bartschatten in meinem Gesicht – was, wenn sie etwas merken?

"Was machst du? Komm weiter, Ugla", sagte meine Freundin. Ich hatte sie ewig bequatscht, damit sie mich den ganzen Weg hierher begleitet. Hierher, zu meinem ersten Treffen mit einer Gruppe Fremder, die ich nur aus dem Internet kannte. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?

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Meine Freundin seufzte, nahm meine Hand und sagte: "Hör zu, wir sind nicht den ganzen Weg hierher gekommen und haben alles so lange und ausführlich geplant, nur damit du jetzt im letzten Moment anders entscheidest. Reiss dich zusammen, hol tief Luft und komm verdammt nochmal mit!"

Dann zerrte sie mich zu der Gruppe von Menschen, mit denen wir die folgenden fünf Tage verbringen würden.

Es gab einen Grund, warum ich solche Angst davor hatte, sie zu treffen. Nein, nicht das typische "Ist einer von ihnen ein irrer Axtmörder? Werden sie mich entführen und zwingen, einer Sekte beizutreten?" Mein Problem war: Die Leute, mit denen ich die letzten zwei Jahre zusammen World of Warcraft gespielt hatte, kannten mich nur als Nachtelfe Kyrisha, eine große Elfenfrau mit durchdringendem Blick und langen, dunkelgrünen Haaren. Ich hatte mich ihnen als Mädchen vorgestellt und tatsächlich war ich das auch – der Rest meines Umfelds hielt mich nur noch für einen Jungen.


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Damals lebte ich noch gemeinsam mit meiner Familie auf einem Hof in einer ländlichen Gegend von Island. Bei meiner Geburt wurde ich dem männlichen Geschlecht zugeordnet und in den Augen der Menschen in meiner Umgebung war diese Zuordnung auch nicht falsch. Doch in mir brodelte es: Ich war transsexuell.

Mein Selbstfindung endete in einer Krise, als meine Freunde bei World of Warcraft auf die Idee kamen, sich persönlich zu treffen. Wir kannten uns damals nur als Avatare aus verschiedenen Gilden und rivalisierenden Horden und hatten uns zuvor immer nur online miteinander unterhalten.

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Und auf einmal hielt ich ein Flugticket nach England in der Hand und hatte keine Ahnung, wie ich das alles schaffen sollte.

Ich hatte unglaubliche Angst davor, dass sie herausfinden könnten, dass ich trans bin. Würde das alles verändern?

Außer meiner besten Freundin hatte ich noch niemandem erzählt, dass ich eigentlich ein Mädchen war. Nachdem ich ihr von der Reise erzählt hatte, verbrachten wir den kompletten Sommer damit, darüber nachzudenken, wie ich das alles schaffen würde. In Geschäften gaben wir vor, ein Paar zu sein und Klamotten für sie zu kaufen. Allerdings waren die Klamotten, die wir kauften, nicht ganz ihre Größe: Ich trug eine 38 und sie eine 42. Daher kam es auch immer wieder vor, dass ich der Frau an der Kasse meine Karte geben wollte und sie meine Freundin ungläubig fragte: "Bist du sicher, dass dir die Größe passt?"

Eine Verkäuferin wollte einfach nicht locker lassen. Sie beharrte darauf, dass meiner Freundin das körperbetonte, graue Kleid, das wir kaufen wollten, nicht passen würde – und damit hatte sie auch vollkommen recht.

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Irgendwann platzte mir der Kragen: "Hören Sie zu! Wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Das Kleid ist für mich und ich werde großartig darin aussehen. Also nehmen Sie bitte mein Geld und lassen Sie mich gehen, bevor die Situation noch unangenehmer für uns alle wird." Die Verkäuferin starrte mich einen kurzem Moment lang stumm an. Dann nahm sie meine Karte und machte die Kasse, ohne auch nur ein Wort zu sagen. (Ich habe den Laden danach nie wieder betreten.)

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Für den Notfall haben meine Freundin und ich uns Fluchtpläne und geheime Zeichen überlegt. Für den Fall, dass mein Rock gefährlich weit nach oben rutscht oder die Einlagen in meinem BH verrutschen, zum Beispiel. Ich hatte unglaubliche Angst davor, dass sie herausfinden könnten, dass ich trans bin. Würde das alles verändern?

Im Lauf der kommenden Tage lernten wir uns immer besser kennen. Wir tranken zusammen, gingen shoppen, bowlen, zum Paintball und ins Kino. Glücklicherweise waren alle unglaublich nett. Soweit sie wussten, war ich nur ein sonderbares Cis-Mädchen aus Island.

Zum allerersten Mal in meinem Leben ging ich nicht als Junge durch die Welt. Dieses Gefühl war befreiend – eine Form der Freiheit, die mir wieder das Gefühl gab, am Leben zu sein. Ich wusste, dass mich die schonungslose Wirklichkeit schon bald wieder einholen würde, aber ich beschloss, jeden Moment dieser Reise zu genießen. Das konnte mir niemand nehmen. Zumindest dachte ich das.

Während unserer Zeit in England kam ich einer Person aus unserer Gruppe näher. Es kam ziemlich unerwartet und jede andere Person an meiner Stelle hätte das wahrscheinlich ziemlich aufregend gefunden. Ich hatte allerdings eine Scheißangst. Am Ende unseres letzten gemeinsamen Abends sagten wir uns Lebewohl und küssten uns.

Kurz danach saß ich in unserem Hotelzimmer heulend auf dem Boden neben der Toilette. (Damals dachte ich, das Badezimmer wäre der passende Ort, um zu heulen.) "Wer verliebt sich schon in ein Trans-Mädchen?", dachte ich. In dem Moment fragte ich mich, warum ich die anderen nicht einfach nicht mögen konnte. Auf der anderen Seite: Was war schon eine Reise ohne eine kleine, zeitlich begrenzte Romanze?

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In diesem Augenblick wurde mir klar, wie lächerlich das alles war. Warum wollte ich noch immer so tun, als wäre ich ein Junge?

Im Zug auf dem Weg zum Flughafen trafen wir zwei isländische Frauen. Und wie es unter Isländern nunmal üblich ist, wenn sie sich im Ausland treffen, haben wir uns kurz miteinander unterhalten. Im Terminal zog ich dann wieder meine Männerkleidung an, weil in meinem Pass noch immer mein alter Name und mein altes Geschlecht standen. Doch meine alten Klamotten fühlten sich schwerer an, als ich sie wieder anzog – so als hätte sich ihr symbolisches Gewicht in ein reales, physisches Gewicht verwandelt.

Als ich an Bord ging, wurde ich von den beiden isländischen Frauen begrüßt, die wir im Zug getroffen hatten. Sie waren unsere Flugbegleiterinnen.

Ich konnte ihnen ihre Verwirrung ansehen. Das war der Moment, in dem alles über mir zusammenbrach. In diesem Augenblick wurde mir klar, wie lächerlich das alles war. Warum konnte ich es mir nicht einfach eingestehen? Warum wollte ich immer noch so tun, als wäre ich ein Junge Mir war klar, dass ich mit dieser Scharade nicht mehr länger leben konnte. Als ich vom Flughafen aus zurück nach Hause fuhr, beschloss ich, mein Leben zu ändern. Mich selbst in Online-Welten zu verstecken und Oreos zum Abendessen zu essen, würde nicht mehr funktionieren.

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Ich wollte mein Leben von vorne beginnen – aber dieses Mal als ich selbst. Ich werde meiner besten Freundin auf ewig dankbar sein, dass sie mich immer unterstützt hat. Am Ende ging es bei dieser Reise einzig und allein um mich selbst. Ich musste mich auf diese Reise begeben, denn in diesem Augenblick sah ich zum ersten Mal wieder eine Zukunft für mich, in der ich glücklich war. Und dieses Gefühl war letztendlich mehr Wert als alles andere.

Ich hätte niemals erwartet, dass ich zehn Jahre später in England leben würde. Das Leben hat eine komische Art, einen immer wieder an bestimmte Orte zurückzubringen. Ich bin nicht ganz sicher, wie ich das Treffen mit meinen WoW-Freunden so locker durchziehen konnte und mir ist klar, dass die Geschichte ganz anders ausgesehen hätte, wenn mein Aussehen nicht den gesellschaftlichen Normen von Weiblichkeit entsprochen hätte. Ich frage mich nur, ob die anderen wussten, dass ich trans bin oder ob sie es erst erfahren werden, wenn sie diesen Artikel lesen. Was werden sie denken? Wie werden sie reagieren? Vielleicht werde ich es eines Tages erfahren.

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