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Health

Wenn dir mit 33 beide Brüste abgenommen werden müssen

Caitlins Mutter ist mit 54 an Brustkrebs gestorben. Jahre später wird bei der Tochter die gleiche genetische Mutation festgestellt.
Caitlin nach ihrer Operation | Alle Fotos von der Autorin

"Warum kommst du nicht mit zu meiner doppelten Mastektomie?", fragte mich meine Freundin Caitlin.

Das war vergangenen Oktober bei ihrem alljährliches Thanksgiving-Dinner für Freunde – oder Friendsgiving, wie man es auch nennt. Ich war gerade dabei, Salz und Butter in einem gigantischen Topf Kartoffelpüree unterzurühren und steckte trotz Kelle bis zu den Ellbogen in der gelb-breiigen Masse. Mir klappte die Kinnlade runter.

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"Deiner was?", fragte ich.

Im August 2016 hatten Ärzte bei Caitlin eine Mutation des BRCA2-Gens festgestellt, dem sogenannten Brustkrebsgen. Geerbt hatte sie es von ihrer Mutter, die mit 54 an Krebs gestorben ist. Caitlin war damals 14 Jahre alt.

Als zum ersten Mal bei der Mutter Brustkrebs festgestellt wurde, war sie 34. Daraufhin wurde ihr eine Brust abgenommen, nach der einfache Mastektomie war die Krankheit fürs Erste besiegt. Sieben Jahre später aber war der Krebs zurück – dieses Mal in ihrer anderen Brust. 15 Jahre lang kämpfte sie danach gegen die Krankheit an. Caitlin erinnert sich noch gut an die unzähligen Operationen und Chemotherapie-Sitzungen. Und sie erinnert sich daran, dass sie schon mit sieben Jahren wusste, dass ihr das alles eines Tages auch bevorstehen könnte. Ihre dunkle Vorahnung war alles andere als aus der Luft gegriffen. Bei einem Elternteil mit BRCA2-Mutation liegt das Risiko, selbst betroffen zu sein, bei 50 Prozent.


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Wie Eric Mou, ein Onkologe bei Stanford Health Care, mir erklärt, ist das BRCA2 eigentlich dazu da, genetische Unregelmäßigkeiten im Zaum zu halten und damit die Zellen zu stabilisieren. Eine Mutation des Gens kann allerdings DNA-Schäden und weitere genetische Mutationen auslösen, was wiederum das Wachstum von Krebszellen begünstigt. Dem National Cancer Institute zufolge werden etwa 45 Prozent der Frauen mit einer BRCA2-Mutation an Brustkrebs erkranken, bevor sie 70 sind.

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Nach einem positiven BRCA2-Befund prägten Arztbesuche, Mammografien, MRTs und OPs die nächsten anderthalb Jahre in Caitlins Leben. 2016 entdeckten die Ärzte bei einer Mammografie eine Atypische duktale Hyperplasie – abnormales Zellwachstum, das Vorstufen des Krebs enthält und sich unbehandelt zu eben solchem entwickeln kann. Caitlin ließ sich daraufhin das betroffene Gewebe entfernen. Der Krebstest fiel negativ aus. Im folgenden Jahr hatte sie eine MRT-gestützte Biopsie, bei der wieder eine Atypische duktale Hyperplasie diagnostiziert wurde. Langsam fragte sie sich, wie lange dieser Kreislauf aus Mammografien, MRTs, Biopsien und Operationen wohl andauern würde. Diese 18 Monate voller Arztbesuche hatten sie bereits "zwei oder drei Wochen Arbeitsausfall" gekostet, wie Caitlin sagte, und es sah so aus, als ob alles nur schlimmer werden würde.

Drei Optionen stellten ihr die Ärzte zur Auswahl: Sie könnte eine weitere kleine Operation über sich ergehen lassen, auf die dann weitere MRTs und wahrscheinlich auch weitere Operationen folgen würden. Alternativ könnte sie das Medikament Tamoxifen nehmen, das zwar das Brustkrebswachstum unterbindet, ihren Körper dafür aber wahrscheinlich in eine verfrühte Menopause versetzen würde. Und es gab die Option einer prophylaktischen doppelten Mastektomie – die Entfernung beider Brüste mitsamt des potenziell tödlichen Gewebes.

Nach den ganzen Untersuchungen und Eingriffen hatte sie langsam das Gefühl, zwei tickende Zeitbomben vor sich herzutragen. "Also gut, machen wir's", sagte sie zu ihrer Ärztin. Den Operationstermin setzte sie für den 11. Dezember 2017 an, vier Tage nach ihrem 33. Geburtstag.

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Dr. Mou zufolge zeigen viele Studien eindeutig, dass Patientinnen mit einer BRCA2-Mutation durch eine prophylaktische Mastektomie das Krebsrisiko um über 90 Prozent verringern können. Diese Zahl ist ziemlich beeindruckend, für jemanden in Caitlins Alter mit Mutationen des BRCA2- und/oder des ähnlichen BRCA1-Gens ist dieser Eingriff daher auch nicht unüblich. Eine Studie von 2010 kam zu dem Ergebnis, dass sich etwa 14,7 Prozent aller Frauen zwischen 25 und 35 Jahren mit einem solchen Befund für eine Mastektomie entscheiden.

Einfacher wird der Entschluss dadurch aber nicht. Entweder man unterzieht sich einer invasiven Operation, die höchstwahrscheinlich die Beziehung zum eigenen Körper radikal verändern wird, oder man lebt mit einem hohen Krebsrisiko, muss über die Jahre einen Haufen medizinischer Eingriffe über sich ergehen lassen – und wird eventuell trotzdem früh sterben. Caitlin lebt in New York City, ist jung, Single und läuft erfolgreich Marathon. Welche Bedenken jemand wie sie bei einer solchen OP hat, lässt sich schnell erahnen. Aber wenn du noch jung bist und ein operativer Eingriff dein Krebsrisiko für die Zukunft erheblich senkt, warum dann nicht?

"Ich habe das Gefühl, dass das ein Weg ist, meiner Mutter etwas für das zurückzugeben, was sie alles durchgemacht hat", schrieb Caitlin vor der OP bei Instagram. "Also bitte Mama, das hier ist für dich."

Die wohl bekannteste Frau, die sich aufgrund einer BRCA-Mutation vorsorglich einer doppelten Mastektomie unterzog, ist Angelina Jolie. 2013 hatte die damals 37-jährige Schauspielerin und Regisseurin in der New York Times einen Beitrag über ihre Entscheidung veröffentlicht, sich einer prophylaktischen Mastektomie zu unterziehen. Zuvor war bei ihr die BRCA1-Mutation festgestellt worden. Jolies Mutter war mit 56 Jahren an Brustkrebs gestorben.

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Aber die meisten Menschen sind nicht Angelina Jolie. Jolie musste wahrscheinlich nicht wie Caitlin jedes Mal, wenn sie eine Arztrechnung bekam, Stunden am Telefon verbringen und der Versicherung immer wieder erklären, dass sie zwar unter 36 sei, aber durch die Hochrisikofaktoren und Gentests ein Anrecht auf Kostenerstattung habe. Jolie musste wahrscheinlich auch nicht nach der OP vier Stockwerke hoch in ihre Wohnung klettern oder sich darum sorgen, wie sich der Eingriff auf ihre Ersparnisse auswirkt. Jolie musste in der Genesungszeit wahrscheinlich auch nicht abwägen, ob sie sich wirklich das Taxi leisten soll – aus Angst, Fremde könnten in der U-Bahn gegen ihre unverheilte Wunde kommen.

In Deutschland werden die Kosten für eine vorbeugende Brustentfernung unter ganz bestimmten Umständen von den Krankenkassen übernommen, wie auch noch mal in einem Gerichtsurteil von 2016 bestätigt wurde.

Caitlin wartet im Krankenhaus auf die OP

"Wir sind früh dran." Es ist der 11. Dezember, 5:14 Uhr morgens und ich habe gerade eine SMS von Caitlin bekommen.

Wenig später treffe auch ich im Krankenhaus ein. Caitlin sitzt in dem Wartebereich für OP-Patienten im 10. Stock des NYU Langone's Tisch Hospital. Sie kann ihre Augen kaum aufhalten. Ihr gegenüber sitzen ihr Vater und ihre beste Freundin Casey. Caitlin hat seit 20 Uhr am Abend zuvor nichts getrunken oder gegessen. Seit 4 Uhr ist sie wach. Die OP ist für 7 Uhr angesetzt. Es dauert nicht lange, bis eine Krankenpflegerin auftaucht und sie hinter eine dunkle Holztür führt.

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Kurz darauf werden auch wir durch die Tür gebeten, um Caitlin noch einmal vor ihrer OP zu sehen. In einem winzigen von Neonlicht erhellten Raum sitzt sie da. Sie trägt einen dünnen Krankenhaus-Kittel und ein hellblaues Haarnetz. Casey reicht ihr einen Plüsch-Wal, doziert Fakten über Meeresgetier und die Handlung von Moby Dick, um Caitlin und vielleicht auch sich selbst von der anstehenden OP abzulenken. Caitlin bekommt ein Lächeln hin und legt ihren Kopf auf die Schulter ihres Vaters.

Caitlin mit ihrem Vater vor der OP

Eine Arzthelferin im klassischen grünen OP-Aufzug tritt ein. Es ist Zeit. Im Raum wird es still. An die Tür gelehnt umarmt Caitlin ihren Vater. Ihre Augen hat sie fest zusammengekniffen, Tränen rollen kaum merkbar über ihre Wangen. Danach bekommt auch Casey noch eine Umarmung und Caitlin verschwindet mit der Arzthelferin hinter einer weiteren dunklen Holztür.

Zuerst wird der chirurgische Onkologe das Brustgewebe entfernen, dann wird die plastische Chirurgin die Rekonstruktion mit den von Caitlin ausgewählten Implantaten durchführen. Ihre Brustwarzen, die negativ auf Krebs getestet wurden, wird sie behalten. Die Wunde wird zugenäht und in einen kleinen Einschnitt an jeder Brust kommt eine Drainage, die Blut und Eiter ablaufen lässt und Caitlin so vor einer Entzündung bewahrt. Sie wird die Drainagen zweimal am Tag leeren müssen. Falls sich trotz der Operation Brustkrebs entwickeln sollte, wird er verhältnismäßig leicht zu entdecken sein. In einer unoperierten Brust ist Krebs viel schwieriger zu ertasten.

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Ihr bisheriges Leben als selbstständige und aktive Frau wird sich in den nächsten Wochen drastisch ändern. Caitlin wird lernen müssen, um Hilfe zu bitten – etwas, das sie nicht gewohnt sei, wie sie zu mir meinte. Eine ganze Woche nach ihrer Operation wird Caitlin sich nur mit einem Schwamm waschen dürfen. Ihre Haare müssen trocken bleiben. Körperliche Aktivitäten, die normales Gehen überschreiten, sind ebenfalls untersagt. Vier bis sechs Wochen wird es dauern, bis sie wieder bei Kräften und das Erschöpfungsgefühl verschwunden ist.

Caitlin nach der Operation mit den Drainagen, die Blut und Eiter aus ihrer Brust abfließen lassen

Als Caitlins Operation vorbei ist, sagen der chirurgische Onkologe und die plastische Chirurgin ihrem Vater, dass der Eingriff ein Erfolg war: "Sie sieht wunderschön aus." Das Brustgewebe haben sie auch untersucht. Zum Glück ist alles gut: kein Krebs. Seine Augen leuchten auf, er zieht ein zerknülltes Tuch aus der Tasche, um sich die Tränen abzutupfen.

Als wir Caitlin endlich sehen, ist sie auf einer Liege und mit diversen Maschinen verkabelt. "Ich habe einen Haufen Medikamente bekommen", sagt sie lächelnd.

Caitlin läuft am Tag nach der OP über den Krankenhausflur

Eine Woche später hat Caitlin keine Drainagen mehr und darf endlich wieder duschen. Über ihre Zeit nach der Genesung sagt sie, dass sie sich mehr Sorgen über ihre sportliche Leistung als ihr Liebesleben mache.

Caitlins Mutter hatte bei ihrer ersten Mastektomie die Brustwarze verloren. Wie ihr Vater später Caitlin erzählte, habe ein anderer Mann zu ihm gesagt, dass er "ziemlich überrascht" gewesen sei, dass er sie nicht verlassen habe. Dass ihn das extrem wütend gemacht hat, muss man wohl nicht extra sagen. Caitlin weiß allerdings, dass nicht alle zukünftigen Partner dermaßen wohlgesonnen auf ihren Eingriff reagieren werden. "Manche Typen werden wahrscheinlich kein Problem damit haben, andere werden dafür durchdrehen", sagt sie. "Ich weiß nicht wirklich, wann der perfekte Zeitpunkt ist, um es jemandem zu sagen. Ich weiß nicht genau, wie wohl ich mich mit Intimität fühlen werde, oder ob sich da überhaupt etwas ändert. Ich muss anfangen, mich wieder wohl in meiner eigenen Haut zu fühlen."

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Sie erklärt mir weiter: "Meine größte Sorge ist wahrscheinlich, beim Laufen wieder zurück in Form zu kommen." Bei drei geplanten Marathons für 2018 kein Wunder.

Sie hat ihre Beine gedehnt, vorsichtig Arme und Bauch trainiert. Sie hat ausgedehnte Spaziergänge gemacht und Tiefenatmung geübt, damit sie Sauerstoff vernünftig austauschen kann. Im April steht der Paris-Marathon an, im September der in Berlin und im Oktober Chicago. Caitlin weiß, dass das ambitionierte Ziele sind, aber sie hat einen eisernen Willen. Ihre idealen Rennzeiten hat sie bereits im Kopf.

Einen Monat nach ihrer Operation moderiert sie ein Pub-Quiz in Brooklyn. Ihre Haare hat sie sich blond gefärbt. Sie arbeitet wieder und darf endlich auch wieder joggen. Sie tut ihr Bestes, um zur Normalität zurückzukehren, nur ihr Körper will noch nicht so wirklich wie früher – vor allem beim Laufen – und das frustriert sie.

"Das ist ein Eingriff, der dein Leben verändert – nicht nur körperlich, sondern auch geistig"; erklärt Dr. Mou. Patientinnen wie Caitlin brauchen einige Zeit, um den Umgang mit ihren Körpern wiederzuerlernen. Sie müssen sich damit auseinandersetzen, was es heißt, einen guten Teil ihres Selbst zu verlieren – wortwörtlich wie im übertragenen Sinn. Unzufriedenheit mit dem eigenen Körperbild, Depressionen und Angstzustände sind bei Mastektomie-Patientinnen nicht selten.

Während sich Caitlin wieder mit ihrem Körper anfreundet, für Marathons trainiert und versucht, ihre Post-Mastektomie-Zukunft zu ordnen, hofft sie natürlich, dass die Operation sie vom Leidensweg ihrer Mutter und einem Leben in Angst vor einer Krebserkrankung bewahren wird. Aber momentan versucht sie einfach nur, ihren Alltag zu meistern. Einen Tag nach dem anderen.

Dr. Mou empfiehlt Mastektomie-Patientinnen Selbsthilfegruppen oder eine Beratung in Anspruch zu nehmen. Dafür ist Caitlin aber noch nicht bereit. "Mein Leben zurückzubekommen, ist ein Aspekt und der befindet sich noch in Arbeit. Aber es schwirren dazu ein Haufen unbeantworteter Fragen durch mein Unterbewusstsein, die sich darum drehen, worum es bei diesen Gefühlen tatsächlich geht", sagt sie. "Eigentlich will ich doch nur normal aussehen und mein Leben leben."

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