Diese 19-Jährige macht Bügelperlenbilder, um sich bei YouTubern zu bedanken
Alle Fotos: Sebastian Hopp

FYI.

This story is over 5 years old.

Popkultur

Diese 19-Jährige macht Bügelperlenbilder, um sich bei YouTubern zu bedanken

Als sie 13 war, versuchte Lea sich umzubringen. Dann hat sie ein Video gesehen. Seitdem hat sie eine Mission.

Auf fünf Quadratmetern unter zwei Leuchtstoffröhren hat Lea Stollenwerk sich einen Ort geschaffen, an dem es zum ersten Mal egal war, wie sie aussieht. Vor ihr, auf einer weißen Tischplatte, liegt Cengiz Dogrul, ein YouTuber von der Gruppe ApeCrime. Lea greift in eine Plastikdose mit hunderten grünen Bügelperlen, ihre Hand ist ein bisschen verschwitzt, die Perlen bleiben kleben. An der Wand in einem Hängeregal stehen noch mehr Plastikdosen mit noch mehr Bügelperlen. Neben Lea steht ein weißer Einbauschrank, früher hat ihre Oma das Zimmer zum Bügeln benutzt. Dann hat Lea Fotos von den VideoDays in Köln aufgehängt, ihren Schreibtischstuhl hineingeschoben und Vorräte deponiert: Bügelperlen in Tüten, nach Farben sortiert. Lea steckt eine dunkelgrüne Perle in Cengiz' Pupille. Die rausgestreckte Zunge fehlt noch, die Nase sieht man erst zur Hälfte.

Anzeige

Wenn Lea in ihrem Bügelperlenzimmer sitzt, vergisst sie manchmal zu essen. Wenn ihre Mutter sie ruft, hört sie es nicht. Auf ihrem Handy läuft ein YouTube-Video, und über den Handykopfhörern trägt sie Lärmschutzkopfhörer. Sie sagt, sie könne sich so besser konzentrieren. Auf die Videos und auf das Bild, das vor ihr liegt. Man kann YouTuber laut finden und nervig. Aber wenn Lea zwischen den Bügelperlen Videos guckt, im ersten Stock einer Doppelhaushälfte in Düren, ist sie nicht der einzige junge Mensch in einer Siedlung voller Rentner. Dann ist sie @kleine_reiswaffel. Ihr geben die Videos mehr als nur Schminktipps – für sie sind sie ein Zuhause.

kleine_reiswaffel Bügelperlenbilder von YouTubern

Für ihre Bügelperlen hat Lea ein eigenes Zimmer

Lea steckt Bügelperlenbilder – quadratmetergroß, aus zehntausenden Perlen. Bügelperlen kennt jeder aus dem Kindergarten. Andere Leute machen aus ihnen Weihnachtsbaumschmuck oder Mandala-Muster. Lea macht daraus Bilder von YouTubern, die sie toll findet. 36 Stück hat sie gesteckt, über eine Million Perlen verarbeitet. An jedem Bild sitzt sie etwa 80 Stunden. Sie macht das, weil sie damit den Menschen ein bisschen näher kommt, die ihr Leben verändert haben. Wenn das Bild von Cengiz fertig ist, ungefähr nach 30.000 Perlen, will sie es ihm übergeben, am besten persönlich, bei einer Autogrammstunde. Sie erwartet nichts dafür. Geld lehnt sie immer ab. "Ich mache das ja aus Dankbarkeit", sagt sie.

"Da kommt die Dicke, die sich als Opfer darstellt"

YouTuber geben Schminktipps, halten Produkte in die Kamera und veröffentlichen Videos, die "Geschenkpapier Extrem PRANK!" heißen. Aber sie sagen auch: "Lebe deinen Traum, egal was die anderen sagen." Und: "Es ist OK, anders zu sein." Das klingt nach Wandtattoos und nachdenklichen Sprüchen auf Bildern. Aber Lea hat jemanden gebraucht, der ihr das sagt.

Ihr erstes YouTube-Video hat Lea gesehen, als sie 13 war. Bibi von "BibisBeautyPalace" brachte ihr darin bei, wie man Lidschatten aufträgt. Ein Jahr lang zog sie das durch, trug jeden Morgen blauen Lidschatten auf, passend zu ihren Augen. Innen heller und außen dunkler. Lea dachte, mit Lidschatten und mit Bibi könnte sie in der Schule dazugehören. Aber es änderte nichts. Jedes Mal, wenn sie in die Schulmensa kam, traten ihr die Kinder in ihrer Klasse gegen die Schienbeine. "Anders lernen die Fetten es nicht", sagten sie. Auf dem Schulhof zog ein Mädchen Lea das T-Shirt aus und rannte damit weg. Sie stand halbnackt da. Keine sexuelle Belästigung, sagten die Lehrer, es war ja ein Mädchen. Und sie sagten, dass Lea selbst das Problem sei – sie gelte als Petze. "Ich habe immer versucht, mich klein zu machen", sagt sie. "Und niemand hat mir geholfen." Die anderen haben gesagt: "Da kommt die Dicke, die sich als Opfer darstellt."

Anzeige
kleine_reiswaffel Lea riesen Bügelperlenbild

Eine App hilft Lea dabei, die Farben an die richtige Stelle zu setzen

An einem Abend nach einem Klassenausflug versuchte Lea, sich das Leben zu nehmen. Es war "Boys and Girls Day", die Klasse hatte eine Firma besucht, bei der die Mitarbeiter ein Buffet aufgebaut hatten. "Lea hat das Buffet verschlungen", sagten ihre Mitschüler. Zu Hause nahm Lea Schlaftabletten, 25 Stück. Danach torkelte sie durch die Wohnung, bis ihre Mutter sie fand und ins Auto setzte. "Erst zwei Wochen später war ich wieder richtig bei Bewusstsein", sagt sie – und in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Aachen.

"Wie im Knast", sagt Lea, sei die Zeit in der Psychiatrie gewesen

"Die Zeit in der Psychiatrie war schrecklich", sagt Lea und schaut einem dabei fest in die Augen.

Wie schon in der Schule ging es auch den Ärzten um Leas Gewicht: Sie wurde von Essen ferngehalten, bekam einen Ernährungsplan. Jeden Morgen musste sie im Hof drei Runden im Kreis laufen. "Wie im Knast", sagt sie. Internet gab es nicht, denn sie sollte sich mit sich selbst beschäftigen. So verlor sie den Kontakt zu den paar anderen Außenseitern, mit denen sie in der Schule befreundet war.

Als sie nach einem Jahr zurück in die Schule kam, in eine neue Klasse, war ihr Ruf schon da: "Oh-oh, Lea kommt, wir müssen vorsichtig sein", sagten die anderen, "sonst springt sie vor den nächsten Zug."

Heute sagt Lea: "YouTube hat mich gerettet."


Auch bei VICE: Wie sich 'Sailor Moon' in eine Zuflucht für die Queer-Kids der 90er verwandelt hat

Anzeige

Als Lea Anfang 2014 mit 14 Jahren aus der Klinik kam, war das "One Day"-Video von Julia Engelmann eines der meistgeklickten auf YouTube. Das Video wurde oft aus Häme geteilt, weil die Reime nicht ganz stimmen, selbst der nicht gerade als Coolness-Instanz bekannte Spiegel nennt Engelmann "Queen of Uncool". Julia Engelmann sagt im Video Sätze wie: "Du wolltest abgehen, mehr rausgehen, deine Träume angehen, mal die Tagesschau sehen."

Lea sagt, sie habe selbst eigentlich kein künstlerisches Talent. Die Bügelperlen hat ihr ein Arzt als Training empfohlen, weil ihre Feinmotorik früher nicht gut war. Für ihre Bilder benutzt sie eine App, die ihr anzeigt, an welche Stelle sie welche Bügelperle in welcher Farbe stecken soll. Aber Lea hat Ausdauer. Und etwas, das sie glücklich macht.

Nach ihrer Ausbildung zur Kinderpflegerin – ihre Mutter wollte, dass sie etwas Vernünftiges lernt – ist Lea zum Casting an der Kölner Theaterakademie gegangen. Sie hat einen Monolog vorgesprochen, bei dem sie auf der Bühne schreien und toben konnte. Sie hat sich das getraut, weil Julia Engelmann gesagt hat, dass man an seine Träume glauben soll. In ihrem Jahrgang an der Theaterakademie ist Lea die Jüngste.

Die YouTuber schreiben ihr Nachrichten, weil sie ein Bild von sich haben wollen

Für Julia Engelmanns Gesicht hat sie 31.000 Perlen gebraucht. Bei einer Autogrammstunde in Köln im Oktober 2017 überreichte Lea ihr das Bild, ihre Mutter stand filmend dahinter. Julia Engelmann wusste erstmal nicht so richtig, was das soll, dieses riesige Porträt von sich selbst. Von Weitem sehen die Bilder aus wie ein sehr großes Ausmalbild. Dass es Bügelperlen sind, einzeln aufgesteckt, das versteht man erst beim Anfassen. "So reagieren alle", sagt Lea. "Sie müssen erstmal mit den Fingern drüberstreichen, um zu begreifen, wie viel Arbeit da drin steckt." Am Ende hatte Julia Engelmann Tränen in den Augen, Leas Mutter auch, Lea sowieso, und sogar die Mutter von Julia Engelmann, die daneben stand.

Anzeige

Wenn ein Bild fertig ist, muss Leas ganze Familie helfen: Ihre Mutter bügelt über die Perlen, ihre Großmutter und ihr Onkel kommen, um das Bild umzudrehen. Sie kleben es auf eine Leinwand und verpacken es in Plastikfolie. Lea pappt dann ihre Visitenkarte auf die Rückseite. "Wenn ich ein Bild überreiche, dann kennen mich die YouTuber schon", sagt Lea. Wer auf YouTube wichtig ist, bekommt ein Bügelperlenbild von @kleine_reiswaffel. Manche bestellen es sogar.

Das Haus, in dem Lea mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter wohnt, liegt in einer Gegend, in der Straßen in Garagenhöfen enden und der Bus zum Bahnhof nur bis 20 Uhr fährt. Wer hier wohnt, am Rand von Düren in Nordrhein-Westfalen, ist im Normalfall Rentner. Niemand will hier hin, und niemand kommt hier gut weg. Aber im Oktober diesen Jahres fuhr hier Andre Schiebler von ApeCrime vor, um sein Bügelperlenbild abzuholen.

Lea lebt in Düren und macht Bügelperlenbilder

Normalerweise ist in Leas Gegend nicht soviel los – bis eines Tages Andre Schiebler von ApeCrime vorfuhr

Andre hatte ihr eine Nachricht auf Instagram geschrieben. Dass er ihre Arbeit super findet und gerne ein Bild von sich hätte. Lea war geehrt, fühlte sich irgendwie wie ein Teil des Clubs. Da wusste jemand, wer sie ist und was sie macht. Sie war nicht mehr "die Fette" am Buffet, sondern Lea, die mit den Bügelperlen. Sie hat Andre sofort gefragt, wohin sie das Bild schicken soll. Aber er wollte vorbeikommen.

Leas Mutter fährt mit ihr überall hin: zu den Videodays – und zum CSD

Lea ist "ein ruhiger Fan", wie sie selbst sagt, weil sie bei Autogrammstunden nicht kreischt, sondern Bilder verschenkt. Sie hat auf Instagram nicht damit angegeben, dass Andre ihr geschrieben hat – aber das Video, das ihre Mutter von dem Besuch gemacht hat, hat sie veröffentlicht.

Da steht Andre in Leas Wohnzimmer, zwischen dem Esstisch aus hellem Holz und der roten Couch. Sie hält ihm die Leinwand hin, auf der er mit seiner Katze zu sehen ist, gesteckt aus zehntausenden Plastikperlen. "Boah krass. Krass. Das ist ja richtig krass", sagt Andre. Und Lea lächelt, hüpft nicht und schreit nicht, obwohl sie sich seit Tagen auf diesen Moment gefreut hat. Nur 15 Minuten war Andre da, dann musste er wieder los, ein neues Video drehen.

Anzeige

Im Sommer 2015 schaut die YouTuberin Melina Sophie, kurze braune Haare, dunkelroter Lippenstift, konzentriert in eine Kamera. "YouTube ist ein großer Teil meines Lebens, ihr seid ein großer Teil meines Lebens", sagt sie. Dann erzählt sie, dass sie lesbisch ist, und dass sie das schon immer wusste. Ein paar Wochen nachdem Lea das Video sieht, hat sie ihr Coming-out vor ihrer Mutter. "Gar nicht schlimm", sagt die. Zwei Jahre später fährt sie mit Lea zum CSD nach Köln.

Leas Mutter, Claudia, sagt, sie habe nichts dagegen tun können, dass ihre Tochter gemobbt wurde. Sie habe versucht, andere Schulen zu finden, aber keine wollte Lea aufnehmen – sie galt als Problemschülerin, weil sie so oft durch die Konflikte mit den Mobbern auffiel. Als Claudia ihre Tochter in die Psychiatrie gefahren hat, habe sie gedacht, dass das eine vernünftige Entscheidung sei. Heute will sie zusammen mit Lea unvernünftig sein. Claudia schaut YouTube-Videos und fährt mit zu Autogrammstunden. Weil es sie glücklich mache, dass ihre Tochter dort Anerkennung bekommt.

Kunst aus Bügelperlen Lea und ihre Familie

Lea wohnt in Düren in einer Wohnung mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter

Auf Instagram spricht sie mit Leuten, die gemobbt werden

Knapp 20.000 Menschen folgen Lea auf Instagram. Einmal hat sie an einem Tag 4.000 neue Follower bekommen, weil eine YouTuberin sie in einem Post verlinkt hat. Über Stunden konnte sie ihr Handy nicht anschalten, nichts hat mehr funktioniert.

Seitdem hat sie zwei Handys: eins für sich und ein Fan-Handy. Auf dem Fan-Handy hat sie eine Whatsapp-Gruppe gegründet für Leute, die in der Schule gemobbt werden. Als die Gruppe voll war, hat sie die Nummer nochmal gepostet: "Anrufen könnt ihr trotzdem." Die Leute, die anrufen, sagen, dass sie gerne so stark und selbstbewusst wären wie Lea. Neulich hat jemand auf Instagram eine Fanpage für sie erstellt.

Manchmal schreiben Lea aber auch Leute auf Instagram: "Wie viel wiegst du?", oder "Schon mal überlegt, abzunehmen?". Sie sagt: "Ich antworte denen mit Ironie." Das habe sie vom Comedian Faisal Kawusi gelernt. Meistens fragt sie einfach zurück: "Warum willst du wissen, welche Größe ich habe?" Danach halten die meisten dann die Klappe.

Seit sie auf der Schauspielschule ist, hat Lea eine Clique. Leute, mit denen sie nach der Schule weggeht, meistens ins Theater. Natürlich fragen die, ob Lea am Wochenende nicht mal was anderes machen will als Bügelperlenbilder. Wolle sie nicht, antwortet sie.

Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.