Ich habe in der Polizei-Notrufzentrale erfahren, wie deutsch deine Nachbarn sind
Die Notrufzentrale und Michael Pölk | Alle Fotos: Eva L. Hoppe

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Berlin

Ich habe in der Polizei-Notrufzentrale erfahren, wie deutsch deine Nachbarn sind

"Können Sie eine Streife schicken? Meine Nachbarn feiern wieder Techno."

"Nachher gibt es Bambule", sagt Michael Pölk. Der Polizeibeamte sitzt vor vier Bildschirmen und zwei Telefonhörern in der Berliner Notrufzentrale. In dem Raum, so groß wie ein Handballfeld, herrscht keine Callcenter-Hektik, alle murmeln. Rund um den 53-Jährigen hocken 44 weitere Mitarbeiter in Viererreihen auf ihren verkabelten Schreibtischinseln. Sie alle warten. Es ist Freitag, 20:30 Uhr. An dem Wochentag wählen am meisten Leute in der statistisch kriminellsten Stadt Deutschlands den Notruf. "Das hier ist wie eine Pralinenschachtel", sagt Pölk. "Man weiß nie, was der nächste Anruf bringt." Alle 24 Sekunden kommt durchschnittlich ein Anruf rein. Dahinter kann alles stecken: Mord, Vergewaltigung oder auch nur ein Fake-Anruf. Wir hören einen Abend lang in die Leitung Berlins.

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Alles, was Berlinern hinter verschlossenen Türen Angst macht oder das Gefühl entstehen lässt, hilflos zu sein, kommt hier an. Pölk und seine insgesamt 300 Kollegen, die im Schichtdienst abheben, sind das andere Ende der fest eingebauten Kurzwahltaste. Das kann nerven, denn Notruf ist nicht gleich Notruf. Von den jährlich rund 1,3 Millionen Notrufen ist jeder Fünfte so ein "Fake", hieß es mal von der Berliner Polizei. Genaue Zahlen gebe es aber nicht, sagt Michael Prinz, Leiter der Einsatzleitzentrale. Kinderstreiche, Betrunkene, die nur plaudern wollen, oder Oma Russmann, die wissen will, was im Fernsehen läuft. Als Teil ihrer Kampagne "NoNotruf" twitterten die Beamten skurrile Anrufe wie "Können Sie mich nach Hause fahren? Ich bin total voll" oder "Ich hab in meiner Wohnung 'ne Spinne gefangen und in ein Glas gesperrt. Sie können die jetzt abholen." Es fanden sich dabei auch viele deutsche Hobby-Polizisten: "Ich habe im TV gesehen, dass in Köln Autos angehalten werden. Das sollte man hier auch machen und Führerscheine entziehen." Prinz betont aber: "Es ist strafrechtlich kein Missbrauch vom Notruf, wenn ich in dem Glauben anrufe, dass ich die Polizei brauche." In vielen Fällen könne aber das Bürgertelefon eher helfen. Trotzdem rufen viele lieber bei der Polizei an. Ganze 88 Prozent der Deutschen gaben laut einer repräsentativen Umfrage 2017 an, dass sie "großes Vertrauen" in die Polizei haben – so viel wie seit 20 Jahren nicht. Mehr Arbeit für Pölk.

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300 Mitarbeiter wechseln sich im Schichtbetrieb ab, um die Berliner Notrufe anzunehmen

21:03 Uhr. Blechschaden. Schon beim ersten Anruf wird der Kriminalvoyeurismus enttäuscht. "Hallo, hier Michael Pölk, Sie haben den Notruf der Polizei Berlin gewählt!", meldet sich der Beamte, dessen müde Augen plötzlich fokussiert durch die Brillengläser auf den Monitor starren. "Ich bin gerade gegen einen Laternenpfeiler gefahren", beichtet ein Mann mit dunkler Stimme. "Ich wollte das nur melden."

Pölk presst mit der linken Hand den Hörer ans Ohr, mit der rechten tippt er in Stichworten einen der 174 verschiedenen Anlässe für Polizeieinsätze in die Tastatur: "VU" – für Verkehrsunfall. "Auf welcher Straße stehen Sie denn?", fragt Pölk und schaut auf eine schwarz-weiße Stadtkarte auf seinem Bildschirm. "Ich weiß es nicht", antwortet der Anrufer. "Dann begeben Sie sich bitte an die nächstgelegene Straßenkreuzung und sagen Sie mir den Straßennamen!", fordert Pölk wie ein engagierter Lehrer, der sich bemüht, dass sein Zögling endlich den Dreisatz versteht. Nach einigen Sekunden weiß er Straße und Hausnummer in Kreuzberg. "Danke, die Kollegen sind unterwegs", sagt er – während am anderen Ende des Raumes der für den Bezirk verantwortliche Beamte schon seine Notizen im System gelesen hat und die Streife losschickt, die in seinem Revier gerade frei ist. Untern den VU rattern auf Pölks Monitor wie in den Kommentaren eines Facebook-Live-Videos immer neue Notrufe rein.

21:22 Uhr: UL – Unzulässiger Lärm. "Partymusik aus einer Wohnung in Hohenschönhausen."

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21:34 Uhr: RP – Randalierende Person. "Männliche Person schlägt Tür ein in Spandau."

21:36 Uhr: ZST – Zahlungsstreit. "Pärchen will im Lokal in Charlottenburg gehen, ohne zu zahlen."

21:38 Uhr: GGP – Geistig gestörte Person. "Person läuft über Straße in Schöneberg."

Manchmal muss man auch ein bisschen lauter werden

"Das größte Problem unserer Arbeit ist, dass 50 Prozent der Anrufer nicht wissen, wo sie sind", sagt Pölk, der seit 23 Jahren Berliner Notrufe annimmt. "Es gibt kein GPS, wir können nur den E-Ort – also den Handymast – herausfinden, über den der Anrufer telefoniert", fügt er hinzu und klingt so, als habe er sich abgefunden, sich darüber aufzuregen. Selbst kostengünstige Apps für Hobby-Stalker oder Tinder können Handys besser orten als die Berliner Polizei, deren Sparkurs über zwei Jahrzehnte marode Gebäude, veraltete Ausrüstung und überlastete Mitarbeitern hinterließ.

Michael Pölk und seine Kollegen sitzen in der heutigen Nachtschicht von 18 bis 6 Uhr hier

Auf dem kleinen Monitor vor Pölk stapeln sich wie bei Tetris rot leuchtende Rechtecke mit den neuen Notrufen. Immer wenn Pölk sie anklicken will, schnappt sie schon ein Kollege vor ihm weg. "Es ist heute echt wenig los", sagt er entschuldigend immer wieder. Lediglich sechs Notrufe sind gerade in der Leitung, zeigt der kleine Bildschirm vor ihm an. An manchen Tagen können Bürger aber auch bei der Polizei in der Warteschlange landen. Die Bandansage gibt es seit 2009 und geht nach 17 Sekunden für den 61. Anrufer an, der gleichzeitig in der Leitung ist. "Das ist mir nur einmal passiert – vor einigen Monaten bei dem schlimmen Sturm", sagt Pölk. In der Reihe vor ihm sitzt ein Kollege, der etwas lauter in seinen Hörer sagt: "Thän i cän not help you", und auflegt. Fremdsprachenkenntnisse sind nicht verpflichtend – wenn ein Kollege den Anrufer nicht verstehe, gebe er ihn weiter, sagt Pölk.

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Eine spezielle Notruf-Ausbildung gibt es hier nicht, die Beamten werden lediglich mit der Technik vertraut gemacht. "Man merkt schnell, ob das für einen was ist", sagt Pölk. Am besten sei es, wenn man schon mal Funkwagen gefahren ist. Ruhig und präzise müsse man sein. "Manchmal muss man auch ein bisschen lauter werden, um zu den Leuten durchzukommen."

Die Einsatzleitzentrale könnte auch ein Stammtisch der Freiwilligen Feuerwehr sein

Pölk ist im Büro die Norm – um die 50, weiß und männlich. Die Beamten heißen hier Bierfreund oder Müller und die Einsatzleitzentrale könnte auch ein Stammtisch von Jägern, der Freiwilligen Feuerwehr oder des Schützenkomitees im örtlichen Ratskeller sein. Nur 15 Prozent der Mitarbeiter sind Frauen. Das liege am Schichtbetrieb, sagt der Einsatzleitzentralen-Leiter Michael Prinz; der ließe sich eben schlecht mit den Kindern vereinbaren. Michael Pölk hat auch drei Kinder. Und die verhindern, dass sein Grundsatz "Ich nehme nichts von dem Leid am Telefon mit nach Hause" manchmal bröckelt. "Am härtesten ist es, wenn Kinder anrufen, dass der Papa gerade die Mama schlägt", sagt er. Seine Aufgaben sei dann, sie von der Gefahr wegzulotsen und sie so lange am Hörer zu halten, bis die Kollegen vor Ort sind.

Einen von 174 verschiedenen Anlässen muss Pölk ins System tippen

21:55 Uhr. UL – Unzulässiger Lärm. "Personen spielen Trinkspiel auf dem Gehweg gegenüber", steht jetzt oben in der Timeline auf Pölks Bildschirm. "Tagsüber haben wir viele Verkehrsdelikte und am Abend ändert sich die Qualität der Anrufe", sagt er. Mord und Totschlag? Pölk schüttelt den Kopf. Die Zahl der Morde ist in Berlin seit Jahren rückläufig. 2016 gab es 92, im vergangenen Jahr 91 Fälle. Berlin ist mit 16.161 Straftaten je 100.000 im Jahr 2016 die kriminellste Stadt Deutschlands. Neben Vorfällen im Straßenverkehr scheint die Ruhestörung des Berliners liebstes Verbrechen zu sein. "Ab 22 Uhr ruft jeder Zweite wegen unzulässigen Lärms an", erklärt Pölk und zeigt auf die Timeline, wo jetzt schon vor der allgemeinen Nachtruhe lauter "UL" aufploppen: laute Musik, zu hoch gepegelte Fernseher, Gespräche auf dem Balkon. "Das stört uns insofern, weil viele Bürger sofort die Polizei rufen, statt erstmal mit dem Nachbarn zu reden." Viele Menschen wählen nicht einmal in ihrem Leben die 110 – die Situation, dass die Polizei nach 22 Uhr vor der Tür steht, dürfte deutlich mehr Menschen bekannt sein.

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22:36 Uhr: UL. "Männliche Person schreit seit 10 Minuten vom Balkon."

22:54 Uhr: PYRO. "Sechs bis acht Personen zünden Silvesterknaller in Kreuzberg."

22:57 Uhr: UL. "Laute Musik aus einer Wohnung in Neukölln."

23:01 Uhr: TST – Trunkenheit im Straßenverkehr. "Fahrer fährt Schlangenlinien, steht jetzt bei KFC."


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Die Timeline rattert weiter herunter und erinnert an eine TV-Programmzeitschrift mit lauter Spoilern für Geschichten, die man sich nicht anschauen will, weil sie nicht sehr aufregend klingen. "Das hier ist Fließbandarbeit", sagt Pölk. Was nach den Anrufen passiert und hinter den polizeilichen Abkürzungen steht, kriegen die Beamten am Telefon nicht mit. "Einmal habe ich über 1,5 Stunden am Telefon einen Mann in einem Wald in Brandenburg gehabt, der sich umbringen wollte", wirft plötzlich ein Kollege ein, der mittlerweile neben Pölk sitzt. "Da habe ich mich, nachdem ich ihn abgehalten habe, mal erkundigt, ob die Kollegen ihn retten konnten", sagt er. Solche Thriller seien aber die Seltenheit, wirft Pölk ein. "Ich erinnere mich nicht, dass ich mal einen Selbstmörder oder ein wirklich spektakuläres Verbrechen am Hörer hatte." Falls die Beamten ein tragisches Schicksal trotzdem nicht mehr loslässt, können sie sich bei der psychologischen Nachbetreuung der Polizei melden.

23:36 Uhr: TST. "Betrunkener fährt auf Columbiadamm."

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23:39 Uhr: UL. "Laute Musik in Friedrichshain."

23:43 Uhr: SCH – Schlägerei. "Fünf Personen haben Schlägerei im Wedding."

"Meine Nachbarn feiern wieder Techno"

23:54 Uhr. "Hallo, Sie sprechen mit Michael Pölk von der Polizei Berlin", sagt der Beamte und presst den Hörer ans Ohr. "Können Sie eine Streife schicken? Meine Nachbarn feiern wieder Techno", flüstert eine verschlafene – aber genervte – Frauenstimme und nennt ihre Adresse. "Sind Ihre Nachbarn bei Ihnen im Haus?", fragt Pölk, der die Frau durch seine präzisen Fragen und die ruhige Stimme beruhigt. "Ja, eine Etage drüber", antwortet sie. "Schicken Sie bitte eine Streife, die denen sagt, dass sie damit aufhören sollen an jedem Wochenende", sagt sie. "Die Kollegen kommen vorbei", sagt Pölk und legt auf. Der genervte Anruf der Frau ist ein sehr deutsches Phänomen. Laut einer GfK-Studie zoffte sich bereits fast jeder dritte Deutsche mit seinen Nachbarn. Einen Pro-Tipp für die nachbarliche Ruhestörung hat Pölk aber auch: "Laute Musik ist in der Nachtruhe immer verboten, weil es auch leise geht", erklärt er. "Aber laute Unterhaltungen in einer Wohnung können wir nicht unterbinden."

00:15 Uhr. "Halbzeit", schallt es mit kräftigen Stimmen durch den Raum. Die Pressesprecherin der Berliner Polizei will ins Bett und schleift mich mit. Für Michael Pölk geht es noch sechs Stunden weiter. Und der entschuldigt sich fast, dass das kriminellen Großstadttreiben heute provinzieller Gemütlichkeit wich. "Das ist heute wohl der Vorführeffekt", sagt Pölk. "Beim nächsten Mal kommen Sie einfach zu Silvester!"

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