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Wenn wir bei R. Kelly so ein mulmiges Gefühl haben, warum hören wir dann noch zu?

Naja, das ist kompliziert.

Eine Qualität, die das Internet besonders auszeichnet, ist, dass es ein Gedächtnis wie eine Horde Elefanten hat. Der kürzliche Leak von R. Kellys neuem Album Black Panties hat mal wieder ein paar Fragen aufgeworfen, die wir uns schon seit Jahren stellen: Ist es okay, seine Musik zu mögen und davon abzusehen, dass er wahrscheinlich mehr als einmal Sex mit Minderjährigen hatte?

Falls ihr es vergessen habt, R. Kelly stand vor Gericht und wurde in 14 Punkten wegen eines Tapes angeklagt, dass anscheinend zeigt, wie er Sex mit einer Minderjährigen hat. (Die gleichen Anschuldigungen spielten auch eine Rolle bei dem Best of Both Worlds Album mit Jay Z, das letztendlich scheiterte.) Schon vorher gab es ähnliche Bedenken um Kellys Romanze mit der damals noch minderjährigen Aaliyah, die ihn auch zu einer Vibe-Coverstory brachte, in der ein Interview mit Kelly selbst erschien.

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Um zu verstehen, warum Kelly so eine aufrührerische Figur der Popkultur ist, muss man Michael Jordan betrachten. Allem Anschein nach ist Jordan—und war Zeit seiner Karriere—eine schreckliche Person. Er hat regelmäßig Teamkollegen beleidigt, war ein entsetzlicher Zocker, der das Spiel zu seinen Gunsten manipulierte, nur um Leute zu ärgern, und war einmal richtig scheiße zu Chamillionaire. Er hat ein uneheliches Kind und es 16 Jahre lang verleugnet. Was vielleicht noch unerhörter ist, ist, dass er sich weigerte, Harvey Grantt sein bedeutendes Gesicht zu geben, als dieser versuchte, den rassistischen republikanischen Senator Jesse Helms in seinem Heimatstaat North Carolina auszubooten und sich später bei einem Freund mit den Worten verteidigte: „Republikaner kaufen auch Sneakers.“ Aber letztendlich zählen all diese Dinge nicht, weil es Basketball gibt, eine Arena, in der Jordan beispiellos war. Wenn du siehst, dass jemand der absolut Beste in der ganzen Welt ist, scheint alles, was außerhalb dieses Kontextes passiert, zu verschwinden. Aber bei R. Kelly—obwohl als Musiker genauso talentiert wie Jordan als Basketballspieler in seinem besten Alter—gibt es kein Spielfeld, keine klar umrissenen Grenzen, die sein Privatleben von der Arbeit, die er in der Öffentlichkeit tut, unterscheiden. Natürlich sind Kellys Straftaten und Jordans unzählige, schlechte Charakterzüge etwas anderes: Einen Typen bei einer Golf-Wette zu betrügen, hat keinen Einfluss darauf, wie wir über Jordans Sprünge denken, aber wenn R. Kelly „You are now lying with a sex genius“ haucht, könnte die Person, die er anspricht, sehr wohl minderjährig sein. Das ist verdammt creepy, egal wie du es drehst. Wegen seiner Gesetzeswidrigkeiten und der darauffolgenden Suche nach öffentlicher Begnadigung mithilfe vieler seiner musikalischen Auswüchse, ist es geradezu unmöglich, R. Kelly, den (angeblich) wiederholten gesetzlichen Vergewaltiger, von der musikalischen Ikone R. Kelly zu trennen. Er enthüllt wohl oder übel das, was in ihm vorgeht.

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Kelly hat einigen Quellen zufolge einen Zwang, der ihn dazu drängt, minderjährige Mädchen zu verführen. Die Tatsache, dass so ein Drang in irgendeinem Erwachsenen existiert, ist schon verstörend, aber in einem Mann, der sich selbst als „The Pied Piper of R'n'B“ bezeichnet, fast 40 Millionen Alben weltweit verkauft hat und Songs darüber schreibt, in der Küche, unter freiem Himmel und im Zoo Sex zu haben, Frauen mit einer Opernstimme verführt hat, für sie strippt und der die 15-jährige Aaliyah als ein Sprachrohr benutzt hat, um die Nachricht „Age Ain't Nothing But A Number“ zu verbreiten. Im Pop ist die Faszination alter Musiker zu minderjährigen Mädchen nichts Neues: Frag Jerry Lee Lewis, Steven Tyler und Serge Gainsbourg. Was Kelly von der Perverslingsvergangenheit unterscheidet, ist, dass er im Zeitalter des Internets lebt, wo News schneller und härter die Runde machen, und Zusatzinformation für alle einfach und schnell verfügbar sind.

Popmusik wird nun mal hauptsächlich von Erzählungen kontrolliert. Manchmal geschieht es auch durch die Erzählung drum herum—Bon Ivers For Emma, Forever Ago haben wir schon interessant gefunden, bevor wir überhaupt eine einzige Note davon gehört haben, weil uns jemand erzählt hat, dass der Typ die Platte im Wald nach einer schlimmen Trennung aufgenommen hat. Manchmal ist diese Erzählung auch von den Medien und der öffentlichen Meinung getrieben—wie oft muss Chris Brown seine Taten sühnen, bevor es okay ist zuzugeben, dass „Fine China“ eine ziemlich gute R'n'B-Single ist, von denen heutzutage viel zu wenige gemacht werden? Die Geschichte jeder anständig gehypten Platte wird das ultimative Produkt der postmodernen Fiktion, eine nahtlose Verschmelzung von Marketing und Mythos, das wir sowohl erzeugen als auch konsumieren.

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Früher war es so, dass die Plattenverkäufe in der ersten Woche nicht wichtig waren, weil es sehr wohl das erste gewesen sein konnte, dass wir von einem Künstler je hören. Jetzt sind die Plattenverkäufe in der ersten Woche entscheidend, weil sie das Inbild einer größeren Storyline sind, die sich aus Interviews, Reviews, News, Meinungsartikeln, und auch Tweets und Bargesprächen herausbildet. Moderne Popmusik unterscheidet sich nicht sehr von professionellem Wrestling, außer dass die Narben tatsächlich echt sind. Kelly profitiert auch von unserer Tendenz, neugierig eine Story zu pushen—jedes Mal, wenn jemand R. Kelly als böses Arschloch bezeichnet und all die Kontroversen zur Sprache bringt, wird die Tatsache bekräftigt, dass er nicht nur existiert, sondern auch wichtig genug ist, dass sich Leute über ihn aufregen.

Das alles führt zu einer entscheidenden Frage unserer Zeit: Geben wir Leuten, die Böses tun, einen Freifahrtschein, nur weil sie talentiert sind?

Die Antwort auf diese Frage ist: Es kommt drauf an. Es ist einfach, Kunst zu degradieren, weil der Künstler etwas Schreckliches gemacht hat, und genauso einfach ist es, die schrecklichen Taten eines Künstlers zu ignorieren, nur weil er etwas Großartiges erschaffen hat. Geschmack ist nicht objektiv und etwas zu mögen, das von einer Person geschaffen wurde, die unbestreitbar verwerfliche Dinge getan hat—Black Panties, eine Burzum-Platte, Leviathans True Traitor, True Whore oder was auch immer—macht dich nicht zu einer unbestreitbar verwerflichen Person. Aber wenn die Taten einer Person in deine Gedanken vordringen und dich daran hindern, die Arbeit derer noch genießen zu können, ohne dich schlecht und seltsam zu fühlen, ist das auch okay. Nur weil eine Person mit diesem Teilen der Kultur interagieren kann und die andere nicht, heißt es nicht, dass eine Person Recht hat und die andere Unrecht.

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Es ist schwer, einen passenden Vergleich zu finden, der erklärt, warum R. Kelly besonders solche Leute berührt—und obwohl sie groß in der Welt der extremen Musik sind, kann es gut sein, dass deine Eltern weder von Burzum oder Leviathan wissen, noch sich darum scheren. Währenddessen schlägt ein Typ wie John Lennon Frauen, ohne dass es eine Infrastruktur gibt, die es erlauben würde, seine Taten wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Es gab kein TMZ, das die Nachrichten sofort überbringen konnten, kein Twitter und Facebook, um sie zu verbreiten, keine Möglichkeiten, einen Feedbackkreis zu bilden, um all das zu reflektieren. Jeder weiß, wer R. Kelly ist und was er in seinem Leben gemacht hat. Er ist eine gigantische spirituelle Kraft in der Musik und er ist für eine Menge Menschen wichtig. Er hat die einzigartige Gabe, sehr realistische Elemente des menschlichen Befindens—Sex, Spiritualität, Trubel, Aufschwung—in einer Weise zu artikulieren, die Menschen berührt. Zu sagen, dass er dir wichtig ist, kommt mit einer Last: Die Liebe zu R. Kellys Musik kommt mit dem taktischen Zugeständnis, dass es für dich in Ordnung ist, Musik von einem Typen zu hören, der wahrscheinlich pädophil ist. Einige können die Kunst vom Künstler trennen, andere nicht. So ist es nun mal.

Weil seine zwei vorigen Platte in die Richtung Wartezimmer-beim-Zahnarzt-Musik gingen, wird Black Panties von Kritikern als „Rückkehr zu Form“ von Kellz gepriesen (insoweit eine Platte, die das Wort „Pussy“ 72 mal beiinhaltet, als so etwas gepriesen werden kann). Aber, um fair zu bleiben, es ist ein durchweg wahnsinniges Album. Kelly hat die Popsounds von heute verinnerlicht und ein Produkt kreiert, das weitaus origineller, bizarrer und spaßiger ist als vieles andere. Black Panties ist praktizierte Perfektion, die in der bestmöglichen Weise mühelos wirkt—in einem überlangen Skit mit zwei R. Kellys, die ein Telefongespräch miteinander führen, sagt er zu sich selbst: „You can write a song about any damn thing.“ Und dann beweist er seine Aussage mit dem darauffolgenden Song „Marry the Pussy“, ein „Sex-Antrag“, in dem er in einem honigsüßen Ton haucht, der ihm von HipHop-Jesus selbst gereicht wurde: „Pussy would you marry me?“ Du kannst das Kichern zwischen jeder Nennung des Wortes „Pussy“ geradezu hören.

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Die Sache bei R. Kelly ist, dass er nicht normal ist. Er ist eine hermetische, sexuelle Galaxie; er liefert mit einer unbewegten Miene seine völlig bescheuerten, wahnsinnigen Songs. Er meint es ernst, lustig zu sein, und es ist lustig, wie ernst er wirkt. Es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass Kellys Dummheit mit seiner kulturellen Allgegenwärtigkeit stets gewachsen ist. Auf seinen heutigen Produkten TP-2.com oder R. oder Twelve Play gibt es keinen Anflug von lustigen Sex-Jams, Songs wie „Sex in the Kitchen“ oder seine nicht endende Trapped in the Closet-Saga sind ausdrücklich witzig gemeint. Es ist wie die Frage, was passieren würde, wenn Bill Callahan plötzlich anfangen würde, Songs über Masturbation im Wald zu machen. Der moderne R. Kelly ist sowohl die logische Fortsetzung seiner Karriere voller expliziter, sexueller Songs, als auch ein totaler Umsturz seiner frühen Arbeiten. Das macht ihn zu einem Künstler im wahrsten Sinne des Wortes, ein präziser Handwerker, der seine Arbeit nutzt, um öffentlich zu analysieren, was in seinem Kopf vorgeht. Er hat einen an der Schraube oder ein paar locker, und diese Schrauben haben ihn dazu gebracht, sowohl einzigartige und unglaubliche Musik zu machen, als auch abscheuliche Dinge zu tun. Auch wenn die Plattitüde „Die Avantgarde muss nicht moralisch sein“ oft als allgemeine Erklärung dafür benutzt wird, warum es okay ist, Musik zu hören, die einige mit einem unwohlen Gefühl hinterlässt, hat jeder seine Grenzen—das ist Kunst, über die wir hier reden, und sie ist exakt so real, wie du es zulässt.

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