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Thump

Wie es ist, als DJ in einem Puff aufzulegen

Die wahre Kunst des Auflegens, ist das Lesen, das Übersetzen und das Transformieren des Raums.

Ein ganz anderes Bordell in den USA | Foto: Famartin | Wikimedia Commons | CC BY-SA 4.0

Was Karrierelaufbahnen angeht, sieht es so aus, als hätte Dave—den wir hier aus rechtlichen Gründen nicht bei seinem vollen Namen nennen können—einfach die falsche eingeschlagen. Früher war er ein anerkannter DJ in der europäischen Clubszene, spielte regelmäßig auf Ibiza und brachte sogar ein paar Platten raus. Eine Zigarettenlänge lang war er sogar der Darling der Dance-Szene. Dann tourte er durch Australien, verliebte sich in das Land und kehrte nie wieder zurück. Diese Entscheidung sollte allerdings einen schrittweisen Absturz in Gang setzen. Es war ein langsamer Absturz. Ja, man könnte sogar von einem sanften Absturz sprechen. Zuerst spielte er noch in Clubs, dann wurden die Clubs zu Bars und aus den Bars wurden Ausstellungseröffnungen, die wiederum zu Geburtstagspartys wurden. Mittlerweile legt er in Bordellen auf.

Während ich ihm an einem Freitagabend dabei zuschaue, wie er sich durch seine Platten wühlt, überkommt uns beide ein Gefühl nachdenklicher Neugierde. Also gesetzt den Fall, dass Neugierde überhaupt nachdenklich sein kann. Er bereitet sich auf seinen wöchentlichen Slot in einem von Melbournes legalen Bordellen vor. Auch wenn ich ungefähr weiß, was mich in einem solchen Etablissement erwarten wird, macht sich in mir eine nervöse Unruhe breit. Ich werde gleich mit Dave in ein Bordell gehen und bin mir nicht sicher, ob mich mental eher auf sinnliche Tanzeinlagen oder einen freudlosen und angsteinflößenden Ausflug in die schmuddeligen Ecken von Melbournes sexueller Unterwelt vorbereiten soll.

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Die Vorstellung, dass von allen gottverlassenen Orten auf dieser Erde gerade ein Bordell einen DJ braucht, scheint auf den ersten Blick recht abwegig. Letztendlich ist es allerdings ein weiterer Beweis dafür, wie sehr das DJing alle Bereiche unserer Unterhaltungsindustrie durchdrungen hat. Das ist natürlich nichts Neues, was dir der Eishallen-DJ und der Supermarkt-DJ auch nur gerne bestätigen werden. Auflegen gilt nicht mehr als Kunstform, es ist bloß eine weitere Methode geworden, um öffentlichen Raum zu füllen. Natürlich liegt dem auch eine kosmetische Komponente zugrunde. Auf eine komische bis verquere Art sieht es immer irgendwie beeindruckend aus, einen DJ rumstehen zu haben—ganz egal, wie fehl am Platz er eigentlich auch sein mag. Und so engagieren auch Bordelle in der australischen Metropole Melbourne DJs. Die Läden sind zu einer Hälfte Club und zur anderen Hälfte Puff, unter einem Dach vereinen sie die Laste beider Welten.

Nachdem er nach Melbourne gezogen war, führte Daves Abstieg aus dem DJ-Olymp ihn dazu, regelmäßig in Bars vor Leuten aufzulegen, die dort ihr Feierabendbier tranken. „Das Dasein als Bar-DJ, ist eine zweischneidige Angelegenheit“, erklärte er mir. „Einerseits ist es eine recht entspannte Angelegenheit, weil man dafür bezahlt wird, für ein bisschen Hintergrundmusik zu sorgen. Andererseits ist man dabei aber auch nicht mehr als eine Jukebox. Dieses mangelnde Engagement fängt irgendwann an, an einem zu nagen.“ Er beschreibt seine Zeit als Bar-DJ als „künstlerisch zerstörend“ und gibt an, dass „man die meiste Zeit den Vibe hemmt, weil man pausenlos drauf achten muss, dass sich die Menschen über die Lautstärke der Musik noch unterhalten können.“

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Auch dieses Bordell in Nevada dient lediglich als Symbolbild | Foto: Famartin | Wikimedia Commons | CC BY-SA 4.0

Zunehmend desillusioniert fühlte er sich irgendwann wie die wahre Verkörperung des gescheiterten DJs, der Nacht für Nacht aus der hintersten Ecke einer Bar lustlos irgendwelche Lounge-Musik abspielt. „Ich hatte den Gipfel des DJ-Daseins erklommen und war dann äußerst unsanft in etwas gelandet, das ich als weit unter meinem Niveau erachtete“, berichtet er mir. „Ich trat also einen Schritt zurück und dachte über meine Situation nach.“ Dave erkannte für sich, dass er wirklich erst ganz unten, also wirklich am Boden, ankommen musste, bevor sich die Dinge für ihn einfach verbessern mussten. Oder mit den Worten von Henry Wadsworth Longfellow: „Der tiefsten Ebbe folgt der Fluten Saum.“ In einem Anflug von Inspiration bot er schließlich seine DJ-Künste ausgewählten Bordellen vor Ort an. Das war genau der Karrierewechsel, auf den er gewartet hatte.

Als Mann mit vielen Jahren Erfahrung entschied er sich dann dazu, sich in den entsprechenden Etablissements mit einer Mix-CD vorzustellen. „In dem Mix habe ich konzeptualisiert, bzw. interpretiert wie so eine Puff-Disco aussehen könnte“, sagt er. Er wollte mehr als den üblichen Playboy-Mansion-Schmonz. Zu seinem Glück gefiel den Bordellbetreibern sein Ansatz und schon bald hatte Dave zwei feste Auftritte pro Woche in innerstädtischen Freudenhäusern an Land gezogen. Er hatte es geschafft: Er hatte die Welt der Bars hinter sich gelassen und war in der Welt der käuflichen Liebe angekommen—für ihn eine Art persönlicher Mid-Life-Initiationsritus.

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Unerwarteterweise sollte sich aus seiner neuen Anstellung etwas anderes, gar mehr entwickeln. Dave verfeinerte sein Talent und passte sich mit Bravour seinem neuen Arbeitsumfeld an. „Zuerst war es schwierig, meine eigene musikalische Agenda durchzusetzen. Das Management wollte das übliche Klischeezeug: 70er Jahre Pornosoundtracks und R'n'B.“ Mit der Zeit konnte er seine Sets aber mehr nach seinem Geschmack formen und damit Klientel und Stimmung besser einfangen. „Begierde, Verführung, Bedauern und Verlust—das waren einige der Schlüsselwörter, an denen ich mich orientiert habe“, erzählt er mir. „Ich habe ein recht gutes Gefühl für diesen sehr eigenen Vibe entwickelt, den ich selber erschaffen habe. Meine Sets machen mir durchaus Spaß.“ Oft bedeutet seine Herangehensweise, dass er viel Vocal-lasiges Material auflegt—Balladen kommen eigentlich immer gut. Hier kannst du dir eine kleine Playlist anhören, die Dave für uns zusammengestellt hat.

Ein Freundehaus an der Reeperbahn, das bis auf die Industrie nichts mit den erwähnten Freudenhäusern zu tun hat. Foto: Imago

So weit, so aufschlussreich. Aber wie ist es denn jetzt eigentlich, in einem Bordell aufzulegen? Ich stellte mir die Atmosphäre in so einem Laden schon sehr geschäftsorientiert vor—mit Sex als integralem Teil der Handelsbeziehung. Alles, was nicht direkt dazugehört, würde, so dachte ich jedenfalls, in der Hackordnung ganz weit unten stehen. Ich war dann doch überrascht, dass die Kundschaft viel vielschichtiger war, als ursprünglich erwartet. Es handelte sich nicht nur um besoffene Prolls, bemitleidenswerte Herren mittleren Alters und verlorene Scheidungsopfer, die sich dort an der Bar zusammengefunden hatten. An diesem Abend war ein Kontingent von Männern mit Behinderung vor Ort. Dave erzählte mir, dass „ein guter Teil der Kundschaft aus Patienten besteht, die von ihren Betreuern hierher gebracht werden.“ Auch wenn es nicht zu den offiziellen Richtlinien gehört, sympathisieren die Betreuer mit den Menschen, mit denen sie arbeiten, und bringen sie für—wie Dave es formuliert—„eine anderweitig kaum erreichbare Erleichterung“, vorbei, „bei der die meisten Mädchen hier ihnen auch gerne behilflich sind.“

Der herrschende Vibe grenzte hart ans Introspektive. Im Gegensatz zu einem Stripclub, wo die Frauen ständig um deine Aufmerksamkeit und dein Geld buhlen, ist das Bordell eher so etwas wie eine Abschiedsvorstellung und dementsprechend weniger ein sozialer Ort zum gemeinsamen Abhängen. Auch wenn einige der Etablissements in Melbourne legal sind, hängt über allem trotzdem noch ein bleiernes Stigma und die einzelnen Kunden bleiben lieber für sich. Auch der Aufbau des Ladens selber begünstigt eine gewisse Anonymität. Überall finden sich kleine Nischen und Einbuchtungen—unscheinbare Zufluchtsorte, an denen die Männer unruhig warten können, bevor sie eingesammelt werden. Dave befindet sich ebenfalls an einem recht versteckten Ort und wird nur schwach angeleuchtet. Er ist so unauffällig platziert, dass sich die meisten Männer in dem Laden seiner Anwesenheit überhaupt nicht bewusst waren. Für mich als Außenstehender hatte das ganze Schauspiel etwas Tragisches. Ich wohnte hier dem Resultat eines dramatischen Absturzes bei, der sich kaum beachtet in der Ecke eines Puffs abspielte. Aber gut, es passte irgendwie ja auch. Dave wollte unbedingt ganz unten ankommen und hier sah es so aus, als hätte er es tatsächlich geschafft.

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Sobald man sich allerdings an dieses Flair aus sterilem Sex, entpersönlichter Lust und allgemeiner Verruchtheit gewöhnt hatte, erklang von den Decks doch geradezu feinfühlige Musik. In dieser Nacht erschuf Dave mit seinem Sound eine Narrative, die die einzelnen Geschichten der verschiedenen Kunden, der Sexarbeiterinnen und des ganzen Geschäfts miteinander verbanden. Ob andere das genau so wahrgenommen haben, kann ich hier natürlich nicht beantworten. Irgendetwas geschah hier allerdings und in meinem Unterbewusstsein fühlte ich, dass seine Geschichte registriert wurde.

Auch dieses Bordell in Nevada dient lediglich als Symbolbild | Foto: Famartin | Wikimedia Commons | CC BY-SA 4.0

Wie andere DJs, die etwas von ihrem Handwerk verstehen, hatte er die Atmosphäre des Raums perfekt gelesen. Auch wenn sein Schwerpunkt klar auf Material aus den 60ern und 70ern lag, ließ mich sein Eklektizimus stets im Ungewissen. Er brachte alles zusammen: von Hall & Oats bis zu Mr. Fingers, von Eric Clapton bis zu D'Angelo. Er spielte sogar „How Soon is Now“ von den Smiths. Er erzählte Geschichten, genau wie Larry Levan das getan hat, nur hatte sein Club mehr was vom Salon zur letzten Chance als von der Paradise Garage.

Ich wollte Dave ursprünglich fragen, welche Vorteile das Auflegen in einem Bordell mit sich bringt. Immerhin hat doch jeder Spielort seine eigenen Vorteile, oder? Der Club-DJ wird mit Drogen eingedeckt, der Restaurant-DJ geht nach seinem Auftritt mit vollem Bauch nach Hause und der Bar-DJ verlässt den Laden in dezenter Schieflage. Also, kurz gesagt: Wie viele Blowjobs gibt es pro Set? Während ich Dave aber zuhörte, ihn dabei beobachtete, wie er einen Raum las, der eigentlich gar nicht gesehen werden wollte, bereute ich es regelrecht, über ihn oder diesen Ort so gedacht zu haben.

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Die wahre Kunst des Auflegens, ist das Lesen, das Übersetzen und das Transformieren des Raums. Dave war bei seinem Absturz ironischerweise in einem Habitat gelandet, in dem es von Geschichten nur so wimmelte—einer wahren Brutstätte der Kreativität. Für ihn war der Gezeitenwechsel bei der tiefsten Ebbe eingetreten, aber der Fluten Saum hatte ihn, anstatt ihn wieder nach oben zu spülen, eingeschlossen. Er war gestrandet an einem sonderbaren Ort—einem Ort, der mit der Zeit seine spirituelle Heimat wurde.

Mehr von Mantis Kane kannst du hier lesen.

Dieser Artikel ist zuerst auf THUMP erschienen.

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