„Ich hätte dich niemals eingestellt, wenn du fünf Kilo mehr gewogen hättest.” Diesen „Witz”, wie mein Chef es nannte, musste ich mir in meinem ersten Musik-Job vor versammeltem Team zu einem Zeitpunkt anhören, an dem ich schon eine Weile angestellt war und meine Fähigkeiten bereits unter Beweis gestellt hatte. Natürlich haben alle laut gelacht. Diese Art von Lachen, in der mitschwingt, dass da jetzt aber jemand „wirklich” zu weit gegangen ist. So geschehen bei allen folgenden sexuellen Anspielungen und „Witzen” auf meine Kosten. (Darunter auch: „Ich würde gern mal Bikinifotos von dir sehen!”) Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es sich dabei um eine traurige Ausnahme handelt.
In den letzten fünf Jahren war ich in Junior-, Senior- und leitenden Positionen im Musikjournalismus für Radio- und Online-Formate tätig und hatte im Zuge dessen mit den verschiedensten Zweigen der Industrie—von Label über Promotion, Booking und Management bis hin zu Künstlern—zu tun. In dieser Zeit hatte ich mit offenem Sexismus, aber auch mit subtiler Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit zu tun und habe ihn gleichzeitig auch gegenüber anderen Frauen erlebt. Eine offene Diskussion darüber, wie anders Frauen in der Branche behandelt werden, gibt es nicht. Besonders eine Kreativbranche wie die Musikindustrie sollte doch fortschrittlich und offen sein, richtig? Leider gleicht sie eher einem nerdigen Männerclub, der keine Mädchen auf seiner Party erlaubt.
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Die deutsche Musikindustrie ist so männerdominiert wie nur wenige andere Branchen. Nur 7,4 % der Unternehmen, die im VUT (Verband unabhängiger Musikunternehmen) registriert sind, werden von Frauen geführt, 5,5 % haben gemischte Teams an der Spitze. Der Rest der Unternehmen steht unter rein männlicher Führung. Das sind beinahe 90 Prozent der kleinen bis mittelständigen Labels, Verlage, Vertriebe und Agenturen. Blickt man in die Führungsebenen der Firmen, die nicht in diesen Zahlen inbegriffen sind—wie den drei großen Majorlabels Universal, Warner und Sony—sieht die Lage ähnlich aus. Auch im Online- und Print-Journalismus gibt es derzeit keine weiblichen Chefredakteure. Intro, Spex, Visions, Musikexpress, Rolling Stone, Metal Hammer, thump, FAZEmag, Groove, De:Bug, Noisey, JUICE, Splash-Mag, Backspin und Ox-Fanzine sehen einen Mann an der Spitze und tatsächlich war das—mit Ausnahme von Noisey und Spex—historisch noch nie anders.
Ein Feld, in dem Frauen hingegen gerne geduldet werden, ist das Promoter-Umfeld. Dort bilden sie die deutliche Mehrheit, schließlich geht es darum, die meist männlichen Pressevertreter und Partner von sich und seinem Thema zu überzeugen. Dass sie respektiert werden, bedeutet das aber noch lange nicht.
„Wann immer Kunden oder Führungspositionen zu uns kamen, haben sie nur mit meinem Chef gesprochen und mich ignoriert, egal ob ich die Ideen entwickelt, das Konzept geschrieben oder das Projekt durchgeführt habe. Die haben mich nicht mal angeguckt. Die ersten paar Jahre habe ich gedacht, ich könnte auch nackt in ein Meeting kommen und die würden mich nicht anschauen”, erzählt Marina Buzunashvilli. Sie arbeitet seit Jahren in der Promo und hat zusammen mit ihrer Kollegin Cornelia Filipov ihre eigene Agentur für Online-Communication Musicism & Cinelove gegründet. Heute fungiert sie als CEO dieser Firma, die einen deutlichen Teil der Musikthemen in Deutschland abdeckt. Ihre ersten Erfahrungen, die sie bei einer New Media Agency gesammelt hat, dürften vielen Frauen aus der Branche bekannt vorkommen:
“In dem Moment, in dem ein weiterer Mann im Raum ist, bist du plötzlich nicht mehr in charge. Dann bist du nur die Assistentin.”
„In dem Moment, in dem ein weiterer Mann im Raum ist, bist du plötzlich nicht mehr in charge. Dann bist du nur die Assistentin, auch wenn du alles geregelt hast. Du wirst sofort degradiert”, sagt Buzunashvilli. Sie glaubt nicht daran, dass sich diese Männerdomäne so einfach aufbrechen lässt. Um dahin zu kommen, wo sie heute ist, hat sie weder nach links, noch nach rechts geguckt und sich auf ihre eigene Leistung konzentriert. Ihr ist es wichtig zu betonen: Natürlich gibt es „ganz tolle, aufgeschlossene Männer in unsere Branche, die auch kein Ego-Problem haben.” Und damit hat sie natürlich Recht.
Auch viele meiner männlichen Kollegen waren weit entfernt von dem typischen Macho-Klischee. Nicht wenige Branchenmitglieder sind progressive, offene und angenehme Menschen. Zu meinem Glück war auch der Großteil meiner direkten Vorgesetzten und Mentoren stets unterstützend, dankbar und respektvoll. Gleichzeitig waren diese Männer an meiner Seite oft essentiell für mich und meine Arbeit, um überhaupt ernst genommen zu werden. Ich könnte die Momente, in denen einer meiner Chefs anderen Leuten in der Industrie erklären musste, dass er nicht mein Babysitter ist und ich meinen Job auch alleine ausüben kann, obwohl ich eine Frau bin, nicht an zehn Händen abzählen. Sensibler für die strukturellen Probleme, die hinter diesem Verhalten stecken, sind sie deswegen trotzdem nicht zwingend.
„Vielen männlichen Kollegen ist es nicht bewusst, dass sie wenige weibliche Kolleginnen haben. Wenn man sie darauf hinweist, sind sie oft total schockiert und wollen das ändern”, erzählt Désirée Vach, die stellvertretende Vorsitzende im VUT-Vorstand, Labelgründerin von Snowwhite und Leiterin des DACH Offices im Digitalvertrieb INgrooves ist. Zusammen mit ihrer Kollegin Verena Blättermann, Vorstandsmitglied im Verband unabhängiger Musikunternehmen, hat sie die Initiative „Music Industry Women” gegründet. Ihr Ziel: Vor allem jüngeren Frauen die immer noch fehlenden Vorbilder zu geben, die „harten und verkrusteten Strukturen” aufzubrechen und Frauen sichtbarer zu machen. „Es ist eine Männer-Schulter-an-Schulter-Branche und da wird es einem als Frau schwerer gemacht, besonders in den Inner Circle reinzukommen.”
Der Inner Circle, das sind zu großen Teilen die Leute, die die „Hochzeiten” der Musikindustrie in den 90ern miterlebt haben. Damals, als Sex, Drugs & Rock’n’Roll tatsächlich noch gelebt wurde, waren die Strukturen betont machohaft—ein Grund, warum die Schieflage der Geschlechter in der Branche noch dramatischer ist als in anderen Teilen der Gesellschaft.
Viele aus dieser Generation sitzen auch heute noch in Führungspositionen und sehen die Frauenarmut entweder nicht als Problem oder finden die Forderung als solche lächerlich. Eine frustrierende Position für alle Vetreterinnen der Industrie, die sich nicht mit der ihnen zugewiesenen Position zufrieden geben wollen. „Ich glaube, es gibt in der Branche ein Gesetz, dass egal, wie hart du arbeitest, du nie die Position erreichen wirst, die ein Mann erreichen kann”, sagt Marina Buzunashvilli. „Ich wünschte mir, es wäre total altbacken, was ich hier sage, aber ich kenne die Frauen in der Branche und ich habe es einfach erlebt, wie Frauen behandelt werden, egal wie stark sie sind, wie wichtig sie sind oder wie groß ihre Fresse ist.”
Die wenigen erfolgreichen Frauen der Industrie müssen sichtbarer werden, dafür plädieren alle Frauen, mit denen ich gesprochen habe. Nicht nur weil es umso beeindruckender ist, was sie erreicht haben, sondern auch damit junge Frauen endlich ein Vorbild haben können, mit dem sie sich identifizieren können und das sie auf dem Weg motivieren kann.
„Es gab Zeiten, da hat man das sogar zelebriert”, sagt Lisa Steinhäuser von Universal Music über die Männerdominanz. Sie ist eine der wenigen weiblichen A&Rs in der Branche und die einzige Frau in ihrem Team, beim Konkurrenten Sony gibt es inzwischen immerhin zwei weibliche A&Rs. Obwohl der Prozess zur Öffnung in den Kinderschuhen steckt, weiß Steinhäuser, dass Teile der Branche gemerkt haben, dass sie Frauen und ihre Stärken brauchen und freut sich darüber, dass ihr Arbeitgeber dieses Problem offen angeht. Erinnert sie sich an ihre Anfangszeit, war das allerdings noch anders.
„Bevor ich A&R geworden bin, hat mir jemand aus der Branche sehr klar und deutlich gesagt, dass ich niemals ein guter A&R werden kann, weil ich als Frau nicht verstehen kann, was Männer wollen. Das war natürlich in jeglicher Hinsicht, in Bezug auf die Genderthematik, aber auch auf einer persönlichen Ebene, zutiefst anmaßend und repräsentiert ein Weltbild, das heute unmöglich erscheint. Das waren auf jeden Fall sehr erschreckende Zeiten, an die man sich ungern zurückerinnern möchte.” erinnert sie sich.
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Die Antwort auf diese Ungerechtigkeit? Die eigene Weiblichkeit möglichst verstecken. „Ich bin früher immer im Jogginganzug rumgelaufen, weil ich dachte, wenn ich nur einmal ein bisschen weiblich aussehe, gehöre ich nicht mehr dazu und muss mir meinen Platz noch mehr erkämpfen”, erzählt Marina Buzunashvilli, die ihre Karriere vor 14 Jahren in der Musikszene begonnen hat.
Neben den alten Strukturen, die ganz klar eine Macho-Kultur gefördert hat, ist auch die typischen „Männer bringen Männer nach oben”-Muster eine der Ursachen für die Dominanz. Ein Argument, das man häufig von der anderen Seite hört, ist die nicht bewiesene These, dass Musik eben eher etwas für Männer ist als für Frauen. Die Logik hinter dieser Argumentation stützt sich meist auf die unübersehbare Männerdominanz in der Musiklandschaft. Was kann denn die Branche dafür, wenn sie mehr Männer anzieht und Musik ein Männerthema ist? Das fängt bei Line-Ups an und reicht bis zu den Musikkonsumenten und Lesern von Musikmagazinen. So liegt der weibliche Leseranteil der meisten Musikmagazine sogar unter 30%.
Darüber, dass dieses männliche Interesse von dem männlichen Erscheinungsbild angezogen werden könnte, denkt allerdings nur selten jemand nach. Speziell der maskuline Schreibstil und die fehlenden weiblichen Themen im Journalismus sind zweifelsohne nicht besonders attraktiv für weibliche Leser. Auch Verena Blättermann stimmt zu und muss zugeben, dass sie als Musikfan keine deutschsprachigen Musikmagazine mehr lesen will, weil sie die Schreibweise einfach nervt: „Man muss sich der Macht von Sprache bewusst sein, die man verwendet. […] Da fehlt einfach das weibliche Korrektiv an der Spitze. Den Männern fällt das vielleicht gar nicht auf.” Nicht zuletzt ist der Musikjournalismus das Medium und Aushängeschild der Branche.
Tatsächlich scheint es so, als würden die Frauen in der Branche erst auf dem Weg nach oben verloren gehen.
Männlich konnotierte Berufe ziehen natürlicherweise auch Männer an. Ähnlich ist es in den Ingenieurberufen. Das Feld ist so maskulin geprägt, dass man sich als Frau nicht vorstellen kann, Teil davon zu sein. „Vielleicht ist es bei Musikfans genauso”, philosophiert Verena Blättermann. „Es wäre mal ganz interessant, wenn jemand erforschen könnte, ob der Grund für die vielen männlichen Musikleser und -hörer ist, dass es keine Diversität gibt.”
Tatsächlich scheint es so, als würden die Frauen in der Branche erst auf dem Weg nach oben verloren gehen. Das weibliche Interesse an dem Beruf ist vorhanden. Das sieht man nicht nur an den Mentoring-Programmen, die die „Music Industry Women”-Initiative ins Leben gerufen hat, sondern auch an den Zahlen der Pop-Akademie, die einen der wenigen direkten Ausbildungswege in die Musikindustrie anbietet. Die Studenten-Quote im Bachelor-Studiengang „Musik Business” liegt inzwischen bei 50:50, was auch auch dem Bewerberanteil entspricht. Dennoch scheinen nicht alle im Beruf zu bleiben und schon gar nicht, in die Führungspositionen aufzusteigen. Werden diese Frauen nicht genug motiviert? Werden sie sofort wieder rausgeekelt? Oder haben sie einfach keine Lust, all die Kommentare wegzulächeln? Dass Frauen nicht genug Durchhaltevermögen und „Stamina” haben, sollte hier wirklich nicht als Argument gelten. Wie lächerlich das klingt, wissen wir spätestens seit der zweiten US-Präsidentschaftsdebatte dieses Jahres.
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„Wir haben 2016. Da gibt es keine Ausreden mehr, dass Frauen nicht in allen Bereich gleichberechtigt sind, ob politisch, ökonomisch oder sozial”, sagt Verena Blättermann.
Inzwischen versuchen vielen Frauen der Branche, auf dieses Problem aufmerksam zu machen und Lösungsansätze zu finden. Wir sehen immer mehr weibliche Musiker, wir sehen Initiativen wie Music Industry Women, Mint oder female:pressure, die sich dafür einsetzen, dass mehr Frauen die Branche mitgestalten, wir sehen Diskussionen über Frauenquoten auf Festival-Lineups und blutjunge Neuankömmlinge, die sich fest vorgenommen haben, sich durch den Musikdschungel zu schlagen. Doch das Verlangen, diesen Missstand zu beheben und die Genderdebatte anzustoßen, sollte nicht nur von den Frauen kommen.
Das Ungleichgewicht ist nicht nur fatal, weil die Musikindustrie so einen erheblichen Teil ihrer Zielgruppe verliert—seien das Leserinnen, CD-Käufererinnen, Konzertbesucherinnen oder gar Musikerinnen, die sich nicht mit der männlichen Verkrustung identifizieren können oder nicht gewillt sind, sich diesen kräftezehrenden Weg durch die Industrie anzutun. Es ist vor allem auch ein Problem, weil der Branche auf diesem Weg viele kreative Impulse und Köpfe, weibliche Qualitäten in jeglichen Positionen, sowie die Chance, fortschrittsorientiert zu sein, verloren gehen. Dass in einem Team, das nicht besonders divers ist, sondern ausschließlich aus gleichaltrigen, primär weißen Männern mit akademischen Abschluss besteht, Kreativität und Perspektive verloren geht, sollte inzwischen kein Geheimnis mehr sein. Von einem besseren Geschlechtergleichgewicht würden, wie so oft im Leben, alle profitieren: die Frauen, die Männer, die Szene und wahrscheinlich sogar die Musik.