Wien Westbahnhof, 2:00 Uhr früh. Soeben ist der letzte Zug aus Ungarn angekommen, wieder waren einige hundert Flüchtlinge vor allem aus Syrien im Zug. Am Nachmittag des 31. August hatten hunderte Flüchtlinge den Bahnhof Keleti in Budapest gestürmt, die zuvor in Ungarn gestrandet waren.
Als der Zug in den Bahnhof einfährt, brandet lauter Applaus auf. Selbst jetzt, mitten in der Nacht, sind noch gute hundert Menschen am Westbahnhof, um die Flüchtlinge bei ihrer Ankunft zu begrüßen, zu unterstützen und eine erste Basis-Versorgung sicherzustellen.
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Als der Zug hält und die ersten Flüchtlinge aussteigen, werden sie sofort am Bahnsteig von Teams von DolmetscherInnen empfangen. Diese erklären auf Arabisch, wo es Essen und Getränke gibt, wo sie schlafen können, was als nächstes passiert. Insgesamt sind an diesem Tag bis zu 70 freiwillige DolmetscherInnen im Einsatz. Das Angebot ist zeitweise so groß, dass nur noch ausgebildete DolmetscherInnen an der Arbeit sind.
Der Zug kommt am Bahnsteig 5 an, doch die Verteilstation für Essen und Getränke ist am Bahnsteig 1. Dort steht noch immer der vorherige Zug, der gegen Mitternacht in Wien eintraf. Freiwillige OrdnerInnen haben Absperrbänder gespannt und einen Korridor gebildet, so dass die Flüchtlinge sofort sehen, wo sie Unterstützung und Erste Hilfe bekommen. Es gibt warmes Essen, Obst, Brot, Schokolade und Wasser. Eine Person hat daran gedacht, Schilder in verschiedenen Sprachen zu produzieren und aufzuhängen, wo darauf hingewiesen wird, dass das Leitungswasser trinkbar ist. Hunderte Menschen winken den Flüchtlingen zu, lächeln, zeigen ihre Solidarität. Ein Transparent mit der Aufschrift „Say it loud and say it clear, refugees are welcome here” wird am Bahnsteig aufgespannt.
Die Gesichter der Menschen, die aus dem Zug steigen, sind unsagbar erschöpft, manche haben sehr kleine Kinder in den Armen. Einige gehen stumm und apathisch zur Essensausgabe, sie sind offenbar einfach am Ende ihrer Kraft. Doch viele winken, applaudieren zurück, lachen befreit. Manche haben Tränen in den Augen, ebenso wie viele HelferInnen. Auch ich kämpfe immer wieder mit den Tränen.
Diese Menschen sind mit nichts als ihrer Kleidung am Körper angekommen. Sie haben keine Rucksäcke, keine Koffer, keine Kleidung oder Unterwäsche zum Wechseln, gar nichts. Bestenfalls haben manche ganz kleine Plastiksäcke mit dabei. Das einzige, was manche dabei haben, und was sie mitnehmen konnten, weil es einfach keinen Platz braucht, ist ein Smartphone. Es ist die einzige Kommunikationsmöglichkeit und es ist ihr Fotoalbum voller Erinnerungen an lebende und tote FreundInnen, an Verwandte, an den Ort, wo sie aufwuchsen. Jede Neid-Debatte ist hier schlicht beschämend.
Als am Mittag des 31. August in Wien die Nachricht eintrifft, dass Flüchtlinge in Budapest in den Bahnhof gestürmt sind und Richtung Österreich fahren, laufen die Telefone von Pro-Flüchtlings-AktivistInnen heiß, wie mir eine Frau an der Essensausgabe erzählt. Sofort wird überlegt, was gebraucht wird und wie eine Basis-Versorgung sichergestellt werden kann. Im Vordergrund stehen Essen und Getränke, DolmetscherInnen, die medizinische Erst-Versorgung und die Unterbringung.
Die Infrastruktur wird im Lauf des Nachmittags und Abends dann immer professioneller. Immer mehr Menschen beteiligen sich, stehen an einer der Ausgabestellen, organisieren Absperrungen oder bringen teils ganze Einkaufswagen mit Getränken, Essen, Kindernahrung, Windeln oder Hygiene-Artikeln. Zeitweise sind mehrere hundert Menschen am Westbahnhof, die die Flüchtlinge unterstützen.
Tanja Boukal, die bereits an der EU-Außengrenze in Melilla Flüchtlinge unterstützt hat und jetzt an der Essensausgabe steht, sagt zu mir, wie wichtig nach ihrer Erfahrung nicht nur die Grundversorgung ist, sondern genau dieses Gefühl, willkommen zu sein: „Diese Menschen haben mit enormen Entbehrungen die Flucht in die Festung Europa geschafft und es ist oft nur Glück, dass sie dabei nicht gestorben sind. Es ist unglaublich wichtig, ihnen zu zeigen, dass sie jetzt endlich angekommen sind.”
Es ist schwierig, an diesem Tag einzelne HelferInnen herauszugreifen, denn alle haben Großes geleistet. Dennoch sollen manche stellvertretend erwähnt werden. Der vor Ort verantwortliche Mitarbeiter der ÖBB erwähnt um Mitternacht beiläufig, dass er eigentlich bereits um 15:00 Uhr Dienstschluss gehabt hätte und seitdem freiwillig hier ist. Er erzählt, dass gut die Hälfte seiner KollegInnen ebenfalls in ihrer Freizeit arbeiten würden. Birgit Hebein, die Sozialsprecherin der Wiener Grünen, eine bekannte Aktivistin des linken Partei-Flügels, spielt eine wichtige Rolle und organisiert und verhandelt mit Behörden und ÖBB.
AktivistInnen der Organisationen und Strukturen der Wiener Linken stellen einen großen Teil der UnterstützerInnen vor Ort und helfen mit ihrer Erfahrung und ihren Arbeitskraft, wo es nötig ist. Die „Offensive gegen Rechts” organisiert OrdnerInnen, damit die Flüchtlinge wissen, wohin sie gehen müssen und in Ruhe ankommen können. Der Arbeiter-Samariter-Bund steht mit medizinischer Versorgung bereit, die Caritas mit zwei mobilen Suppenküchen. Die ÖBB stellt Quartiere zur Verfügung. Nicht nur in Wien, auch in Salzburg stehen AktivistInnen am Bahnhof, verteilen Nahrung und unterstützen.
Später am Abend kommen immer noch mehr Menschen, um zu helfen. Vielen waren zuvor noch auf der beeindruckend großen Demonstration auf der Mariahilfer Straße, wo mindestens 25.000 Menschen für die Rechte von Flüchtlingen demonstriert hatten (die Polizei spricht von 20.000) und kommen nun, um praktisch solidarisch zu handeln.
Auffallend ist allerdings an diesem Tag das völlige Versagen staatlicher Strukturen. Keine Behörde fühlt sich offenbar für die ankommenden Flüchtlinge zuständig. Die Beamten vor Ort waren vor allem mit klassischem Ordnungs-Gehabe beschäftigt und griffen kein einziges Mal helfend ein.
Die gesamte Koordination übernehmen die linken AktivistInnen und die NGOs in Eigenregie. Es kann die Frage an die Behörden gerichtet werden, wie sie sich das alles eigentlich vorgestellt haben und was sie getan hätten, wenn nicht hunderte Menschen selbstständig und solidarisch agiert hätten.
Der Staat ist seiner Verantwortung an diesem Tag nicht nachgekommen. Doch an diesem 31. August haben in Wien tausende Menschen gezeigt, dass es in dieser Stadt selbstorganisiert auch ganz anders geht: nämlich solidarisch, weltoffen, mit Herz. Und das macht stolz.
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