Gefallene Männer: Regeln, Codes und Blutrituale

Bild oben: Antonio Pelle aus dem ‘Ndrangheta-Clan hat Berichten zufolge den Rang eines vangelista (wörtlich: Evangelisten) erreicht, eines hohen Entscheidungsträgers, wofür er seine Treue auf die Bibel schwören musste. Illustration von Jacob Everett

In einer kriminellen Organisation zählt vor allem die Hierarchie. Eine vor ein paar Jahren von der italienischen Regierung in Auftrag gegebene Untersuchung mit dem Namen Crimine-Infinito hat die komplexen Strukturen der kalabrischen Mafia ‘Ndrangheta enthüllt. Wie sich herausstellte, hatte die ‘Ndrangheta, die lange als „horizontale Mafia” galt, und die man für eine simple Konföderation verschiedener Clans hielt, eine verborgene hierarchische Struktur mit einer zentralen Führungsperson—genau wie die besser bekannte Cosa Nostra.

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Das Führungsorgan der ‘Ndrangheta ist die crimine (das Verbrechen), die von dem capo crimine (Anführer des Verbrechens) kontrolliert wird. Sein Sprecher, der mastro di giornata (Meister des Tages), gibt seine Befehle weiter. Unter ihm liegt die Ebene der Obersten: der mastro generale (Allgemeiner Meister), der capo società (Anführer der Gesellschaft) und der contabile (Buchhalter).

Die Basis der ‘Ndrangheta sind die einzelnen ‘ndrine, also Clans, die aus den Mitgliedern einzelner Familien bestehen (die oft durch arrangierte Ehen erweitert werden). Jede ‘Ndrina hat ein klar abgegrenztes Territorium, genannt locale unter sich, das nicht immer genau mit administrativen Zonen übereinstimmt: Es kommt vor, dass eine Stadt in mehreren Locali aufgeteilt ist, oder dass mehre Städte zu einer Locale gehören. Die Crimine steht über allen Locali, egal wo auf der Welt sie sich befinden, und jeder muss sich ihren Befehlen bis aufs Letzte unterordnen.

Jedes Locale hat mindestens 49 Mitglieder und untersteht einem capo locale, der auch als capo bastone (oberster Stab) bezeichnet wird—nach dem Stab, den Schäfer benutzen, um die Schafe zusammenzutreiben. Dieser organisiert die kriminellen Aktivitäten seines Territoriums, beraumt Treffen ein, entscheidet über Aufnahmen oder Beförderungen und löst Konflikte. Genau wie dem Capo Crimine in der zentralen Führung der ‘Ndrangheta, steht auch jedem Capo Locale ein Capo Società zur Seite, eine Art Manager; ein mastro di giornata, der seine Anweisungen an die Untergebenen weitergibt; und ein Contabile, der die Einnahmen aus den illegalen Aktivitäten verwaltet, die auch als valigetta (Aktenkoffer) bezeichnet werden.

Die Locali haben jeweils eine Doppelstruktur: die società minore (kleinere Gesellschaft), die die einfachsten Mitglieder umfasst, und die società maggiore (größere Gesellschaft), die auch als società santa (heilige Gesellschaft) bezeichnet wird, und der deren Vorgesetzten angehören. Zudem gibt es in der ‘Ndrangheta zahllose weiter Ränge (die als doti bezeichnet werden), und die Position eines Mitglieds bestimmt seine Aufgaben, Pflichten und sein Gehalt. In der Società Minore wird der unterste Rang von den giovane d’onore (Jugendlichen der Ehre) eingenommen, den Nachkommen des Capo und Mitgliedern qua Erbrecht. Über ihnen folgt der Grad des picciotto d’onore (jungen Mannes der Ehre), die erste Rolle, die neuen Mitgliedern der ‘Ndrangheta nach ihrem Beitritt zugeteilt wird. Er verrichtet Zuarbeiten, vor allem solche körperlicher Natur, bis er in den Rang des camorrista (wörtlich übersetzt: jemand, der das Schutzgeld einsammelt) aufsteigt. Die höchsten Tiere in der Società Minore werden sgarristi (Soldaten) genannt. Wenn man das Oberhaus der Locale, die Società Maggiore, erreicht, wird man zum santista ernannt (die Bezeichnung zeigt an, dass man Mitglied der Società Santa ist). Eine Stufe darüber steht der vangelista (der Evangelist), der so genannt wird, weil er der ‘Ndrangheta seine Treue auf die Bibel schwören muss (er trägt auf seiner linken Schulter zudem ein tätowiertes Kreuz). Als Nächstes kommt der trequartino (drei Viertel), der Hoheitsrechte über drei Viertel der Organisation innehat (er hat ein Kreuz auf der rechten Schulter und eine smaragdgrüne Rose auf der Fußsohle). Dann geht es weiter in den Rängen nach oben: quartino (ein Viertel), padrino (Pate), crociata (Kreuzritter), stella (Stern), bartolo (Wortursprung unbekannt), mammasantissima (Heiligste Mutter) und infinito (Unendlichkeit). Die Società Maggiore gipfelt in der Figur des conte agadino. Der Name bezieht sich vermutlich auf den Conto Ugolino (Ugolino della Gherardesca, den Graf von Donoratico), der in Dantes Göttlicher Komödie im Hungerturm seine eigenen Kinder auffrisst. Der Anführer der ‘Ndrangheta kann seine Kinder auffressen, sie verkaufen oder opfern, ohne dass er eine Vendetta zu befürchten hat. An der Spitze der ‘Ndrangheta angekommen zu sein, heißt, dass man die Macht hat, sein eigen Fleisch und Blut zu töten oder zu verraten.

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Den verschiedenen Rängen der ‘Ndrangheta sind bis zu einem bestimmten Punkt religiöse Referenzen und Heilige zugeordnet. (Den Picciotti ist die Santa Liberata zugeordnet, den Camorristi die Santa Nunzia und den Sgarristi die Santa Elisabetta.) Dazu passt, dass man das Initiationsritual der ‘Ndrangheta auch als „Taufe” bezeichnet. Die Mitglieder stellen sich dabei in einem hufeisenförmigen Halbkreis auf und nehmen den Täufling von einem „Garanten” entgegen, einer Art Paten, der für das zukünftige Mitglied und dessen glaubhafte Entschlossenheit, dem Clan beizutreten, bürgt. Ein Capo Società führt das Ritual durch, stellt dem Initianten Fragen und liest ihm den Ehrenkodex vor, den er beim Preis seines Lebens einhalten muss. Die Mafiataufe ist eine „Bluttaufe”: Man schneidet dem neuen Mitglied mit einem scharfen Messer in den Finger, sodass ein Blutstropfen auf eine Gebetskarte des Erzengel Michael fällt, der als Schutzheiliger der ‘Ndrangheta gilt. Dann wird diese an einer Ecke leicht angebrannt. Am Ende der Zeremonie ist ein neuer „Mann der Ehre” erschaffen worden. (Jede Beförderung auf einen höheren Rang erfordert dann ein eigenes Ritual.)

Es klingt unwahrscheinlich, aber bis heute, während ich das schreibe, treten junge Menschen kriminellen Organisationen durch solche archaischen Rituale bei. Und nicht nur in Italien, sondern auf der ganzen Welt. In der Nacht vom 15. August 2007 vollzog sich in Duisburg, mitten im scheinbar so friedlichen Deutschland, der letzte Akt einer 16 Jahre andauernden Fehde. Die Nirta-Strangio und die Pelle-Vottari—die zwei mächtigsten Clans aus San Luca, dem kalabrischen Dorf, das als Hauptsitz der ‘Ndrangheta gilt, lagen seit 1991 im Streit. Das Ganze hatte mit einem schlichten Karnevalsstreich begonnen: Während der Feierlichkeiten warfen ein paar Typen aus der Nirta-Strangio vor einer von den Pelles betriebenen Bar mit Eiern und Mehl und verschmutzten dabei das Auto eines Familienangehörigen der Vottari. Das wurde sofort als Affront verstanden, weil alle wussten, dass die Strangios ihren Einfluss in der Gegend zu erweitern versuchten. Und so begann eine Fehde, die in den folgenden anderthalb Jahrzehnten über ein Dutzend Todesopfer gefordert hat. Der letzte Mordfall, bei dem sechs Menschen starben, ereignete sich in jener Nacht in Duisburg, als die Nirta-Strangio versuchten, einen einige Monate zurückliegenden Mord zu rächen. Sie töteten vor dem italienischen Restaurant La Bruno, wo eines der Opfer gerade seinen 18. Geburtstag gefeiert hatte, sechs überwiegend junge Männer, die in Verbindung zu den Familien der Pelle-Vottari standen. Eine verbrannte Gebetskarte mit dem Bild des Erzengel Michael wurde in der Tasche des Ehrengastes gefunden, weshalb die Ermittler annahmen, dass im Restaurant wahrscheinlich ein Initiationsritual der ‘Ndrangheta stattgefunden hatte. Im Inneren gab es eine Statue des Erzengels und in einem fensterlosen Raum im hinteren Bereich des Restaurants zahlreiche Bilder der Madonna di Polsi, die von den Mitgliedern der ‘Ndrangheta verehrt wird, über einem langen Tisch mit zwölf Stühlen. Der Hintergrund für die Zeremonie, wie auch für die Morde, lag circa 2.000 Kilometer südlich in der Kleinstadt San Luca. Regeln, Codes und Rituale sind von San Luca bis nach Deutschland gereist, ebenso wie in den Rest Europas und die USA—an jeden Ort, nach dem die ‘Ndrangheta ihre Tentakel ausgestreckt hat.

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In einer kriminellen Organisation zu sein heißt, Mitglied einer Struktur zu sein, die teils als Gewerbe, teils als religiöser Orden und teils als eine Art altertümliche Armee funktioniert (und wie die römische Armee in Legionen unterteilt ist). In allen Mafias gibt es zahlreiche Legenden und Kodizes, die dazu dienen, eine gemeinsame Identität aufzubauen. Rituale sind hilfreich, weil sie einer Welt ohne Regeln zu Regeln verhelfen: Die italienischen Mafiafamilien gelten als die vertrauenswürdigsten Untergrundorganisationen der Welt, weil sie Regeln haben, die nicht denen der offiziellen Jurisprudenz, also dem Gesetz, entsprechen, sondern dem Verhaltenskodex und der Disziplin illegaler Operationen.

Es mag paradox erscheinen, dass gerade ein Land, das weltweit für das generelle Fehlen von Regeln bekannt ist, die Mafia mit dem meisten Regeln hat. Die italienischen Mafiosi sind konservativ und traditionsbewußt und unterscheiden sich darin grundsätzlich von ihren modernisierten, emanzipierten italo-amerikanischen Pendants. Joe Pistone („Donnie Brasco”), der FBI-Agent, der die New Yorker Mafia infiltriert hat, behauptet, dass die Mafiosi je brutaler werden, je stärker sie amerikanisiert sind, und dass sie nicht begreifen, dass man ein Verbrechen nicht einfach begeht, um reich zu werden. Denn bricht man die Regeln der Mafia, bricht man auch mit ihrer Lebensweise.

In den 70er Jahren wurde Vincenzo Macrì, der Neffe und designierte Erbe von Antonio Macrì, dem Anführer der ‘Ndrina Sidernos (in Kalabrien), aus der Organisation verbannt, weil sein Verhalten nicht mit dem eines guten ‘Ndranghetista vereinbar war. Vincenzo fuhr auf einer Vespa umher, trug T-Shirt und Shorts und wurde schließlich einfach ersetzt. Bis heute muss ein ‘Ndranghetista sich strikt an bestimmte Vorgaben halten: Er darf kein Playboy sein, er muss darauf achten, keine Streits anzuzetteln, und muss sich von Schlägereien und dummen Streichen fernhalten. In anderen Worten: Er darf keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Ich bin von dem Geist der absoluten Selbstaufopferung, der den Anführern der kriminellen Organisationen abverlangt wird, immer sehr beeindruckt gewesen. Ich habe mich auch oft gefragt, wie ein Mann die Bedingungen in einem Hochsicherheitsgefängnis (in dem Mafiachefs laut italienischem Gesetz untergebracht werden müssen) jahrzehntelang aushalten kann. Man versteht es besser, wenn man weiß, wie ein Mafiachef als freier Mann oder gar auf der Flucht leben muss: verdammt zu einem Leben in einem winzigen, fensterlosen Bunker, wo er den Rechtsorganen zu entkommen versucht.

In Italien gibt es mehr Bunker als in jedem anderen Land der Welt. Es gibt Orte, z. B. in der Stadt Locri in Kalabrien, wo sie für fast alle Bewohner zum Alltag gehören. Jeder Haushalt baut sich fast automatisch einen Bunker, um auf das Schlimmste vorbereitet zu sein: Zwar hofft man, ihn nie zu benötigen, aber es ist besser, ihn für den Ernstfall zu haben. Bunker gehören automatisch in den Entwurf eines jeden neuen Hauses. Es ist so, als würden gute Eltern für die Zukunft ihrer Söhne vorsorgen, indem sie ihnen einen sicheren Ort schaffen, wo sie sich im Fall einer Flucht verstecken können. Oder auch einen Schwager, Cousin oder Onkel, wenn dieser ein Versteck braucht. Ein Mafiosi weiß, dass sein Leben in der Außenwelt ab einem bestimmten Punkt nur möglich sein wird, wenn er die Möglichkeit hat, sich zu verstecken.

Der Bunker ist jedoch auch eine Gemütsverfassung. Eine, die damit einhergeht, auf kleinstem Raum zu leben, nie nach draußen zu können und nie Tageslicht zu sehen. Es ist wie die Höhle eines Tiers. Ein kleiner Verschlag, der nur durch eine bescheidene Sammlung persönlicher Dinge erträglich wird: Gebetskarten, Pornohefte, Auto- und Uhrenkataloge—Dinge, die beweisen, dass die Macht eines Mafioso eher eine innere als eine äußere ist.

Ein Mafiaboss wird sich mit den Bildern dieser Uhren und Luxusautos zufriedengeben müssen, er wird sie mit seinen Augen kaufen müssen, weil er nie wieder in der Lage sein wird, sein Spinnenloch zu verlassen.

Das ist der Preis, den jemand zahlen muss, wenn er wahre Macht erlangen will, die Macht über Leben und Tod.