Endstation Brasilien

Ich hatte einen echt guten Job in Rio de Janeiro. Die letzten fünf Jahre hatte ich für eine internationale Hilfsorganisation gearbeitet, aber nach ein paar Umstrukturierungen wurde ich im Dezember entlassen. Die Arbeitslosenhilfe fällt in Brasilien eher mager aus, aber man bekommt zumindest einen Pauschalbetrag, der ungefähr 7% des gesamten Einkommens entspricht, das man bei dem ehemaligen Arbeitgeber verdient hat. Da meine Freundin und ich uns bei einem Tequila kennenlernten, lud ich sie also zu einem Mexiko-Urlaub ein. Doch sie schlug vor, dass ich lieber versuchen sollte, Geld zu sparen und dass es genauso viel Spaß machen würde, durch Bahia, im Nordosten Brasiliens, zu reisen und bei ihren Verwandten zu übernachten. Eins führte zum anderen und am Ende landete ich auf einem Fünf-Tages-Trip mit ihrem Brummi fahrenden Zuhälter-Onkel, der uns in eine kleine Stadt namens Jandaira brachte, wo ihr Bruder—ein Bauarbeiter—lebt.

Ich wurde herzlich empfangen und ich genoss meinem Aufenthalt dort, besonders, als die Militärpolizei anfing zu streiken, weil die Verhandlungen mit dem Gouverneur Jaques Wagner über die bekanntermaßen niedrigen Löhne und die ärmlichen Arbeitsbedingungen gescheitert waren. Die Anführer dieser Bewegung wurden vor kurzem festgenommen und die Aufstände wurden niedergeschlagen, aber bevor das passierte, wurde das Landtagsgebäude von ungefähr 200 Polizisten und deren Familien besetzt.  Die Armee wurde losgeschickt, um sie zu umzingeln und die reichen Nachbarn der Hauptstadt Salvador zu beschützen, während der Rest der Stadt und des Staates vollkommen schutzlos zurückgelassen wurde. Ein paar Leute spekulierten darüber, ob nicht vielleicht sogar die streikende Polizei selbst hinter der Gewaltwelle stecken könnte. Jedenfalls endeten die Konfrontationen mit 129 Toten in weniger als einer Woche, zusammen mit Plünderungen, Banküberfällen und allen nur denkbaren Verbrechen. Unabhängig davon, wer oder was der Auslöser für all das war, wurden nach einem Überfall auf die Post und eine Bank in der Nachbarstadt Rio Real, die Post, die Bank und alle örtlichen Geschäfte in Jandaira geschlossen und der Verkehr des Inter-City-Buslinie eingestellt. Ich saß quasi fest. Aber ich hatte Glück im Unglück und wurde am örtlichen Badesee zu einem Barbecue eingeladen.

Nach einigen Fehlstarts fing ein Teil unserer Gruppe schon mal an, die Sachen runter zum See zu tragen, der sich in einem kleinen Dorf unterhalb der Stadt befindet—hoffentlich außerhalb der Reichweite von Nutztieren und Abwasser. Ronaldo überreichte mir eine Machete. Ze Pedro schwang sich mit einer Kühlbox voller Bier auf sein Fahrrad, während seine Frau einen Eimer mit gemischten Bohnen, getrocknetem Rindfleisch und Maniokmehl trug. Ein Gericht, dass man hier feijão tropeiro nennt. Als wir ankamen, plantschten die Kinder bereits in dem trüben Teich herum.

Es war erst neun Uhr und die Leute standen schon jetzt herum und tranken. Man reichte mir eine Dose Bier und einen Plastikbecher mit Scotch gefüllt. Ze Pedro hackte mit der Machete ein paar Äste ab und bald brannte mit Hilfe von ein paar Plastiktüten ein Feuer und auf dem Grill lagen ein paar Hühnerköpfe.

„Hey, Buscopan!”, sagte Ze Pedro—mein neuer Spitzname, bezogen auf ein berühmtes Medizinprodukt—, „Erinnerst du dich an den da? Du hast mit ihm letzte Nacht Gitarre gespielt und gesungen.” Ich erinnerte mich ehrlich gesagt nicht daran. „Du sahst aus wie dieser Kurt Cobain, der Typ von Nirvana.”, sagte mein mysteriöser Gitarrenfreund. „Ich meine, du bist fetter als er. Jedenfalls liebe ich Rockmusik. Früher war ich mal total verrückt nach Megadeath, dieser Band, die sich nach dieser Prügelei von Metallica getrennt hatten. Wie war sein Name noch gleich? Aber jedenfalls habe ich aufgehört, ihre Musik zu hören, als ich mit dem Skateboarden anfing und in die Technotronic-Szene kam…” Er schrie seinen Sohn an: „Junge! Lauf zu uns nach Hause und hol meine Gitarre. Und bring das Pferd wieder mit. ” Er drehte sich wieder zu mir: „Es ist ein schönes Pferd. Ganz ruhig. Du kannst es reiten, wenn du willst.”

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Zwei Jugendliche wateten mit einem Netz zu dem anderen, sumpfartigen Ende des Teichs und legten es auf den Grund. Da hinten gab es anscheinend Alligatoren, aber sie werden in dieser Gegend wohl nicht mehr so groß. Zwei Leute kamen mit einer Trommel und einem Tamburin auf einer Zweitakter von Honda auf uns zu. Dann kam schließlich der Junge auf dem Pferd und der Gitarre angeritten. Er stieg ab und ein kleine Junge in nasser Unterwäsche sprang auf, fing an herumzureiten und brach 15 Minuten später in Tränen aus, als ihm klar wurde, dass er nicht wusste, wie er von dem Ding wieder runterkommen sollte.

Bald danach fand eine kleine Jamsession statt, mit Samba, romantischer Musik, brasilianischem Rock und typischer, sambaartiger Musik aus Bahia. Ze Pedro kam zu mir und sagte: „Komm Buscopan, ich zeig dir, wie man einen Hühnerkopf isst. Als erstes muss du Schnabel abreißen.”

Ronaldo bot an, mir ein Haus zu zeigen, dass für 4.500 Euro zum Verkauf stand. Ich sprang auf den Rücken seiner 1984er Honda. Der Sitz war kaputt und hing durch. Es gab nichts weiter als einen Haufen Rost und scharfes, kaputtes Metall, an dem man sich festhalten konnte. Als wir uns zentimeterweise über den von Schlaglöchern durchzogenen Feldweg bewegten, fuhren wir plötzlich nur noch auf dem Hinterrad und ich rutschte runter, während ich mir die Wade am Auspuff verbrannte. „Scheiß drauf!”, sagte ich, „Wir sehen uns oben.”

Als wir wieder zurück waren, ging ich schwimmen. Die Jungs zogen gerade das Netz aus dem Wasser. Ich folgte ihnen rüber zum Grill, wo ich einen riesigen Meeräschen und ein halbes Dutzend Piranhas zu Gesicht bekam. Ich schaute zum See rüber, aber der war immer noch voller planschender Kinder. Es schien offensichtlich so zu sein, dass wenn sie bis zu diesem Zeitpunkt noch niemanden gebissen hatten, es auch nicht mehr passieren würde, es sei denn eine menstruierende Frau würde baden gehen oder irgendjemand anderes, der gerade blutet.

Ich sah rüber zu einem Baum, in dem die Machete, die ich bei mir getragen hatte, neben zwei Hühnerherzen feststeckte—eine Art magisches Ritual der Macumba-Religion oder so. Die Trommler spielten jetzt auch Macumba-Musik. Ich wollte wissen, was es mit den Herzen auf sich hatte und Ze Pedro sagte: „Wir können sie auch auf den Grill schmeißen, wenn du willst.” Als nächstes wurde mir ein auf den Punkt gegrillter Piranha und ein Hühnerherz überreicht und es wurde weiterhin getrunken, was in der brasilianischen Tradition der Versuch ist, die angenehme Seite neben all den Formen des Unglücks zu finden.



Ich verließ den Ort am nächsten Morgen in einem Pick-Up, der über die Staatsgrenze nach Sergipe fuhr. Heute endete der Streik bedingt durch den öffentlichen Druck in 16 Bezirken und um die Sicherheit für den anstehenden Karneval zu garantieren. Aber dafür geht er in 450 anderen Bezirken weiter.