GUCCI MANE
Everybody Looking
Atlantic
Aus der Sick Day Issue
Videos by VICE
Am 19. Mai 2005, so erzählt die Legende, drangen fünf Männer in das Haus einer Stripperin, mit der Gucci Mane abhing, ein, um eine offene Rechnung zu begleichen. Die fünf waren bewaffnet, Gucci Mane nicht. Gucci entrang einem von ihnen die Waffe, vier der Männer entkamen. Die Leiche des Fünften, Pookie Loc, wurde später in der Nähe einer Schule im Wald gefunden. Das war 2005.
Black Music gilt in diesen Zeiten als heiliger Gral der Emanzipation, Gangsta Rap als letzte Bastion wahrer Coolness™—vor allem für jenen Teil seiner Rezipienten, die weder schwarz noch arm sind, Drogen nur vom Hörensagen kennen und nicht bei Rot über die Ampel gehen, wenn Polizei in der Nähe ist. Man weiß schließlich nie. Und Gucci Mane—ja, Gucci Mane war und ist der Held des Trap und Meister der dazugehörigen Pose. Der Mann ist nicht einfach ein Rapper, es geht hier um Gucci Mane. Einen Freak mit einer Eistüte, die in seine Wange eintätowiert ist, dem man seine Drogenabhängigkeit bisher schon am Flow anmerkte. Der mehr Mixtapes herausgebracht hat als andere Rapper Tracks, und der, wenn er nicht gerade im Studio saß, im Knast war. Er ist es, der den Atlanta-Trap-Sound erst erschaffen hat—oft mit Horrormusik-Versatzstücken spielend, begleitet von einem extrem gelassenen Flow, in seinem Gleichmut souverän und unheilverkündend. “Das hier ist Grünkohl. Ich versuche, gesund zu leben. Alle sind traurig und verwirrt, aber ich bin gesund und glücklich”, so Gucci, immerhin laut meinen Kollegen von Noisey der “einflussreichste Untergrund-Rapper des letzten Jahrzehnts” in einem Video, in dem er, genau, Grünkohl isst. Ehrlich gesagt, irgendwie bedrohlich Grünkohl isst. Frisch aus dem Knast entlassen, veröffentlichte er endlich sein neues Album, Everybody Looking.
Dessen Titel bezieht sich auf Tupac Shakurs All Eyez On Me, ebenfalls kurz nach dessen Gefängnisentlassung aufgenommen—und Gucci lässt keine Möglichkeit aus, das zu betonen. Die Single “On Me” (nicht im Album enthalten, aber unbedingt hörenswert) deutet das subtil in den Zeilen “The feds looking at me, know they got they eyes on me, / I feel like 2Pac when he made All Eyez On Me” an und brüstet sich, pardon, schmückt sich mit einem Tupac-Part und West-Coast-Anleihen im Sound.
“No Sleep”, das Intro, geht gut ab, auch wenn der Text nicht gerade originell ist. Dafür liefert der Track “Pop Music” die perfekte Analyse des PR-Erfolgs jeglicher Terroristen in einer Zeile: “They know my Glocks sing my hooks / and we call it pop music.” Ansonsten heben sich die Tracks nicht besonders vom Gucci-Mane-Standardsound ab, weder im Guten noch im Schlechten. Produzent Mike Will Made It hat da keinen ganz unwesentlichen Einfluss: Seine besten Beats haben Power und eine gute Dramaturgie, sie hauen einem nicht einfach eine Synthie-Wall-of-Sound in die Visage, sondern setzen die Klangerzeuger über dem strammen Bassfundament sehr gezielt ein. Zudem hat Gucci es drauf, seine Stimme als Instrument einzusetzen, man achte allein auf sein vollkommenes “Yeeeaaaah!” am Anfang von “Pop Music” oder sein verstrahlt-verblödetes Genuschel in “Pussy Print”.
Nicht viele Rapper können von sich behaupten, dass sie alles, worüber sie so rappen, auch tatsächlich tun. Gucci Mane kann das. Wenn Gucci eine Drohung ausspricht, weiß man: Die ist nicht gespielt. Wenn er sagt “Go dig your partner up, nigga”, meint er damit eine ganz reale Person, die von Gucci und seiner Crew erschossen wurde, keine ausgedachte. Der Haken: Everybody Looking macht einen Heidenspaß, ist aber zugleich eine ästhetische Sackgasse. Sicher, die Tracks sind tadellos gearbeitet, nur, bietet die Platte wirklich mehr als eine solide Anwendung der Formel? Stellenweise. Wenn man die Texte genauer anschaut, finden sich einige wirklich witzige Einfälle, der Hang zur Überkandideltheit, sogar zur Albernheit konterkariert sehr hübsch die Testosteron-aufgepumpten Inhalte und den dazu analogen Sound. Zugleich ist es allerdings bezeichnend, dass Gucci seine Platte mit dem Satz “I can’t even sleep I got so much to say” eröffnet, dann aber doch nur zu erzählen hat, dass er früher ein Pfund am Tag geraucht hat und sich noch immer lieber mit Pistolen duelliert, als Beefs verbal auszutragen. Während Kanye West die grandiose Geschichte beisteuert, dass er seine Bitch in jedem Zimmer ficken will—und zwar sieben Mal hintereinander. Wow.
Es scheint fast, als hätte die—auch politisch bedingte—Begeisterung für Gangsterrap durch weiße hippe Akademiker auf den Ursprungsstil zurückgewirkt: Der Original-Trap ist Pop-bewusster, vielleicht sogar ironischer geworden. Die Transparenz und Reduziertheit von Beats wie “Pussy Print” ist klar Pharrell-beeinflusst, nur eben düsterer. Was die Person Gucci Manes betrifft, ist interessant, dass er zwar einerseits durch seine Eskapaden als einer der authentischsten Gangster im Musikgeschäft gilt, aber andererseits durch einen ziemlich überdrehten, fast schon surrealen Film wie Springbreakers seine Rolle ins völlig Künstliche überhöht. In den besten Momenten ist das so unterhaltsam, dass man den Rapper fast als Picaro, als Trickster unserer Zeit sehen könnte—als schillernd, emanzipatorisch und krass affirmativ. Einen Nichtskönner, der alles kann.
Auf der anderen Seite richtet sich Gucci Mane auf fast spießige Weise in seinem Outlaw-Gehabe ein. So erstarrt auch der Musikstil, dessen er sich bedient, im völlig Formelhaften. Das Album ist aber nicht deshalb schwach, weil es ins Formelhafte abdriftet. Dieses Genre IST formelhaft. Das Album ist schwach, weil Gucci seinen eigenen Mythos aufbricht, aber nichts Neues als Ersatz bietet. Da lauert die alte, ungeliebte Grundsatzfrage, ob Hiphop bei allem Erfolg nicht eigentlich in einer Dauerkrise steckt, weil er nichts Neues mehr zu erzählen hat. Oder liegt die Zukunft des Hiphops am Ende doch im Grünkohl? Manchmal scheint es, als sollten Everybody Lookings Subbässe durch dauernde physische Erschütterung dessen, was vom Hörerhirn noch übrig ist, wie ein magisches Reinigungsritual die Ratlosigkeit wegblasen. –JULIANE LIEBERT
CHRISTIAN KRACHT
Die Toten
Kiepenheuer & Witsch
Die Toten ist Christian Krachts fünfter Roman. Ein neues Buch und einmal mehr der kollektive Versuch des Feuilletons, die Person hinter diesem Buch zu ergründen.
Warum verspüren so viele beim Lesen von Kracht das Bedürfnis, zu wissen, wer der Typ ist, der sich das alles ausgedacht hat? Es könnte wohl daran liegen, dass seine Geschichten unheimlich reich an Worten und Ideen sind, oder auch daran, dass Kracht seine Texte wie ein Magier Schicht für Schicht aus Be- und Andeutung hervorzaubert. Nichts handfestes, nur der Schein dessen. Das liegt nicht unwesentlich an der Sprache des Erzählers—auch in Die Toten bedient sich der Erzähler des reichen Potenzials der deutschen Sprache in all ihrer Präzision und Pointiertheit und lässt aber trotzdem oft ungreifbar, was den Zusammenhang seiner Erzählung angeht. Dieser Widerspruch, oder vielleicht besser gesagt, diese verlaufende Dualität, steht im Zentrum dieses Buchs.
Die Toten, erzählt die Geschichte eines im Leben verlorenen Schweizer Regisseurs namens Emil Nägeli, der entscheidet, nach einer langen, erfolglosen Inspirationssuche, seinen neuen Film in Japan zu drehen (wobei selbst diese “Entscheidung” wohl von Anderen für ihn getroffen wurde). Seine Geschichte verläuft parallel zu der eines japanischen Kulturbeamten, der die UFA und ihren neuen Chef Alfred Hugenberg um Hilfe bittet. Masahiko Amakasu will erstens mit deutscher Unterstützung das japanische Kino vor der Unterwanderung durch amerikanische Filme retten, und zweitens, dem japanischen Volk durch Bewegtbild und die große Leinwand, die Treue zur Nation und zum Kaiser näherbringen. Für dieses Vorhaben braucht er einen Regisseur: enter Nägeli.
Beide Protagonisten treffen sich irgendwann später im Verlauf der Geschichte, aber zuvor, lernen wir sie beim Erwachsenwerden näher kennen. Es sind Geschichten, wie man sie von Kracht kennt: fantasievoll, eloquent gedichtet. Sie sind durchzogen von Ironie und fordern einen heraus durch eine Ambiguität, die es einem nicht leicht machen, die eigene Skepsis—den Gedanken, das alles sei eine große Vorführung—endgültig zu schlucken. Auch das ist die Kunst des Autoren: ein misstrauisches, hinterfragendes und intensives Lesen in einem abzurufen. Die in sich geschlossenen Episoden erzählen auf der einen Seite, den als etwas Naives dargestellten, permanent von externen Faktoren bedrohten und gelenkten Versuch, das Metaphysische im Film festzuhalten und auf der Anderen, die Absicht, selbst die Menschen und die Welt um sich herum zu manipulieren und vorzuführen. Der Erzähler vereint diese beiden Positionen durch seine Omnipräsenz und lässt immer wieder die gleichen Menschen, Bilder und Farben in beiden Erzählsträngen auftauchen. Diese Dopplungen lösen eine Art Deutungsecho aus, das nicht nur in der Geschichte widerhallt sondern auch den einzelnen Erzählungen eine fast schon metaphysische Universalität zu verleihen scheint. Aber auch hier stellt sich wieder die implizierte Frage: was soll der Scheiß?
Das Lesen eines solchen Buches kann frustrierend sein und es gibt sicherlich Menschen, die sich mit so einer teilweise anstrengenden, trotzigen Erzählweise gar nicht anfreunden können. Ich würde diesen Leuten trotzdem empfehlen, die Zeilen dieses Buches über sich ergehen zu lassen. Es ist schwer Literatur mit Film zu vergleichen, aber da wir in diesem Buch mit beidem zu tun haben, könnte man den Vergleich zu Lynch ziehen. Allerdings steht Kracht für mich weniger für post-moderne Literatur an sich, sondern dafür, dem Leser ein postmodernes Verständnis seines Lese-Prozesses abzuverlangen. Und falls man trotzdem das Gefühl hat, man möchte wissen, woher diese unglaubliche Erzählung kommt, dann hier, auf Englisch, in den Worten des Autoren selbst: “Some of it has revealed itself to me in dreams, in prayer, through thievery and appropriation, other parts through a relatively fearless examination of my own childhood and early youth, which I have then grafted onto my two protagonists, who are of course one and the same, one light & the other sombre”. –TOM LITTLEWOOD
FRANK OCEAN
Blonde
Boys Don’t Cry
Frank Oceans neues, langerwartetes Album präsentiert in Perfektion eine ganze Gattung: Ich nenne sie Ningel-RnB. Ningel-RnB ist Musik für Leute, die keine Ahnung von guter Musik haben, aber deren Lebensinhalt die Distinktion ist, weshalb sie sich über intellektuelle Verrenkungen ihre Supermarktmusik cool schreiben müssen. Ningel-RnB ist die musikalische Entsprechung von Fahrradtouren und Familienessen. Man findet sie sehr lange Zeit zurecht ätzend, irgendwann beginnt man, sie doch irgendwie ganz gut zu finden, schon ist man nur einen Schritt entfernt von Raclette-Abenden, und dann ist es wirklich vorbei, ab da erfährt man nur noch sporadisch, wer jetzt wieder gestorben ist. Trotzdem lieben alle Ningel-RnB. Sie lieben folglich auch Blonde oder Blond, obwohl sich Frank Ocean in all den Jahren, die er dafür gebraucht hat, noch nicht mal entscheiden konnte, wie man den Scheiß Albumtitel denn nun schreibt. Nun, wie Radiohead sagen würden: “Nohoohooohooo Surprises”. Cool ist aber definitiv “Good Guy”, mit Kendrick Lamar, denn das ist wohl der erste Track in Franks Diskografie überhaupt, der ein offenes Liebeslied an einen Mann ist. Egal, das Essen wird kalt. Legen wir die Hände auf den Tisch und warten auf den Tod. Willst du noch einen Kloß, Schatz?
LUSTMORD
Dark Matter
Juno Records
15 Jahre hat Brian Williams alias Lustmord an diesem Album gearbeitet, weil er Audioaufnahmen aus dem Weltall verwendet hat. Brian Williams ist einer der bekanntesten Industrial- und Dark-Ambient-Musiker der Welt. Neben seinem Projekt Lustmord ist er vor allem durch seine Zusammenarbeit mit Nurse With Wound, Current 93 und Chris And Cosey bekannt. Außerdem ist er Chef des Side Effekts Labels. Das Schräge ist, dass Dark Matter, obwohl es aus Materialien der NASA kreiiert wurde, genau klingt wie alle anderen irdischen Ambient-Alben. Was ist, wenn wir nach Jahrtausenden der Suche irgendwo da draußen endlich einen bewohnten Planeten finden, und darauf sitzen die gleichen Deppen wie hier, sammeln alte Syntheziser, versauen ihre Umwelt und kauen an ihren Fingernägeln, wenn keiner hinschaut? Eine grauenhafte Vorstellung. Der zweite der drei Tracks des Albums (Ambient halt) wird dann gegen Mitte unglaublich geil, als er zu Industrial übergeht, vielleicht ist irgendwas Cooles durchs All geflogen. Das Beste ist aber, dass Lustmord in Track drei ein Sample verwendet hat, das klingt (vollkommen wertungsfrei) wie ein lautes, lang gezogenes Schnarchen. Entweder, er ist während der Aufnahmen eingeschlafen (Ambient halt), oder das Universum schnarcht. Danke, Lustmord, wir sind der reinen Erkenntnis wieder ein Stück näher.
ATLANTA
FX
Donald Glovers erfrischende Serie Atlanta folgt dem Geschick des Rappers Paper Boi, während er beginnt, sich mit einem lokalen Hit einen Namen zu machen. Der Track, das ist der Serie anzurechnen, ist dumm, eingängig und vertraut genug, um glaubwürdig zu sein. Glover spielt seinen Cousin und künftigen Manager Earn. Der Ton der Show ändert sich innerhalb einer Szene oder eines Handlungsstranges gelegentlich abrupt: Eine Episode schaltet zwischen Earn und Van, seiner Freundin, auf einem schrägen Date und einem Drogendeal zwischen Paper Boi und den Mitgliedern des wirklichen Atlanta-Raptrios Migos um, wobei Letzterer von einem grausamen Mord unterbrochen wird. Eine andere Folge, in der Earl einen langen Tag wartet, ins Gefängnis eingeliefert zu werden, ist auf Lacher aus—bis zu einem schrillen Moment von Polizeigewalt. Die beste Performance liefert Lakeith Lee Stanfield als Darius, Paper Bois rechte Hand mit einem herrlich unvorhersehbaren trockenen Humor. Es scheint den Machern mit dem Vorantreiben der Story nicht zu eilen, aber ich würde den Jungs durchaus eine ganze Weile dabei zusehen, wie sie durch die Stadt laufen, bis Paper Boi endlich groß rauskommt. –ANDREW MARTIN
EMMA CLINE
The Girls
Hanser
Achtung, in dieser Rezension wird das Ende des Buches verraten. Aber wer damals in Geschichte (oder beim Serienmörder-Googeln) aufgepasst hat, weiß das Ende ohnehin, ihr könnt sie also trotzdem lesen. Beginnen wir mit den Trivia: Emma Cline ist eine junge amerikanische Autorin, die für ihren ersten Roman mehrere große Eimer Vorschusslorbeeren gekriegt hat—in Form von 2 Millionen Dollar. (Was gleich die erste Frage aufwirft: Warum kriege ich keinen Vorschuss von 2 Millionen Dollar für diese Rezension?) Ihr Roman erzählt die Geschichte der Mädchen um Charles Manson, der im Buch nicht Charles Manson heißt, sondern Russell. Evie Boyd, Heldin des Buches, gerät in die Kreise einer hippiesken Sekte und bringt am Ende nach viel Hin und Her doch niemandem um. Dafür die anderen. Tja. Was Emma Cline gut kann: die nervenzerrüttete Phase der Pubertät in einer Präzision wieder zu erwecken, die einem das nackte Grauen einjagt, weil man schon vergessen hatte, wie grässlich das eigentlich war. Worin sie nicht so gut ist: Den Übergang vom abgefuckten Hippietum in Russells Kommune zum tatsächlichen Morden glaubhaft darzustellen. Und ja, Emma Cline findet sehr schöne Bilder, aber manchmal liest es sich wie eine Schönschreib-Übung mit ein paar Momenten der Weisheit.