Man könnte annehmen, durch Tinder hätten wir genug Erfahrung darin, uns gut zu verkaufen, und durch Instagram wüssten wir alles über Selbstdarstellung. Doch wenn wir Bewerbungen schreiben müssen, stehen wir vor einer ganz neuen Herausforderung. All die coolen XING-Kontakte sind ebenso egal wie die Person, die man wirklich ist – wenn die Personalerin einem veralteten Auswahlverfahren folgt. Und das muss sich ändern.
Bewerbungen zu schreiben, gehört auf der Liste der meistgehassten Alltagszwänge vermutlich unter die Top Ten. Gleich nach der Steuererklärung und vor dem Versuch, bei der DHL-Hotline durchzukommen, ohne von der Wartemelodie einen Tinnitus zu erleiden. All diese Endgegner des Lebens im 21. Jahrhunderts lösen bei mir ein Gefühl des Hasses aus: Sie zeigen mir, wie kleinlich unsere Bürokratie ist. Besonders bei der Bewerbung gibt es mehr Regeln als bei einer Papstaudienz. Ein Komma zu viel, ein Datum falsch formatiert oder ein Foto ohne Zahnpastalächeln sollen einem beruflichen Genickbruch gleichkommen. Und wer seine E-Mail ohne das angekündigte PDF abschickt, kann sich direkt beim Arbeitsamt anstellen.
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Ich weigere mich, dieses engstirnige System zu unterstützen. Und ich habe gute Gründe dafür, warum wir es dringend reformieren sollten.
Es sollte um die Person gehen, nicht um Zeilenumbrüche
Meine Lehrerin zwang uns in der Oberstufe, ein Taschenbuch zu kaufen mit Tipps zum richtigen Bewerben. Ich erwartete nützliche Hinweise, aber bekam einen Crashkurs in Textverarbeitung. Welche Schriftarten sind zulässig, wo platziere ich mein Foto, wie groß sollte der Zeilenumbruch sein, welche Seitenränder muss ich beachten? Es war ein Kompendium der Nutzlosigkeit. Danach war ich mehr mit der Formatierung meiner Bewerbung beschäftigt als damit, mir Gedanken über meinen Text zu machen.
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Dabei sollte es in einer Bewerbung nur um eins gehen: Sie sollte so gut aussehen, dass gestresste Personalerinnen und Personaler sie nicht direkt in den Papierkorb befördern. Es versteht sich von selbst, dass sie ordentlich und logisch strukturiert ist und die wesentliche Frage beantwortet: Warum bin ich wertvoll für euch? Niemand wird dich einstellen, nur weil das Dokument so seelenlos einwandfrei formatiert ist wie ein Bußgeldbescheid.
Heutzutage sollte es auch egal sein, was die Eltern arbeiten, ob man verheiratet ist oder in einer polyamoren Sechseckbeziehung lebt. Unabhängig vom mittlerweile verschärften Datenschutz waren solche Informationen im Lebenslauf schon immer irrelevant und sind der Beleg dafür, auf welchen sinnbefreiten Anforderungen das Bewerbungssystem aufbaut. Es sollte um dich, deine Erfahrung, Qualifikationen, Talente und Fähigkeiten gehen – weniger um deine Herkunft, Umfeld oder gar dein Aussehen.
Gleichberechtigung ist in der Welt der Bewerbungen ein Fremdwort
“Experten” empfehlen, bloß keine Fotos aus dem “Privatgebrauch” zu nehmen, oder gar ein Selfie. Dabei ist es doch genau so schnöde, beim Fotografen in 08/15-Pose abgelichtet zu werden oder im Fotoautomat wie ein toter Fisch in die Kamera zu gucken. So geleckt und gestriegelt, wie ihr euch für das Foto zurechtmacht, werdet ihr sowieso nie wieder aussehen, wenn ihr jeden Tag zur Arbeit kommt.
Leider sind wir in Deutschland noch nicht so weit, dass Bewerbungen ohne Fotos eine Chance bekommen. In den USA hingegen wollen Unternehmen, dass man auf ein Foto verzichtet, da sie Sorge haben, von Bewerberinnen und Bewerbern wegen Diskriminierung verklagt zu werden. Solange man sich nicht für eine Modelkartei bewirbt, sollte man auch unsere Vorstellung von Bewerbungsfotos überdenken. Jemanden nur abzulehnen, weil man seine Pickel oder seine Monobraue nicht mag, ist genauso weit von Gleichberechtigung entfernt, wie jemanden nicht einzustellen, der einen ausländischen Namen hat.
Im Grunde sollte man sich so bewerben, dass Personaler ihre Checkliste der groben Anforderungen durchgehen können – es sei denn, man bewirbt sich bei einer Verwaltung, für die ein penibel eingehaltener Zeichenabstand die Welt bedeutet. Wenn hinter den Qualifikationen ein Häkchen ist, sollte man den Rest beim persönlichen Gespräch entscheiden und nicht auf dem Papier. Das wäre schon etwas näher an Chancengleichheit.
Lieber Bewerberin statt Schauspielerin
Sollte man Heidi Klums philosophischen Einlassungen Glauben schenken, dann wäre Standard “out” und die Persönlichkeit bräuchte mehr “Salz und Pfeffer”. Bei Bewerbungen würde das bedeuten, dass man sich so zeigt, wie man wirklich ist. In der Realität sieht das leider meist anders aus. Man verkleidet sich in den spießigen Klamotten, die Oma so an einem liebt. Und man schaut sich YouTube-Tutorials darüber an, wie man sich in Bewerbungsgesprächen verhält und einstudierte Antworten auf Fragen gibt. Aber man sollte für einen Job keine Schauspielschule besuchen, wenn man sich nicht gerade als Schauspielerin bewirbt. Und man sollte sich nicht von Leuten aus dem Internet erklären lassen, wie man sich richtig verkauft. Wenn die eigene Persönlichkeit dem Personaler oder der potenziellen neuen Chefin nicht passt, wäre man eh nach der zweiten Woche Probezeit rausgeflogen. Niemand schafft es, sich so lange zu verstellen. Auch das weiß jeder, der schon auf Tinder nach einer Beziehung sucht.
Auch Unternehmen sollten nicht schwafeln
Aber auch auf der anderen Seite gibt es einiges zu verändern. Seitdem das dritte Geschlecht offiziell anerkannt wurde, steht in fortschrittlichen Stellenausschreibungen hinter dem Jobtitel “(m/w/divers)”. Man könnte auch einfach “(Mensch)” schreiben, obwohl jedem klar sein dürfte, dass ein Hund kein Programmierer werden kann oder ein Goldfisch eine Kassiererin. Genauso wie Unternehmen fordern, im Anschreiben Floskeln wie “Sehr geehrte Damen und Herren …” oder “Ich bin ein Teamplayer, motiviert und fleißig” zu vermeiden, sollten sie auch in der Stellenausschreibung auf Geschwafel verzichten. “Flache Hierarchien” und genug “Platz für Eigenverantwortung” sollten in einer modernen Arbeitswelt zum Standard gehören, nicht zu den Gimmicks.
Während wir alle Diversität mittlerweile im Schlaf erklären können, passt das Bewerbungssystem nicht mehr dazu. Feste Abläufe, Formalitäten und Rangordnungen können etwas Gutes sein und gerechte Voraussetzungen für alle schaffen. Aber unnötig strenge Formen stehen auch manchmal im Weg, wenn es darum geht, dass es die Menschen und die Unternehmen, bei denen sie sich bewerben, nach einem Match möglichst lange miteinander aushalten sollen.