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„Die meisten Menschen begreifen gar nicht, wie obdachlos sie sind.“—Benjamin Clementine im Interview

Benjamin Clementine möchte, dass kein Mensch alleine ist. Also macht er Musik für sie.

Sich an einem Samstag Spätnachmittag—wohlgemerkt Ende November—mit Benjamin Clementine am Kölner „Stadtgarten“ zu treffen, bringt ein nach Süßem, Süffigem und Fettigem riechendes Problem mit sich: den Weihnachtsmarkt. Es heißt also, dem Chaos draußen zu entkommen und sich Backstage zurückzuziehen. Hier entpuppt sich der Macher tieftrauriger, poetischer Klavierballaden als redseliger, extrem ehrlicher und hochgradig sympathischer Mensch.

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YNTHT: Dir wird sicherlich nicht entgangen sein, was da draußen abgeht. Wie findest du Weihnachtsmärkte? Stehst du auf Glühwein, Würste etc.?
Benjamin Clementine: Nicht wirklich. Ich stehe leider nicht so auf Weihnachten.

Du stehst überhaupt nicht auf Weihnachten?
Weihnachten interessiert mich einfach nicht so. Aber ich gönne den Feiernden da draußen ihren Spaß. Ist ja auch großartig: Die Leute feiern jemanden, den sie zuvor noch nie gesehen haben. Jemanden, an den sie glauben.

Achtung, jetzt wird es theoretisch: Bob Dylan wurde zu Beginn seiner Karriere mal gefragt, wie er es geschafft hätte, so schnell so berühmt zu werden. Dylan antwortete: „Ist halt so passiert—wie alles andere auch passiert“. Siehst du da Ähnlichkeiten zu deiner eigenen Geschichte? Begreifst du deine wachsende Popularität als glücklichen Zufall oder hattest du den Masterplan, musikalisch durchzustarten?
Der Ursprung von allem ist die Verzweiflung. Dieser Umstand und die daraus resultierenden Konsequenzen haben es so ergeben. Ich plane mein Leben nicht, das habe ich sowieso nie getan. Das ist halt so passiert: Auf einmal bin ich in Paris, spiele in Bars. Oder Freunde laden mich manchmal ein, für sie an Geburtstagen zu spielen. Ich habe wirklich viel gemacht, eine Menge Leute getroffen und irgendwann dann meine erste EP aufgenommen. (Er macht eine Pause.) Es ist einfach passiert. Ich mache jetzt immer noch genau das gleiche wie damals in Paris: Ich spiele Musik vor Leuten. Nur ist die Sache jetzt halt größer geworden.

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Du sollst viele musikalische Einflüsse haben. Erik Satie, Antony (von Antony and the Johnsons), Leonard Cohen, Nina Simone, Jimi Hendrix, Luciano Pavarotti. Sogar Freddie Mercury und Bach! Stimmt das alles?
So ungefähr, ja (lacht).

Wie bist du an so viel unterschiedliche Musik gekommen? Wie lief deine musikalische Erziehung und Sozialisation ab?
Ich habe nie Musik studiert, habe mir das alles selbst beigebracht. Und auch auf die Musiker, die du aufgezählt hast, bin ich mehr oder weniger durch Zufall gestoßen. Erik Satie habe ich schon ganz früh gehört. Dann kam Luciano Pavarotti hinzu, danach dann Jimi Hendrix. Den kannte ich bis zu meinem 17. Lebensjahr gar nicht, obwohl ich aus England komme. Nina Simone habe ich in Paris für mich entdeckt, Leonard Cohen auch dort. Ich verehre diese Musiker wirklich—das sind großartige Künstler. An sich fühlt es sich nicht richtig an, Künstler immer wieder mit anderen Künstlern zu vergleichen. Wird man aber wie in meinem Fall mit Legenden verglichen, ist das eigentlich gar nicht mal so schlecht (lacht).

Ganz allgemein darf man dich sicherlich als Singer-Songwriter labeln. Deshalb die Frage, die vermutlich jeder Singer-Songwriter gestellt bekommt: Was kommt beim Song schreiben als erstes? Die Musik oder der Text?
Das ist bei jedem Song unterschiedlich. Mal kommen die Lyrics als erstes, ein anderes Mal ist es das Klavier oder die Gitarre (oder was ich gerade halt spiele). Das Songschreiben an sich wird aber in erster Linie durch meine Emotionen und meine Gedanken gesteuert. Es gibt also keinen Plan oder ein bestimmtes Muster, das ich verfolge. Viele meiner Songs entstehen deshalb, weil ich etwas ausdrücken oder sagen möchte, was tief in mir steckt. Ich bin ein Expressionist. Ich sehe mich weder als Sänger, noch als Songwriter. Ich will mich lediglich künstlerisch ausdrücken. Überhaupt mag ich so Labels wie Singer-Songwriter nicht. Man steckt jemanden in eine Schublade. Klar, um über Musik zu sprechen oder sie zu beschreiben, braucht man diese Schubladen vielleicht. Aber man engt einen Künstler damit auch schnell ein. Bei mir zum Beispiel reden die Leute ganz häufig darüber, wie sanft und weich meine Musik klingt. Dabei habe ich auch Einflüsse aus der Rockmusik oder aus der Klassik.

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Man sieht dich oft barfuß Klavier spielen, zum Beispiel bei deinem BBC-Auftritt bei Later with Jools Holland. Warum ist das so? Fühlst du dich ohne Schuhe geerdeter?
Die Sache mit dem barfuß Klavier spielen fing an als … (fängt an zu lachen) … oh Mann, ich hätte nie gedacht, dass man mir diese Frage so oft stellen würde. Ich habe in Paris von einem Freund Schuhe bekommen. Der wollte unbedingt, dass ich sie bei einer Show trage. Blöderweise waren die Schuhe noch total rutschig—sie waren halt neu—und so rutschte ich damit ständig vom Klavierpedal ab. Also habe ich sie ausgezogen. Und von diesem Tag an bin ich dann immer barfuß aufgetreten. Das ist die ganze Geschichte.

In deinen Texten steckt viel Einfachheit, Nüchternheit und Klarheit. Ist deine Poesie angelehnt an „Die Neue Sachlichkeit“? Oder bilde ich mir das nur ein?
Wenn das deine ganz persönliche Meinung ist, geht das für mich klar. Ich kann dazu nicht viel sagen. Aber du kannst das gerne so beschreiben, oder mich. Andere werden mich vermutlich wiederum anders beschreiben. Was die Klarheit angeht, hast du sicherlich recht. Das was ich sehe oder in mir fühle, möchte ich exakt so ausdrücken, wie ich es sehe oder in mir fühle. Die Sache ist ja die: Ich fürchte nichts anderes als mich selbst. Aber wenn mir Leute zuhören, verschwindet diese Furcht vor mir selbst. Wenn ich singe oder mich künstlerisch verwirkliche, habe ich das Gefühl, nicht alleine zu sein. Nicht der einzige zu sein, der diese Furcht ertragen muss. Ich glaube, die Leute, die mir zuhören, haben bestimmt auch viel Schreckliches und Schmerzvolles durchmachen müssen. Ich repräsentiere nicht „Die Neue Sachlichkeit“, sondern drücke mich gegenüber einem Publikum exakt so aus, wie ich mich gegenüber einem Freund ausdrücken wollen würde.

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Warum ist sich auszudrücken so wichtig für dich? Siehst du darin deine Lebensaufgabe?
Durch meine Kunst möchte ich den Leuten das Gefühl geben, nicht alleine zu sein. Es klingt vielleicht wie ein Klischee, aber im Wesentlichen geht es mir nur darum zu helfen. Ich glaube, ich wurde geboren, um Kunst zu kreieren. Und um zu inspirieren, zum Beispiel Kinder. Denn viele Kinder haben viel weniger Möglichkeiten als andere. Ich hatte zum Beispiel nicht das, was man ganz klassisch als Rat von den Eltern bezeichnen würde, trotzdem kam und komme ich gut klar. Ich fühle die Sehnsucht rauszugehen und den Leuten zu sagen: „Guckt mich an, ich gebe nicht auf. Also gebt auch nicht auf.“ Die Themen, die ich anspreche, sind Religion, Emotionen, Beziehungen, Familie. Der Ausgangspunkt meines künstlerischen Schaffens im Hier und Jetzt—und auch für mein erstes Album—lautet ganz klar: „Du bist nicht allein.“

Laut Wikipedia warst du in Paris eine Zeit lang obdachlos. Wie war diese Erfahrung für dich? Wie lange warst du obdachlos?
Es gibt verschiedene Arten von Obdachlosigkeit—das hängt davon ab, wie man Obdachlosigkeit definiert. Bis zum heutigen Tag habe ich kein wirkliches Zuhause. Ich schlafe momentan in Hotels, bin aber doch irgendwie obdachlos. In meinem Fall wäre emotionale Obdachlosigkeit die vielleicht zutreffende Bezeichnung—die ist manchmal noch schlimmer als mal ab und zu auf der Straße zu schlafen. Viele machen das. Ich habe es auch getan. Damals, als ich nach Paris gekommen war, im Winter! Das war wirklich schrecklich. Ich möchte aber lieber von der anderen Obdachlosigkeit, der emotionalen, reden. Ich glaube, die meisten Menschen begreifen gar nicht, wie obdachlos sie sind.

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Ein Blick in die Zukunft: Wann kommt dein Debütalbum, von dem du eben gesprochen hast? Wie wird es klingen?
Was mein Album betrifft, möchte ich lieber nicht zu viel verraten. Die Leute sollen es selber entdecken. Es wird At least for now heißen und im April 2015 in Deutschland rauskommen. Als Titel für das Album hatte ich zuerst From nobody to nobody angedacht, habe es aber dann geändert wegem dem Song „At least for now“. Ich liebe klassische Musik genauso wie Rockmusik—das merkt man auf dem Album. Man hört die Jimi Hendrix-, Nina Simone-, Antony and the Johnsons-Parts genauso wie die Poesie von Leonrad Cohen. Überhaupt liebe ich Lyrik, gerade die von William Blake und T. S. Elliot. Die sind beide unglaublich. Ich schreibe übrigens auch ein Buch, das hoffentlich etwa zur gleichen Zeit erscheinen wird wie das Album. Ich schreibe darin darüber, wie die Texte des Albums zustande gekommen sind. Es geht also mehr um meine poetische Seite als um die musikalische.

Ganz zum Schluss ein Exkurs in die Psychologie: Was genau siehst du in diesem Tintenklecks?

(wirkt etwas irritiert) Was ich darin sehe?

Ja. Meine Frau hat ihn gemacht.
Wie alt ist sie?

28.
Ist sie schwanger?

Nein.
Wann möchte sie schwanger werden?

Das hat noch Zeit, vielleicht in einem Jahr.
Wieviele Kinder wollt ihr haben?

Drei?
(etwas erstaunt) Nur drei? Es gibt Leute, die wollen zehn Kinder bekommen. (wendet sich wieder dem Tintenklecks zu) Das ist schon irgendwie interessant. Es könnte eine Repräsentation von Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung sein—Weiblichkeit und Männlichkeit. Gleichberechtigung aber nicht in dem Sinne, dass Männer und Frau beruflich gleichgestellt sind oder sich mit den gleichen Chancen auf einen Job bewerben. Ich rede von Gleichwertigkeit in Beziehungen. Was siehst du denn in dem Bild?

Ich würde nicht so weit ausholen und zu einem Tier tendieren, vielleicht ein Ziegenbock.
Stimmt, ein Ziegenbock. Aber auch Gleichwertigkeit.

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