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Thump

In Prag hat Techno lange gebraucht, um den Sozialismus aus den Köpfen zu hämmern

„Ganz ehrlich? Das hier fühlt sich total an wie Berlin Anfang der 90er!“

Alle Bilder: Jaroslav Moravec

„Ganz ehrlich? Das hier fühlt sich total an wie Berlin Anfang der 90er!“

Die zwei hochgewachsenen Soundtechniker neben mir wirken sehr zufrieden. Die beiden sind Engländer und vom Fach, beschallen sonst die Fusion. Auch heute sind sie für den Sound der Party zuständig, die gerade um uns herum tobt—mitten in einem verlassenen Schlachthaus, mitten in Prag.

Prag. Die „goldene“, zum Dahinschmelzen schöne Metropole an der Moldau. Weltweit bekannt für Architektur, Literatur und Drogenkultur. Doch als Hotspot für elektronische Tanzmusik? Bislang hat sich westwärts nichts rumgesprochen. Was da los, Prag? Geht wirklich nichts, oder verwahrt ihr einfach nur das bestgehütete Geheimnis Europas? Ich, die verwöhnte und ignorante Berlinerin, wollte es herausfinden und bin losgefahren, um der lokalen Clubszene persönlich auf den goldenen Schmelz zu fühlen.

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Anlass ist Polygon, eine auf deepen und hart zimmernden Techno spezialisierte Partynacht. Den Anfang nahm sie vor drei Jahren mit circa 80 Leuten, mittlerweile feiern bis zu 1.000 mit, was die Veranstaltung zur größten ihrer Art in ganz Tschechien macht. Und das hauptsächlich durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Bei einem kleinen Essen am Abend erklärt mit Mitbegründer Jaroslav Moravec noch: „Vorher gab es hier einfach keine existente Clubszene. Zumindest nicht eine solche, wie ihr in Berlin es gewohnt seid. Unsere Clubs waren eher auf Touris und Durchschnittskram ausgerichtet, weniger experimentierfreudig.“

Doch wenigstens in Sachen Rave ist Tschechien kein unbeschriebenes Blatt: Jaroslav, der später noch selbst unter dem Namen em ju es aj si auflegen wird, erzählt mir von den FreeTekno-Festivals der Spät-Neunziger, die über Jahre hinweg von friedlichen Hardstyle- und Goa-affinen Hippies durch das Land getragen wurden. Ehe die letzten Raves 2005 brutal von der Polizei niedergeschlagen wurden. Dann kam erstmal lange Zeit nichts. Erst um 2010 herum gab's wieder die ersten, gelegentlichen House-Partys, bis Polygon schließlich den in Tschechien bis dato stark vernachlässigten Techno einem neuen, dankbaren Publikum zuzuspielen begann. Dabei orientiert man sich stets an Berlin.

Eine Residency hat Polygon nicht. Ganz der findige Underground macht man sich für jede Nacht ein anderes unrenoviertes Überbleibsel sozialistischen Brutalo-Charmes zueigen: stillgelegte Bahnhöfe, Atombunker, Lagerhallen. Die Party, für die ich angereist bin, findet in der Hala 36 statt, einem ehemaligen Schlachthaus ab vom Schuss im als Kreativviertel geltenden Bezirk P8. Wir nähern uns einer länglichen, niedrigen Backsteinbaracke, schlagen die massiven Metalltore zur Seite, und werden erstmal von einem strengen Weihrauchgeruch erschlagen. Die Betonschräge, die in die Dunkelheit hinab führt, ist mit weißen Friedhofskerzen flankiert. Am anderen Ende wirkt eine Lichtinstallation aus Blech wie ein futuristischer Blade-Runner-Schrein. Wenn Techno als Religion gilt, und Clubs ihre Tempel sind, dann hat man das hier wohl sehr wörtlich genommen. Jaroslav lacht: „Nein, der Weihrauch soll nur den Biergeruch verdecken.“

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Ein langer, karg beleuchteter Korridor führt zu zwei voneinander getrennten Räumen, beide mit viel Liebe zum Detail eingerichtet. In der rötlich ausgeleuchteten Chill-Out-/Bar-Area kann man auf umfunktionierten Autoreifen eine Runde schaukeln. Weiter hinten: der Dancefloor, dessen Wände mit schwerem schwarzen Samt abgehängt wurden. Das alles nur für diese eine Nacht! Von der Decke baumeln Kupfer-Zylinder, aus denen—dramaturgisch auf die Musik abgepasst—dichte Nebelschwaden geblasen werden, was die bereits verschlingende Dunkelheit geradezu undurchdringbar macht. Ständig laufe ich mit meinen 1,60m in irgendwelche Achselhöhlen oder bleib in den Rillen im Boden hängen, über die früher das Schweineblut abgeflossen ist. Apropos Schwein—auf dem, was in dieser Nacht als Theke fungiert, haben jene armen Tiere einstmals ihre letzten Grunzer ausgestoßen.

Überall sehen wir die Machenschaften der hiesigen Kunstszene, mit der Polygon eng verknüpft ist. Jaroslav selbst ist Videoregisseur und somit auch verantwortlich für die ungeheuer aufwendigen Mini-Teaser, die die Veranstaltung bewerben. „Das hat sich hier zu so einer netten Tradition herausgebildet. Nicht nur wir, fast jede Partyreihe produziert statt Flyer ihre eigenen kleinen Videos." Auch die Karten, die den Standort der Location verraten, sind eigens angefertigte kleine Kunstwerke. In einem einzelnen Winkel hier steckt mehr kreative Idee als auf so mancher Party in Berlin.

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Nicht nur dank des beständig wummernden Viervierteltakts fühle ich mich äußerst heimisch. Die Farbe des Abends ist natürlich hier wie anderswo Schwarz. Rundum erblicke ich Nike Airs, Manbuns, Turnbeutel, runde Brillen, Beanie-Mützen. Hipster aller Länder, vereinigt euch! Doch es gibt Gäste, die aus dem Rahmen fallen: durchoperierte Oligarchen-Töchterchen mit kahlrasierten Hulk Hogans an der Seite, die zuerst betreten am Rand mit ihrem Sektglas wippen, bevor auch sie zunehmend den hypnotischen Beats verfallen. Dazwischen Indie-Boys mit Bloc-Party-Shirts oder Fashion-Girls in Altrosa. Alles wirkt wie Techno in der Petrischale, wo die einzelnen Moleküle erst miteinander verwachsen müssen.

Doch die allseits ekstatische Begeisterung ist ansteckend. Veronika aus Prag erzählt mir, dass dies ihre erste Techno-Party überhaupt sei, und sie ist jetzt schon Fan: „Techno wäscht mir komplett den Kopf! Das ist das Beste, was es gibt!" Ihr Begleiter Vit ist schon weiter und eingefleischter Tech-Head. Als ich ihm erzähle, dass ich aus Berlin angereist bin, will er mich gar nicht mehr loslassen, damit er mit mir über ihm bekannte Labels rumnerden kann. Kein Wunder, die Szene ist noch sehr unter sich, Besuch aus dem Ausland eher selten. Nota bene stehen „Wie ist das Berghain wirklich? Und wie kommt man rein?" auf Platz eins und zwei der an mich gerichteten FAQs an diesem Abend.

Der Ostgut Ton-Roster ist natürlich wohl bekannt. Daneben scheint das Dystopian-Label um Rødhåd Eindruck hinterlassen zu haben. Rødhåd hat neben Henning Baer oder italienischen Acts wie Claudio PRC, Dino Sabatini oder Wrong Assessment ebenfalls bereits bei Polygon gespielt. Heute steht das Avian-Label hinter den Decks, vertreten durch Sigha, Pris und Shifted, die den vorherrschenden Techno-Marsch bisweilen in fluffige Acid- und Electro-Richtungen abdriften lassen. Tschechische Produzenten gäbe es erst eine Handvoll, sagt Jaroslav. Das Duo Selektiv Mutism, die dieses Mal auch am Start sind, sind zwei der wenigen. Aber, schiebt er nicht ganz ohne Stolz nach, die internationalen Künstler seien total angetan von der brennenden Neugierde der lokalen Crowd, die übrigens weitaus geringer verdruppt ist als ich eingangs angenommen hatte. Selbst in den Morgenstunden, in denen das milchige Licht allmählich durch die kleinen Luken auf noch gut Hunderte von Feiernden fällt, blicke ich weniger auf Mond-Pupillen als auf genuine Euphorie—„weniger" als im Vergleich zu Berlin zumindest. Dabei ist die laxe tschechische Drogenpolitik ist eigentlich Wasser auf den Mühlen des neuen Prager Techno-Frenzy.

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Doch warum Techno ausgerechnet erst jetzt Einzug in Prag hält, darauf kennt jeder eine andere Antwort. Ryan aus Melbourne, seit Jahren hier wohnhaft, erklärt es mit den aus Berlin, New York und London Heimgekehrten, die der ausgehungerten tschechischen Jugend eine frische Kultur präsentieren würden. Samt Grünkohl-Smoothies und Pop-Up-Stores. Gemeinhin nennt man das auch Gentrifizierung. Ryans tschechische Freundin Martina lässt das Stichwort „Post-Kommunismus" fallen, und zumindest hierauf können sich alle einigen: „Der Sozialismus war lange Zeit noch tief in den Köpfen der Tschechen verankert. Die Leute waren super stromlinienförmig, alles was irgendwie ‚anders' war, wurde abgelehnt.“ Erst jetzt sei die Generation der Post-Wende emanzipiert genug, und giere nach einer eigenen Identität, weswegen Bemühungen wie das Polygon auf fruchtbaren Boden fallen. Anfangs war man damit einzigartig in Prag, mittlerweile sind fünf, sechs Nachahmer auf den Zug aufgesprungen.

Ich verlasse Polygon schwer beeindruckt, plane insgeheim schon den nächsten Besuch. Am Ende soll ich jedoch noch Probleme mit meinem Taxi haben, bis zwei sichtlich ausgelaugte Gestalten mich netterweise in ihrem mitfahren lassen. Ich biete ihnen Geld an, doch sie winken ab. „Gib uns kein Geld. Just say hello to Berlin from us.“ Ich finde aber, es ist an der Zeit, dass Berlin mal lieber Prag Hallo sagen sollte.

Dieser Artikel ist vorab auf THUMP erschienen.

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