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Diese Musikvideos können froh sein, dass es damals noch kein Twitter gab

Von „Pretty Fly (For A White Guy)“ bis „Hit Me Baby (One More Time)—wir haben dir mal eben deine ganzen Lieblingssongs ruiniert.
Emma Garland
London, GB

Stell dir nur mal eine Sekunde lang vor, dass Taylor Swift „Shake It Off“ 1992 veröffentlicht hätte. Wie wäre das wohl abgelaufen? Hätte jemand in der Times einen langen Artikel über kulturelle Aneignung geschrieben? Hätte es eine Briefkampagne gegen Taylor über den subtilen Unterschied zwischen Klischee und Stereotyp gegeben? Oder hätte es einfach Unmengen 12-Jähriger dazu ermuntert, Bomberjacken mit Animalprint und einem Haufen falschen Bling-Blings zu tragen?

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Damals, 1992, war einfach alles anders. Alte Säcke konnten problemlos in einem Raum voller Kinder über ihren Schwanz singen; Bands konnten Songs darüber schreiben, wie sie minderjährige Mädchen vögeln wollen, und wurden dafür von Kritikern gefeiert, und Gwen Stefani konnte „Super Kawaii!“, sagen und damit ihre andauernde Minstrel-Show fortführen, die ihr Harajuku Mädchen-Fetisch letztendlich ist, und alle klebten sich Bindis auf die Stirn, wie sie selbst das schon im Video zu „I’m Just A Girl“ getan hatte.

Jetzt, da wir in einer Zeit leben, in der zwei weibliche Popstars keinen Song mehr über die Vorzüge guten Aussehens singen können, ohne als eine Schande für den Feminismus beschimpft zu werden, vergisst man schnell, wie viele Künstler nur knapp dem digitalen Pranger entgangen sind, nur weil ihr #Aufschrei-würdiges Werk veröffentlicht wurde, bevor Social Media überhaupt existierte. Hier sind ein paar dieser Künstler und die öffentliche Empörung, der sie nur entgangen sind, weil Twitter zu ihrem großen Glück erst 2006 erfunden wurde.

The Beatles – „I Saw Her Standing There“

Yo, was geht? Hier sind eure Jungs, die Beatles, mit dem unangemessensten Musikstück seit Bill Cosbys Improv-Album mit Tracks wie „What Ya Think 'Bout Lickin' My Chicken“ und „That’s How I Met Your Mother“. Hier haben wir es allerdings noch nicht einmal mit einer Metapher oder Ähnlichem zu tun—hier wird einfach geradeheraus der Wunsch geäußert, eine Minderjährige flachlegen zu wollen. Wenn die erste Zeile schon lautet, „Well she was just 17 / You know what I mean“, dann gibt es eigentlich keinen Weg, den du von da noch gehen kannst, der nicht in einer Polizeistation und den Worten, „Guten Abend, ich bin Chris Hansen und Sie schauen Dateline NBC…“, endet.

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2004 platzierte der Rolling Stone „I Saw Her Standing There“ auf Position #139 der 500 Greatest Songs of All Time. 2015? Lolita hätte wahrscheinlich damit geendet, dass Humbert Humbert in einem Verfahren über sexuelle Belästigung diesen Text als Beweis seiner Unschuld herangezogen hätte.

The Offspring – „Pretty Fly (For A White guy)“

Ich habe das Gefühl, dass The Offsprings Intention hierbei schon war, sich über die ganzen weißen Typen lustig zu machen, die sich unreflektiert an der schwarzen Kultur bedienen. Dazu porträtieren sie die Karikatur eines weißen Nerds, der furchtbar daran scheitert, eine Karikatur des HipHop zu sein. Diese Lesart ist aber eigentlich noch unglaublich wohlwollend, wenn man bedenkt, dass A) dazu so ziemlich jedes ethnische Klischee ausgepackt wird, B) in dem Video schwarze Frauen lediglich als Lustobjekt für weiße Männer zu sehen sind und C) sich die Band eine Vokalistin dazu geholt hat, die den Teil mit den sexuellen Anspielungen des Chorus in einem Latino-Akzent singt.

Britney Spears – „Hit Me Baby (One More Time)“

Das hier ist eine wahre Symphonie der Teenager-Sehnsucht. „Hit Me Baby (One More Time)“ beförderte Britney aus den Rängen des Mickey Mouse Club zum Postergirl des Pop—und fasste damit quasi Miley Cyrus' komplette Karriere in einem Jahr zusammen. Weil das hier ihre erste Single war, choreografiert sie sich bosshaft als 16-Jähige mit Zöpfchen und Kniestrümpfen ihren Weg durch eine High School. Die ganze Sache ist schon irgendwie eine „Sophia Grace“-Diskussion darüber wert, was uns hier eigentlich aufgetischt wird. Ist es A) eine 16 Jahre alte Britney, die ganz klar die Zügel in der Hand hat, oder ist es B) eine 16 Jahre alte Britney als singende und tanzende American Apparel-Werbung, deren komplettes Image auf der „katholisches Schulmädchen“-Fantasie und der Lolita-mäßigen Übersexualisierung von Teenager-Mädchen basiert? Hätte Britney heute einen solchen Auftritt abgeliefert, wäre ein Krieg der Meinungsartikel ausgebrochen, der so brutale und endlose Ausmaße angenommen hätte, dass nichts mehr geblieben wäre als verbrannte Erde und die abgewetzten Finger von überarbeiteten Fembloggerinnen.

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Ob das 2015 hilft oder nicht, aber Britney sagte damals als Antwort auf die Kritik seitens besorgter Eltern: „Ich zeige meinen Bauch? Ich komme aus dem Süden. Du wärst ganz schön blöd, wenn du keinen Sport-BH zum Tanzunterricht trägst—dann schwitzt du dir den Arsch ab.“

N*E*R*D – „Lapdance“

Irgendwie hat Pharrell Williams es ja geschafft, ziemlich unbescholten aus seiner Beteiligung an „Blurred Lines“ hervorzugehen. Ich werde nie verstehen, wie das überhaupt möglich war—vor allem, wenn man bedenkt, dass er schon in der Vergangenheit öfter auffällig geworden war. Nimm zum Beispiel die 2001er N*E*R*D-Veröffentlichung „Lapdance“, die damals kaum eines feministischen Blickes gewürdigt wurde. Damals bildeten schließlich auch noch American Pie, Jackass und Internetpornografie die Stützpfeiler der Mainstream-Popkultur.

Auch bekannt als das Video, für das jeder Teenager in den 00er Jahren extra lange wach blieb, damit er sich zu der unzensierten Version im Nachtprogramm von MTV/VIVA einen runterholen konnte, benutzt „Lapdance“ quasi Sexarbeit als eine aggressive Metapher für Politik („While the government is soundin’ like strippers to me / They keep sayin’ but I don’t wanna hear it“). Will heißen: Alles, was Politiker tun, ist heiße Luft zu reden und N*E*R*D haben keine Bock mehr zuzuhören—und natürlich gehst du auch nicht in einen Stripclub, um dich mit einer Stripperin zu unterhalten. ALTER. Das Video ist derartig überladen mit Titten und Ärschen, dass es unmöglich ist, hier alles im Detail zu besprechen, deswegen fassen wir nur mal grob zusammen, was dort passiert: pseudolesbisches Rumgefummel für den männlichen Blick, Pharrell mit einem Porno-Schnurbart, der ein paar nackte Brüste anfasst, während er selber züchtig in ein Polohemd gekleidet ist, und an einer anderen Stelle packt der Rapper Lee Harvey eine Frau unsanft am Hals und schubst sie weg.

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Hätten N*E*R*D 2015 diesen Song anstatt dem Soundtrack für S

pongeBob Schwammkopf 3D

veröffentlicht, wäre Pharrell noch nicht mal in die Nähe irgendwelcher „Blurred Lines“ gekommen, weil er—

genau wie Robin Thicke heute

—einfach keine Karriere mehr hätte.

Chico – „It’s Chico Time“

„Sometimes it feels so good,

I can't remember bad,

my 8 o'clock is tickin'

and in fact it drives me mad,

It's erotic, exotic, hypnotic, that's for sure,

put a smile on ya face,

and take u to a place,

you've never been before.”

Singt der X-Factor Viertelfinalist Chico Slimani umgeben von einer Gruppe Grundschulkinder, die auch noch um einiges besser tanzen können als er. Kein Rauch ohne Flamme.

Boyzone – „Melting Pot“

Das ist zweifelsohne der rassistische Song seit Skrewdrivers Greatest Hits-Album. Die Lyrics behandeln Ethnizität wie die Farbpalette im Baumarkt, Sex zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe klingt hier wie aus einem unglaublich geschmacklosen Cartoon entsprungen. Die erste Zeile lautet ernsthaft, „Take a pinch of white man/ Wrap it up in black skin/ Add a touch of blue blood/ And a little bitty bit of Red Indian boy/ Curly, black and kinky/ Oriental sexy/ If you lump it all together/ Well, you've got a recipe.”

Stell dir vor, One Direction würden diesen Song heute veröffentlichen. Twitter würde ein Aneurysma bekommen. Es würden so viele Artikel dazu in Auftrag gegeben werden, dass es sich in einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts bemerkbar machen würde. Mit Zeilen wie „The poorest and the wealthy / Weakest and the healthy“ braucht sich der Song nicht hinter anderen ethnisch fragwürdigen Werken der 90er, wie dem König der Löwen, zu verstecken. Boyzone haben einfach nur ein unglaubliches Glück gehabt, dass sie den Song ein Jahrzehnt vor der gesellschaftlichen Sensibilisierung für solche Themen veröffentlicht haben, sonst würde Ronan Keating heute seine Radioshow vielleicht aus dem Knast senden.

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The Knack – „My Sharona“

„Never gonna stop, give it up, such a dirty mind

I always get it up, for the touch of the younger kind

My, my, my, aye-aye, woo!”

Übersetzung: HALLO ALLE, ICH SOLLTE IM KNAST SITZEN, WARUM SITZE ICH NICHT IM KNAST??!!

Gwen Stefani – „Hollaback Girl“

Gwen Stefani war 2004 quasi das Gleiche, was Hayley Williams von Paramore heute ist: die gutaussehende Sängerin einer sehr erfolgreichen, poppigen Punkband, die immer wieder betonte, dass es ihr nur um die Band gehen würde und sie nicht als Solokünstlerin gesehen werden will.

Stell dir also vor, dass Hayley Williams heute mit einem fetten, von Pharrell produzierten Hit ankommen würde—inklusive einem Part in dem es um „Shit“ geht, der „Bananas“ ist—und sie dabei ohne erkennbaren Grund von vier stummen, japanischen Teenagern in Cheerleader-Outfits begleitet werden würde, die sie in einem Einkaufswagen durch die Gegend schieben. Moment, das brauchst du gar nicht. Das war doch exakt das, was Avril Lavigne gemacht hat, als sie sich dazu entschied, im reifen Alter von 28 wieder das junge Teenager-Mädchen geben zu wollen. Dafür hat sie einen Haufen Kritik einstecken müssen und wurde von vielen Seiten als Rassistin bezeichnet.

Außerdem haben wir hier einen weiteren Beweis dafür, dass Pharrell Williams bei so ziemlich jedem #Aufschrei-Video unserer Zeit seine Finger mit im Spiel hatte.

Red Hot Chili Peppers – „Catholic School Girls Rule“

Wenn du eine Zeitreise in das Jahr 1985 machen und es irgendwie schaffen würdest, einen unglaublich zugekoksten Anthony Kiedis lang genug auszufragen, um etwas in seinen Gedankengängen zu stochern, wäre dieses Video genau das, was du sehen würdest: ein Haufen vermeintlich sexuell unterdrückter Schulmädchen, die ihre Münder öffnen, um verschiedene Objekte zu „empfangen“, während er oberkörperfrei in Jesuspose rumstolziert und am Ende die ganze Band auf dem Schulklo einen geblasen bekommt. Man könnte fast meinen, dass alle katholischen Schulen lediglich als geheime Treffen für Rockstar-Orgien dienen und nicht diese Orte sind, in denen Menschen konservative und geschlechterpolitisch dubiose Ideen eingetrichtert werden.

Folg Emma und Sam bei Twitter: @emaggarland und @samwolfson

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