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Gegen die Stimmung in der Klassik-Szene ist jeder Rap-Battle Kinderkram

Nirgendwo ist der Perfektionismus und Konkurrenzdruck so hoch wie im Orchester. Ein Psychoanalytiker hat mit uns über Ängste und Konkurrenzdruck gesprochen, der die Musiker krank macht.

Wenn du es als Gitarrist einer Indie-Rock-Band auf der Bühne so richtig verkackst, erntest du böse Blicke deiner Bandkollegen, kannst das im Zweifelsfall aber immer grinsend auf den Jägermeister oder den gigantischen Kreuz-Joint schieben—Rock’n’Roll und so. Wenn gar nichts mehr geht, springst du ins Publikum und badest in der Liebe der Fans, um dein geknicktes Ego wieder geradezubiegen. Am nächsten Abend wird schon wieder alles besser laufen. Wenn du aber als Cellist in einem Philharmonisches Orchester umringt von anderen Profis sitzt und einen schlechten Tag hast, ist dir der Respektverlust deiner Kollegen gewiss—die feine Gesellschaft im Publikum wäre über einen spontanen Sprung von der Bühne auch nicht so entzückt.

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Klassische Musik lebt eben davon, möglichst elitär und daher auch fehlerfrei zu sein. Nicht ohne Grund gibt es überall Musikschulen, um Profis auszubilden, die die höchste aller Musikkünste perfekt beherrschen. Und genau deshalb achten die Lehrer sehr genau darauf, wer überhaupt angenommen wird und ob sich jeder rasend schnell weiterentwickelt. Der Konkurrenzdruck ist immens, die Leistung immer abrufbar. Dass dies nicht spurlos an den Musikern vorbeigeht, weiß Dr. med. Helmut Möller. Er ist Psychoanalytiker, der sich auf Auftritts- und Versagenssängste von vor allem klassischen Musikern spezialisiert hat. Er berichtet uns von Musikern, die derart unter Druck stehen, dass sie vor lauter Angst Auftritte absagen, körperlich erkranken, nicht mehr neben bestimmten Kollegen musizieren können oder zu Medikamenten greifen.

Noisey: Kommt es oft vor, dass Musiker ihren Auftritt aufgrund von Krankheit absagen müssen?
Musiker haben generell einen mittelhohen Krankheitswert. Das heißt, dass sie sich krank melden und dann eine Vertretung für sie besorgt wird. Das ist so üblich, jedes Orchester hat ein Repertoire, aus dem sie kurzfristig jemanden zum Einspringen finden. Das ist eine Alltäglichkeit, selbst bei Solisten. Selten findet ein Konzert mal nicht statt, nur weil jemand körperlich krank ist oder aufgrund von Angst oder eines Gefühls, die Leistung nicht erbringen zu können, sich krank meldet.

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Angst?
Der klassische Musiker hat Angst. Nicht Angst davor, dass das Publikum einen Fehler hören könnte, sondern davor, dass es seine Kollegen hören. Er spielt nicht für das Publikum, sondern für seine Kollegen. Das macht ihm Angst und das führt häufig zu Krankmeldungen.

Und sie behandeln diese Musiker mit Lampenfieber dann?
Da muss man klar unterscheiden. Lampenfieber ist produktive Angst. Diese erhöht die Konzentration und die Aufmerksamkeit. Der Musiker ist angespannt und trägt das in den Auftritt hinein. Das Publikum merkt das, aber dadurch wird es lebendig und macht den Musiker letztendlich glücklich. Ganz anders die Angst, die die Leistung reduziert. Diese Aufführungsangst führt zu den Folgen, die ich hier alltäglich sehe.

Leider gibt es keine positive Fehlerkultur. Dabei sind Fehler etwas Wunderbares, weil wir aus ihnen etwas lernen. Aber nein, Fehler gelten immer als etwas Negatives und das schränkt das Selbstwertgefühl ein. Die Angst vor ihnen führt zur Anspannung der Muskulatur. Das ist ein alter Reflex, der natürlich ein Handicap ist, weil die Beweglichkeit eingeschränkt wird—etwas, was Musiker zurecht fürchten. Da muss man lernen, damit umzugehen, um die Angst zu minimieren.

Die Wurzeln dieser Angst liegen meist weit in der Vergangenheit und hängen mit den Erfahrungen im Unterricht zusammen. Schon am Anfang achten Pädagogen darauf, dass möglichst fehlerfrei gespielt wird. Beispiel: Ein Professor meinte mal zu einer vorspielenden Geigerin: „Was sie da spielen, stimmt ja gar nicht. Am besten gehen sie zu Aldi an die Kasse, aber lassen sie mal das Geigenspielen.“ Da gibt es sehr viel unpädagogischen Umgang, es wird viel entwertet und kleingemacht. Schon auf der Hochschule geht man ja mit dem Co-Studenten als Konkurrent durch die Tür, weil man sich sofort vergleicht. Das sind alles Dinge, die einen hohen Grad an Angst, Versagen und Medikamentenmissbrauch oder auch Alkohol -und Drogenmissbrauch fördern. Das sind alles Folgen der Aufführungsangst—nicht des Lampenfiebers.

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Kann denn eine solche Angst dann auch zu physischen Krankheiten führen—dass man dann wirklich körperlich krank wird?
In der Regel gibt es immer auch körperliche Symptome. Beispielsweise die Muskelverhärtung, die dann zu Schmerzen führt. Daher kommen die Musiker zu mir weniger, weil sie Angst haben, sondern aufgrund körperlicher Beschwerden. Ich versuche dann herausfinden, was ein Symptom eigentlich bedeutet, warum er oder sie diese Schmerzen hat. Ich sage Musikern immer: „Ihr Körper ist ihr schlauster Teil.“—irgendein körperliches Symptom zeigt, dass etwas psychisch nicht in Ordnung ist. Herauszufinden, woher da die Angst kommt, ist ein langwieriger Vorgang. Unter einem halben Jahr sind bei mir kaum Patienten.

Manchmal raten sie sogar zu Medikamenten. Wie können diese denn da helfen?
Das klassische Medikament ist der Betablocker. Das ist kein Angst-Medikament im spezifischen Sinne wie Antidepressiva, sondern reduziert die Herzfrequenz. Wenn sie dann auf die Bühne gehen, haben sie kein Herzschlag von 90,100,120, der die Angst ja noch fördert. Das Herz bleibt ruhig und man hat dadurch den Eindruck, ruhig zu sein und auch spielen zu können. Die verschreibe ich gelegentlich, aber nur bei gleichzeitigen Gesprächen über die Situation und dem Herausfinden von Strategien, mit der Angst umzugehen.

Sie haben den Missbrauch von Alkohol und Drogen angesprochen. Kommt das oft vor?
Wir haben verschiedene wissenschaftliche Untersuchen bemüht, aber Musiker geben darüber kaum Auskunft. Ich bekomme das natürlich hier in der Intimität des Gespräches—weil ich auch der absoluten Schweigepflicht unterliege—eher raus. Grob kann man aber sagen, dass etwa 40% der Musiker sehr stark unter der leistungsmindernden Aufführungsangst leiden. Die anderen haben auch Spannungs- und Angstsituationen, aber bei diesen 40 Prozent wissen wir, dass sie etwas nehmen. Eine viel zu hohe Zahl. Wenn man das dem Publikum erzählt, wird das kaum geglaubt: „Aber sie haben doch ihr Hobby zum Beruf gemacht, das ist doch etwas Wunderbares, es muss ihnen doch großartig gehen.“

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Im Pop/Rock-Geschäft gehört dieser Missbrauch schon zum Klischee.
Da ist es exzessiver und da wird natürlich auch mit viel härteren Drogen experimentiert und nicht mehr nur experimentiert—was häufig zu Todesfällen führt. Da werden Sachen genommen, die katastrophale Folgen auf den Hirnstoffwechsel haben. Aus diesem Bereich habe ich Musiker gesehen, die schwere Hirnstörungen davongetragen haben, die dann den Beruf aufgeben mussten. Aber da bin ich nicht so firm, weil sich diese Musiker nicht selbst als hilfsbedürftig erklären. Das ist eine ganze andere Kultur das Einnehmens, eher von Enhancement-Drogen, die dann ihre Leistung und ihre ganze innere Situation verändern sollen. Ich bin aber eher im Bereich der Philharmoniker bis runter zu den Studenten in den Hochschulen.

Sie meinten anfangs, dass Musiker bei Krankmeldung einfach ersetzt werden. Aber gibt es nicht besondere Solisten, die auch ein gewisses Ego haben und den Auftritt trotz Krankheit wahrnehmen wollen?
Natürlich. Dann wird er es versuchen und auch krank, mit Schmerzen oder einem gewissen Stimmenverlust auf die Bühne gehen. Das kann ihm auch glücken. Aber wenn sie den Musiker dann fragen, wie es war, wird er eine stereotype Antwort geben: „Es ging so, aber…“ Dann fängt er an, sich zu kritisieren. Diese Form von Entwertung, die immer am Schluss kommt, führt auf Dauer zu einer Beeinträchtigung seines Selbstwertsystems und zu einer morphologischen Veränderung im Gehirn. Denkprozesse werden immer eingeschränkter und negativer.

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Wenn man krank auftritt, kann man doch gar nicht die volle Leistung erbringen.
Klar, man muss auch bedenken, dass das Publikum gar nicht der große Zensor ist, sondern man selbst. Wenn wir heute eine CD von Beethovens „8. Sinfonie“ hören, dann ist die so gut ausgesteuert und jedes Instrument perfekt hervorgehoben. Daran orientieren sich die Musiker, der Druck wird immer größer. Deswegen bin ich nicht dafür, dass CD mit so einer Manipulation veröffentlich werden. Live-Aufnahmen sind mir viel lieber, dann sieht man den Musiker mit seinen kleinen Schwächen. Der Perfektionismus ist eine große Belastung und auch langweilig.

Perfektionismus ist ja nie erstrebenswert.
Nach Perfektion kann man streben, aber wenn es nicht gelingt, ist es auch wunderbar. Man muss eben früh lernen, sich Fehler verzeihen zu können. Aber der Druck in der Ausbildung ist enorm. Gegen die hohen Erwartungen an den Hochschulen versuche ich zu arbeiten. Deshalb habe ich vor fast 14 Jahren hier in Berlin auch das Institut für Musikergesundheit gegründet. Heute gibt es Gott sei Dank an den meisten Musikschulen so etwas, aber die Instrumentalisten werden dort trotzdem nach dem Prinzip „Suche nach Perfektion“ ausgewählt. Die Kommunikation unter Musikern—zwischen den Professoren und den Studenten—ist teilweise verheerend. Es wird nicht über sich selbst und den eigenen Werdegang gesprochen.

Ist denn der Druck unter den Musikerkollegen auch so arg, dass das zu einem Angstfaktor wird?
Der ist nicht nur arg. Beim Zusammenspiel müssen sie ja absolut harmonieren, mit dem, der neben ihnen sitzt, übereinstimmen. Man fürchtet dann, dass er einen Fehler hört. Anstatt darüber zu sprechen oder einen Witz zu machen, wird geschwiegen und mit der Spannung nach Hause gegangen. Es gibt keine Kultur des Austausches, dass wir Menschen sind, die Fehler machen. Das ist so eine Kränkung und Belastung, dass die Konkurrenz—die Angst, der Andere ist besser—besteht. Selbst ich hatte letztens Angst, neben einem Top-Cellisten zu sitzen und zu spielen. Ich als Gelegenheitsmusiker wollte nicht neben einem Profi sitzen und hatte schon daran gedacht, zu sagen, dass es mir schlecht ginge und ich nicht spielen könne. Bis mir einfiel, was für ein Quatsch ich da gerade denke. Natürlich kann ich neben ihm nicht bestehen, das ist aber doch auch nicht schlimm.

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