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Die Wahrheit über die Wiener Sängerknaben

Ex-Sängerknaben über Homoerotik, Prügelstrafen und den Druck.

Foto: Lukas Beck

Die Wiener Sängerknaben sind eine der ältesten, noch bestehenden Institutionen des Landes und gehören neben The Sound of Music, Falco und Mozart zur internationalen Visitenkarte Österreichs. Gleichzeitig liegt trotz der Popularität der Sängerknaben ein gewisser Mythos vor. Klar also, dass sich so manche Horrorstorys und Spekulationen um sie ranken. Wir wollten wissen, was von den Gerüchten stimmt und was nicht. Wir haben für euch das Klischee und die Wahrheit über die Sängerknaben gegenübergestellt.

Das Klischee

Laut Klischee kann man nur Sängerknabe werden, wenn man Eltern hat, die mindestens einen Hubschrauber und zehn Hektar Land besitzen. Denn die Ausbildung kostet mindestens 3.000 Euro im Monat. Pelztragende, Diamantohrring tragende, Kaviar- und Sekt frühstückende Mamis, die ihre Kinder zu den Sängerknaben in eines der elitärsten Internate Österreichs abschieben. Praktisch für alle Eltern, die eh viel zu beschäftigt damit sind, Geld zu verdienen. Besser, als wenn das Kind vom Fernseher erzogen wird.

Die Wiener Sängerknaben bereiten sich auf eine internationale Karriere vor. Alle Mitglieder werden später zu arroganten Arschlöchern oder Opernstars und rulen den klassischen Musikbereich. Sie sind ein Chor aus privilegierten Eunuchen, der nichts anderes hervorbringt, als verwöhnte Performer. Sie glauben später, die Welt gehört ihnen, weil sie sich mit Dom Perignon die Haare waschen und uneheliche Kinder mit der Haushaltshilfe zeugen. Man lernt dort nämlich vor allem Disziplin und Selbstdarstellung. Die Kinder wohnen dann, wie kleine Prinzen, in einem elitären weißen Gebäude mit einem großen Kinderspielplatz vor der Tür (Augarten).

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Spätestens wenn sie in den Stimmbruch kommen und klingen wie Marilyn Manson auf Meth, ist der Traum vorbei. Früher ließen sich die Sängerknaben sogar kastrieren, nur damit sie länger singen können, denn das erhält die helle Stimme. Was, wenn sie erwachsen werden? Kinderstars sind später meistens gestört. Britney Spears schert sich im Wahn eine Glatze, Lindsay Lohan ist auch schon in der Klapse gelandet und über Miley Cyrus brauchen wir erst gar nicht sprechen. Bestenfalls sind sie ein paar Jahre depressiv und fangen sich dann irgendwann wieder. Oder kompensieren ihren Selbstwert, den sie zusammen mit ihrer Engelsstimme verloren haben, mit einer Menge Alkohol und Drogen.

Es gibt auch das Klischee, dass die Werte- und Erziehungsvorstellungen seit dem 14. Jahrhundert (so lange gibt es sie schon) die gleichen geblieben sind und dass Drill auf der Tagesordnung steht. Ja, sowas wird erzählt. Und was passiert eigentlich, wenn man hundert pubertierende Burschen in ein Gebäude steckt und von der Welt abschneidet? Will man in dem Alter nicht sowieso alles rammeln, was sich bewegt? Sexualiät- auch Missbrauchsvorwürfe wurden vor einigen Jahren gegen die Erzieher der Sängerknaben laut. Ex-Knaben behaupteten, gequält worden zu sein. Auch sexuelle Übergriffe von älteren Schülern auf jüngere sollen stattgefunden haben. Das ist jedoch schon einige Jahrzehnte her.

Die Wahrheit

Foto via Flickr I Peter Siroki I CC by 2.0

Auf den Promofotos auf der Website der Sängerknaben schauen alle super fröhlich aus. Als wären sie normale Kinder, die gerade einen Haufen Scheiße in Papier gepackt, vor eine Tür gelegt und angezündet hätten und dann weggelaufen sind. So wie Kinder eben aussehen, die Spaß haben. Aber das sind halt Promofotos. Wär auch blöd, wenn sie da traurig ausschauen würden. Der PR-Mensch hätte nicht lange einen Job. Wir haben für dich mit einigen ehemaligen Sängerknaben gesprochen und hatten eigentlich damit gerechnet, in unseren Annahmen bestätigt zu werden. Aber irgendwie hat das nicht funktioniert, denn es war alles doch ganz anders, als wir vermutet haben.

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Es gibt derzeit hundert Wiener Sängerknaben zwischen neun und vierzehn Jahren, die in vier Chöre aufgeteilt sind. Die Chöre sind nach vier Komponisten benannt, die eng mit der Geschichte der Wiener Sängerknaben verbunden sind: Anton Bruckner, Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Franz Schubert. Erinnert leicht an Hogwarts, was? Vielleicht gibt’s dann für jedes Pipi, das in in den Topf trifft, einen Punkt für Franz Schubert.

Jeder Sängerknabe ist neun bis elf Wochen des Schuljahres auf Tournee und tritt zirka 80 bis 90 Mal oder mehr im Jahr auf. Dabei bereisen sie nahezu alle Staaten Europas, Asien und Australien, Südamerika, die USA und Kanada. Das ist der Tagesablauf der Sängerknaben

06:45 Wecken
07:00 Frühstück
07:30 Vormittagsunterricht (Hauptgegenstände)
10:50 Jause
11:00 Chorprobe
12:55 Chorbesprechung mit den Erziehern
13:00 Mittagessen; anschließend Freizeit
14:30 Nachmittagsunterricht (Lernzeiten für Hausübungen, Einzelstimmbildung, Soloproben, szenische Proben nach Bedarf)
16:05 Jause
16:20 Nachmittagsunterricht
18:00 Chorbesprechung mit den Erziehern
21:00 Abendessen
21:15 Abendfreizeit
21:30 Nachtruhe Fast jede Minute ist durchgeplant. Sängerknabe zu sein, ist ein Ganztagsjob. Wie wir herausgefunden haben, gibt es aber so gut wie keine priviligierten Jungs bei den Sängerknaben. Alles, was man braucht, ist ein bisschen Talent. Denn obwohl die Institution rund 30.000 Euro im Jahr kostet, wird der Großteil davon von Sponsoren übernommen. Die Eltern zahlen nur 100 Euro monatlich für eine Vollpension im Internat. Alle Ex-Sängerknaben, mit denen wir gesprochen haben, waren coole Dudes, die total am Boden geblieben sind. Überraschenderweise. Die Klischees haben sich großteils als Hirngespinste der österreichischen Öffentlichkeit entpuppt. Mit einem der Ex-Sängerknaben haben wir länger auf Facebook gechattet und folgendes von ihm erfahren:

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Noisey: Ich dachte eigentlich es ist ziemlich beschissen, ein Sängerknabe zu sein. Aber mittlerweile stellt sich bei meiner Recherche heraus, dass dem gar nicht so ist.
Ex-Sängerknabe: Haha, das denken alle. Ist irgendwie eh klar—ein Burscheninternat, das Staatswappen auf der Uniform, eine ziemlich undurchsichtige Finanzierungsstruktur. Wäre ich nicht dort gewesen, wäre ich auch misstrauisch.

Hast du das Gefühl, es war zu stressig?
Ex-Sängerknabe: Stressig? Extrem. Deswegen weniger lustig? Nö. Ich glaub mal, man stellt als Kind einfach weniger in Frage—auch dann nicht, wenn man auf einer 116 Tage-Tournee 98 Konzerte hat.

OK, es bleibt dir also auf jeden Fall positiv in Erinnerung?
Ex-Sängerknabe: Also ich fand´s lustig. Schon eher anstrengend—aber als Jugendlicher im Nachwuchs-Leistungszentrum eines Sportvereins zu sein, ist sicher auch anstrengend.

Waren die Kids dort eher privilegiert oder hat man echt aus jeder Schicht die Chance reinzukommen?
Ex- Sängerknabe: Tjaha, privilegierte Kids gibt es bei den Sängerknaben eher gar nicht (aus welchen Gründen auch immer). Das Spektrum geht (oder: ging) von Prolo bis bestenfalls bürgerlich.

Das widerlegt alle Klischees eigentlich.
Ex-Sägnerknabe: Haha, irgendwie geht das allen so. Alle glauben an diese Klischees. Aber: Es ist ein ganz normales Bubeninternat. Auch keine Prügelstrafe von der ich wüsste. Die Sängerknaben sind erschreckend bieder, vor allem, was die literarische Verwertbarkeit angeht.

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Und was ist aus den meisten deiner Kollegen geworden? Ist irgendwer total durchgestartet in dem Bereich?
Ex-Sängerknabe: Sänger gibts einige, ja. Ein paar Ex-Sängerknaben hatten mal eine Band, die vor Ewigkeiten mal so halbleiwand war.

Waren die Kids sehr gemein zueinander? In nem reinen Jungsinternat gehts ja sicher ur ab.
Ex- Sägnerknabe: Das kann ich inhaltlich voll bestätigen, da fliegen schon mal die Fetzen. Und natürlich gabs auch die gelegentlichen homoerotischen Ausflüge, die lustigerweise immer lapidar mit „Tjaha, wenns keine Mädchen im Internat gibt“ kommentiert wurden. Von Elfjährigen. Das fand ich schon damals ziemlich lustig.

Und so von sexuellen Übergriffen is auch nix zu spüren gewesen oder?
Ex-Sängerknabe: Nein. Nicht mal verprügelt haben sie uns. Kann aber auch sein, dass ich einfach zu schirch war und mich deshalb niemand angefasst hat.

Würdest du mir empfehlen, zu einem Konzert der Wiener Sängerknaben zu gehen?
Ex-Sägnerknabe: Das würd ich eher nicht empfehlen. Der biederste Scheiß, den man sich antun kann. Langweiliger als eine Kreuzung von Philipp Lahm und einem Bausparvertrag—es ist zum Verrücktwerden!

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