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Warum Privatsender seit 15 Jahren den ,Matrix‘-Soundtrack verwenden

Die Songs vom ,Matrix‘-Soundtrack weichen dem Zahn der Zeit genauso konsequent aus, wie Neo den Kugeln von Agent Smith. Wir sagen euch, warum das so ist und wo sie heute immer noch im TV verwendet werden.

Foto: Madhias via flickr cc

Diesen Artikel kann ich nicht ohne ein einführendes Geständnis schreiben: Ja, ich schaue Privatfernsehen. Und damit meine ich nicht irgendwelche ominösen, elitären Drittsender, die ihr Programm nach denselben Regeln gestalten wie Ottakringer Kunstgalerien („Ist es statisch? Ist es langweilig? Ist es unverständlich? Dann bring es vorbei, meine Mutter hat gerade einen Schönheitssalon aufgelöst und das Geschäftslokal hat noch keinen neuen Mieter!“). Nein, ich meine ganz normales, primitives, proletoides Privatfernsehen—mit Infotainment-Formaten wie Galileo, Partynachrichten wie den RTL II News und dem Auswanderer-Abschreckungsprogramm Goodbye Deutschland.

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Es ist mir egal, dass die eine Hälfte gescriptet ist und die andere Hälfte besser gescriptet sein sollte. Es macht mir nichts, dass hier Wikipedia-Artikel und PR-Aussendungen nacherzählt werden oder dass man noch Wörter wie „Goodbye“ im Titel benutzt, was sonst nur noch alte Briten mit Monokel tun, die zum Tee After Eight knabbern. Und der Grund, warum ich mich von all dem bereitwillig einlullen lasse—abgesehen davon, dass ich als Wrestling-Fan sowieso eine Schwäche für Trash habe—, ist die Musik.

Foto: csullens via flickr cc

Seit 1999 haben fast alle Sendungen im Privatfernsehen ein gemeinsames musikalisches Thema: den Original-Motion-Picture-Soundtrack von Matrix. Warum das so ist, weiß ich auch nicht genau, aber ich habe da so eine ungefähre Idee. Denn obwohl man der Songauswahl bei Matrix nicht gerade unterstellen kann, dass sie besonders muzak- oder marketing-tauglich wäre, hat sie trotzdem die seltene Eigenschaft, dass sich bereits kurz nach Erscheinen des Films die Fans und die Programmdirektoren von Pro7 und RTL II gleichermaßen darauf einigen konnten.

Ich glaube, das liegt daran, dass der bunte Querschnitt durch die zeitgeistige Musiklandschaft der ausgehenden Neunziger irgendwie der kleinste gemeinsame Nenner aller Emotionen ist, die sowohl Teenager als auch TV-Bosse mögen. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass TV-Bosse in etwa so denken wie große Teenager—oder damit, dass selbst Omas mit Teenager-Musik leben können, solange sie nur zur akustischen Begleitung von mindestsicherungsempfangenden Bösewichten und ihren Lieblingsreiseformaten verwendet wird. Vielleicht hat es aber auch einfach nur damit zu tun, dass TV-Redaktionen faul sind und sich nicht öfter als ein Mal alle 20 Jahre um die Lizenzrechte für ein neues Album kümmern wollen.

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Foto: trainman74 via photopin cc

Auf jeden Fall ist der Matrix OST die Pop-Essenz des Amerikanischen Jahrhunderts und hat sich hartnäckiger im Privatfernsehen gehalten als Vera Int-Veen oder der Ausdruck „herkömmliche Waschmittel“. Das trifft zwar nicht auf 100 % der Tracklist zu: Manche Songs, wie „Bad Blood“ von Ministry oder „Dragula“ von Rob Zombie, habe ich abseits vom Album nie wieder irgendwo gehört—und bei „My Own Summer“ von den Deftones hört sich dann auch für die Macher von Sendungen wie der Nackt-Dating-Show Adam sucht Eva der Spaß endgültig auf. Aber der Rest ist für viele Sender immer noch Gold und weicht dem Zahn der Zeit genauso konsequent aus, wie Neo den Kugeln von Agent Smith. Hier die Songs und wofür sie warum genau eingesetzt werden.

„Rock is Dead“ von Marilyn Manson

Gleich zum Auftakt gibt es eine ordentliche Portion von etwas, das in den Neunzigern als zweites Zahlungsmittel neben Bravo Hits-Compilations galt: Ironie. Auf den ersten Hinhörer besingt Marilyn Manson zwar den Tod von Rock, aber schon beim zweiten Gehörknöchelchen-Rasseln wird einem klar, dass er das mit den Stilmitteln des Rocks tut. Versteht ihr? Ironisch! (Ich kann nichts dafür, beschwert euch bei den Neunzigern.) Deshalb passt dieser Song—ironischerweise—auch dann am besten auf die TV-Tonspur, wenn eben nicht kein Rock, sondern eben schon Rock vermittelt werden soll. Also zum Beispiel, wenn semi-wilde Kinderzimmergitarristen zur Schlafenszeit durchdrehen oder sich ein Messy mal 15 Jahre so richtig gehen lässt. Dass es auf der Inhaltsebene um das Gegenteil geht, macht nichts: Immerhin singt der Marilyn ja „deader than dead“, was für viele Abhängigkeitszuseher schon zwei Englischkurse zu hoch und deshalb nur noch als „dädödädäääää“ hörbar ist.

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„Spybreak“ von den Propellerheads

Dieser Song ist genau das, was er verspricht: Ein Track, der nach Ocean’s 11 und aushaltbarer Krimi-Spannung klingt. Der Ambient-Sound für jede „Was steckt dahinter? Wir haben nachgefragt!“-Sequenz. Knallhart. Journalistisch. Privatfernsehen eben.

„Clubbed to Death“ von Rob Dougan

Zwischen all den schwer zeitgeprüften Electronic-Elementen transportiert der Track vor allem ein perfektes „Streifzüge durch städtische Straßen“-Gefühl, das die Neunziger thematisch mindestens genauso durchzogen hat wie Jugenddepression und Flanellhemden—von Massive Attacks Video zu „Unfinished Sympathy“ Anfang des Jahrzehnts bis zum überlangen Musikvideo Pi gegen Ende des Jahrhunderts. Passt zu jeder Montagesequenz, in der aus dem Auto gefilmt oder eine neue Stadt vorgestellt oder das Leben draußen auf der Straße eingefangen wird.

„Prime Audio Soup“ von Meat Beat Manifesto

Mönchsgesang und Drum’n’bass—das heilige Sound-Duo für jede Trailer-Vorschau. „Der Oktober wird … heiß!“ und so weiter, ihr kennt das ja. Zu den Drum’n’bass-Segmenten passen rhythmische Action-Montagen, während die Mönchs-Momente wie kleine Ferroro Rocher-Bällchen den Augenblick einfrieren und am besten als Untermalung irgendeiner Zeitlupen-Einstellung rüberkommen. Flug, Sprung, Fall, Hauptsache Innehalten.

„Leave You Far Behind“ von Lunatic Calm

Blecherne Stimmen, wechselne Tempi und das, was Sendungsverantwortliche unter „wild“ verstehen: Dieser Song ist eine Fundgrube. Als der Matrix-Soundtrack damals rauskam und ich ihn mir als Jugendlicher ohne Internet anhörte, hab ich die Lyrics so verstanden: „I want, I want, I want, I want, I want, I want, I want to take you from behind!“ Das ist zwar nicht mal ansatzweise, was gesungen wird, aber anscheinend hatte ich die gleiche postpubertäre Hörschwäche wie alle, die den Song seither für 10-Sekunden-Soundbites zu Sex, Rotlicht, dunklen Gefühlen und Polizeistreifen verwenden.

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„Mindfields“ von Prodigy

Die Lyrics warnen „This is dangerous!“ und genau so wird der Track auch eingesetzt. Mit solchen Anweisungen kann der Praktikant am Audioschnitt umgehen. Lustigerweise ist die Anzahl der Male, die ich diese Nummer schon im Privatsender-Niemandsland zwischen Raus aus den Schulden, Helfer mit Herz und Die Super-Nanny gehört habe, ziemlich identisch mit der Jahreszahl, in der Matrix erschienen ist. Und wahrscheinlich ist 1999 sogar nur die Zahl, wie das Intro des Songs allein auf RTL verwendet wurde. Bam, ba-BAM! Bam, ba-BAM!

„Ultrasonic Sound“ von Hive

10 Sekunden daraus findet ihr in praktisch jeder zweiten Animationssequenz eurer sonntagnachmittäglichen Welt der Wunder-Sessions—oder jeder anderen Doku, in der die Funktionsweise von was-auch-immer durch holprige Schwurbel-Grafiken illustriert werden soll.

„Look to Your Orb for the Warning“ von Monster Magnet

Gitarren zum bequemen Mitnicken, Bass zum In-die-Ferne-blicken und ein Text, in dem ein „old man down by the river“ ist: Das sind die Erlebniswelten für arbeitsresistente Auswanderer, die mit ihrem Motorboot durchs Schilf brettern und traurige junge Mütter, die rauchend am Hafen stehen und ihren freien Arm im Vliespulli vergraben. Monster Magnet ist ideal für Trotz, aber auch alles, was Seelenspiegel schreien soll.

„Du hast“ von Rammstein

Ein anderer in etwa gleich dominanter und ähnlich zeitgeistiger Soundtrack der Epoche war jener zu Lost Highway, der bereits zwei Jahre früher erschienen ist. Beide haben zirka gleich viel Elektronik und Eingängigkeit—und beide haben Rammstein auf ihrer Tracklist, weil Rammstein einfach die in Duden-Form gegossene Coolness der Neunziger war. Auf der Tonspur eurer liebsten Trash-Formate findet ihr den Song natürlich immer dann, wenn das fleisch- oder fettgewordene Böse ins rechte Licht gerückt werden soll. Zum Glück für alle Beteiligten ist das rollende R zeitlos böse.

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„Wake Up“ von Rage Against the Machine

Obwohl die Botschaft des Songs inzwischen eher von Menschen weitergetragen wird, die an „Wake up“ noch ein „Sheeple“ anhängen und „Google Chemtrails“ in Unterführungen sprayen, sind Rage Against the Machine immer noch ziemlich gutes Outro- und Zusammenfassungs-Material. Wenn das Bild unscharf wird und sich eine Info-Box darüber legt, stehen die Chancen nicht schlecht, dass ein paar Takte davon das akustische Äquivalent zum PowerPoint-Look bieten. Würde es im Privatfernsehen noch so etwas wie einen richtigen Nachspann geben, wäre dieser Song zur Gänze am Ende jeder Folge von Richter Alexander Hold oder vielleicht sogar Sturm der Liebe laufen.

Und weil wir grade schon beim Abspann sind, hier noch ein Easter-Egg, das bei Filmen auch erst nach zwei Minuten weißer Schrift auf schwarzem Grund und einer endlosen Auflistung von Johnny Depps Hairdressern auftauchen würde: Ist euch schon mal aufgefallen, wie der Zusatz „Privat-“ bei „Fernsehen“ genau das Gegenteil mit dem Wort macht wie beim Beispiel „Schule“? Ein letzter Mindfuck aus dem Matrix-Mainframe? Wake up, Sheeple!

Wenn Markus nicht gerade Notizen zur Tracklist von Matrix auf die Wände seiner Zellen kritzelt, ist er auch auf Twitter aktiv: @wurstzombie

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